zu: Auturia - "Believe (Extended Mix)"




Beton zu Beton

"And when you walk down try to touch me
I'm waiting for a sign to keep me on the ground
And when you walk down please try to touch me
I'm waiting for a sign, so heal me with your calm."

(Kyau & Albert - "Walk down")



Anfang 2010.
Endlich beginnen Gespräche, die bisher nie möglich waren. Oder gibt es sie gar nicht?


Katharin führte ein Videotelefonat mit Thara, dem Halbbruder von Tains Mutter Ida. Katharin erkundigte sich, was Thara wußte über die Zeit, als Tain in einem abgelegenen Bungalow im Spessart lebte. Tains Eltern zogen nach ihrer Heirat im Jahr 1970 in das neu gebaute Haus, dessen kahle Schlichtheit der Mode jener Zeit entsprach. Thara und Ida stammten von einer Familie ab, die auf Saroud heimisch war. Ida verließ Saroud 1968 für immer, als sie ihren späteren Ehemann Theodore während eines Aufenthalts in Lanwer kennenlernte.
"1991 war ich bei Tain in seinem Elternhaus", erinnerte sich Thara. "Ida war damals schon seit fünf Jahren tot. Eigentlich lebte Tain mit seinem Vater, aber der war kaum noch zu Hause. Im Grunde war Tain auf sich gestellt, wenn man vom Finanziellen einmal absieht."
"Dann hat er eigentlich mit Idas Tod beide Eltern verloren", schloß Katharin.
"Cilly weiß noch, was damals los war", erzählte Thara. "Cilly Weil war mit Ida befreundet. Sie kam kurz nach Idas Beerdigung zu Besuch und sah Theodore, wie er vor der Glaswand im Wohnzimmer am Eßtisch lehnte und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Er sagte nicht viel mehr, als daß er beruflich wegziehen wollte, aber das Haus behalten würde. Cilly hat gemeint, das werde für Tain eine große Umstellung geben, die auch mit einem Schulwechsel verbunden war. Theodore hat gesagt, daß er gar nicht vorhatte, Tain mitzunehmen. Er meinte, für seinen Sohn wäre es besser, wenn er in seinem vertrauten Umfeld bleibt. Cillys Argument, daß Tain nicht einmal volljährig war, hat Theodore abgeschmettert. Er meinte nur:
'Tain kommt klar. Außerdem ist es nicht gut für ihn, wenn er durch mich immer an früher erinnert wird.'
Als Cilly ihn gefragt hat, was das mit ihm macht, wenn er seinen Sohn kaum noch sieht, hat Theodore gesagt:
'Es ist für mich auch besser, wenn ich Tain nicht mehr so oft sehe. Ich will das hier alles hinter mir lassen.'
Cilly wollte Theodore zum Umdenken bewegen. Sie hat gemeint, Tain wird seinen Vater brauchen, nach dem Tod der Mutter. Theodore hat geantwortet:
'Tain und ich haben nie viel miteinander zu tun gehabt. Wir haben uns nicht so viel zu sagen.'
Cilly war regelrecht sprachlos. Sie hat sich um Tain gesorgt und nach Theodores Wegzug versucht, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten. Aber sie hat schon bald feststellen müssen, daß an Tain nicht mehr heranzukommen war. Wenn Cilly ihn anrief, hat er immer nur behauptet, daß alles 'O. K.' ist. Tain schien es gar nicht leiden zu können, wenn sich irgendjemand für ihn oder für sein Wohlergehen interessierte. Er soll in der Schule voller Ehrgeiz gewesen sein. Ansonsten machte er vor allem durch Drogen- und Saufgelage, Herzensbrecherei und LAN-Parties mit illegalen Ego-Shootern von sich reden."
"Wie hat Tain auf dich gewirkt, als du ihn 1991 getroffen hast?" wollte Katharin wissen.
"Abgeklärt ...", antwortete Thara nachsinnend. "Ich glaube, er hat von sich verlangt, Gefühle vollständig auszuschalten."
"Theodore hat seinen Sohn enttäuscht", meinte Katharin. "Und Tain hat alles unternommen, damit ihn niemand mehr enttäuschen kann."

-   -   -


In der gleißenden Vormittagssonne ging Katharin über den Friedhof. Die Waldbäume hinter der Mauer trugen ihr Laub noch nicht, so daß sie mehr Licht hindurchließen als im Sommer. Auf Tains Grab blühten Christrosen. Der letzte Schnee des Winters lag auf den Blättern.
Katharin hatte ein schlichtes Grabmal aus Stahlbeton setzen lassen, mit stählernen Lettern. Das Grab war mit Randsteinen aus Beton eingefaßt. In der Mitte war ein Ring aus Beton eingelassen, in den die Christrosen gepflanzt waren.
"Was hast du aus meinem Grab gemacht?" fragte Tain, als er Katharin anrief, nachts im Traum. "Das sieht so ... nüchtern aus."
"Ich wollte etwas Ernüchterndes haben."
"Warum?"
"Weil es zu dir paßt."
"Ernüchternd", wiederholte Tain. "Ernüchternd sind meine Erfahrungen mit dir, das wollen wir mal richtigherum betrachten. Warum hat Thara dir eigentlich erlaubt, mein Grab zu gestalten?"
"Er dachte, ich kenne dich besonders gut, deshalb fällt mir am ehesten etwas ein, das dir gerecht wird."
"Und dann hat er den Menschen, der mich am meisten haßt, für diese Aufgabe ausgesucht."
"Ich glaube, Thara sieht das etwas anders", meinte Katharin. "Ich glaube eher, er hat den Eindruck, daß ich dich liebe."
"Dann hast du ihm gekonnt etwas vorgespielt."
"Es war strahlend sonnig heute morgen", erzählte Katharin. "Das Sonnenlicht hat die Blütenblätter der Christrosen zum Leuchten gebracht ... das sah so schön aus ..."
"Hast du das fotografiert?"
"Ja, sicher."
Tain holte tief Atem.
"Egal, was dir widerfährt - du bist mit allem glücklich und zufrieden, solange du es fotografieren kannst", sagte er vorwurfsvoll. "Alles mußt du verewigen, und solange du das tun kannst, vermißt du nichts - auch mich nicht."
"Es läßt sich wohl nicht ändern, daß du mir nicht glaubst, daß ich dich liebe."
"Was macht eigentlich ... dein Tyron?"
"Tyron und ich sind nicht zusammen und waren es auch nie."
"Aber er liebt dich doch", behauptete Tain.
"Er mag mich, aber er liebt mich nicht", berichtigte Katharin. "Den Unterschied kenne ich wohl."
"Woher kennst du den Unterschied denn?"
"Den kenne ich, seit ich dich kenne."
"Ich liebe dich nicht."
"Darüber werden wir wohl nie einer Meinung sein."
"Ach, du willst mir unterstellen, daß ich dich liebe?"
"Es ist ein Gefühl, weiter nichts", erklärte Katharin. "Einen Beweis gibt es nicht."
"Und wer beweist mir, daß da nicht mehr ist zwischen Tyron und dir?"
"Da ist nicht mehr", sagte Katharin mit Nachdruck. "Außerdem wohnt Tyron auf Saroud. Er ist weit, weit weg."
"Ich bin noch viel weiter weg von dir", gab Tain zu bedenken. "Ich bin im Jenseits."
"Zu dir habe ich eine innere Verbindung, die alle Entfernungen überwindet."
"Und zu Tyron hast du die nicht."
"Nein. Du bist mir viel näher als jemand, der lebt und neben mir steht."
"Warum willst du dann nicht zu mir ins Jenseits?"
"Da komme ich früh genug hin", meinte Katharin. "Außerdem - wie du weißt - lebe ich sehr, sehr gerne."
"Ist das denn ein Leben - ohne mich?"
"Es gibt ein Leben ohne dich."
"Also gibt es einen anderen."
"Du kannst nur in dieser einen Kategorie denken, oder?"
"Warum solltest du denn allein bleiben?" fragte Tain. "Warum solltest du dein Leben lang immer nur an mich denken?"
"Ich bin lieber allein, als mit jemandem zusammen zu sein, den ich nicht liebe."
"Wenn du dich für die Menschheit opfern würdest, das könnte ich noch irgendwie verstehen, so als Jesus, der hatte auch keine Frau und keine Kinder, der hatte nur seine Berufung. Aber dir geht es ja nur um mich, ausschließlich um mich. Das bin ich doch gar nicht wert. Das ist doch ein einzelner Mensch gar nicht wert."
"Opfern ... das heißt doch, daß man etwas aufgibt", überlegte Katharin. "Ich gebe deinetwegen nichts auf."
"Und selbst wenn du das alles nur tust, weil du es unbedingt willst ... dann bin ich es immer noch nicht wert, weil ich dich nicht will und weil ich dir niemals für irgendetwas dankbar sein werde und weil ich niemals für dich da sein werde, wenn du mich brauchst. Das war im Leben so und ist im Tod erst recht so."
"Meinst du, daß nur du das nicht wert bist, oder meinst du, daß ein einzelner Mensch das an sich nicht wert ist?"
"Ich denke, man sollte sich nie ausschließlich um einen einzigen Menschen kümmern."
"Ich kümmere mich nicht nur um dich."
"Ach, es gibt doch noch jemand anderen ...", argwöhnte Tain.
"Lieben - wie man einen Partner liebt - tue ich nur dich", betonte Katharin. "Die anderen sind Freunde, Familie ..."
"Das kann doch nicht sein, daß nur ein einziger Mensch für eine Beziehung infrage kommt und man sich dann auf den festlegt für immer und ewig. Krank ist sowas ... total krank."
"Für mich ist es selbstverständlich, einen einzigen Menschen zu lieben."
"Was findest du an mir?" fragte Tain gequält. "Was nur?"
"In deiner Gegenwart erlebe ich, wie ich wirklich bin", erklärte Katharin. "Durch dich habe ich Seiten an mir kennengelernt, von denen ich vorher nichts wußte."
"Aber wir haben uns doch fast nie gesehen."
"Fast nie - aber oft genug für diese Erkenntnisse."
"Und das reicht dir aus."
"Das reicht mir nicht aus, aber ich kann immer nur fünfzig Prozent unserer Beziehung beeinflussen. Für die anderen fünfzig Prozent bist du verantwortlich."
"Beziehung ... Beziehung ... Wir haben keine Beziehung!" wurde Tain wütend.
"Das kann man so oder so sehen", gab Katharin zurück. "Manche Ehepaare treten erst dann zueinander in Kontakt, wenn sie sich zerstreiten. Man kann in einer Ehe jahrzehntelang nebeneinander herleben, und das hat in meinen Augen weit weniger mit einer Beziehung zu tun als das, was zwischen uns abläuft."
"Abgelaufen ist, wolltest du wohl sagen", berichtigte Tain. "Immerhin bin ich tot."
"Tot hin, tot her ... auf mich wirkst du ziemlich lebendig."
"Du hast es mit der Realität nicht so, oder?"
"Träume gehören auch zur Realität."
"Träume sind ... gar nichts."
"Warum lehnst du Träume so sehr ab?"
"Was sind denn schon Träume?" fragte Tain verächtlich. "Träume sind doch dadurch gekennzeichnet, daß sie nie Wirklichkeit werden. Da kann man doch gleich darauf verzichten."
"Was für Träume hast du denn gehabt, als du noch am Leben warst?"
"Das ist doch jetzt sooowas von irrelevant!" wehrte Tain ab.
"Was für Ziele hattest du?" fragte Katharin. "Was wolltest du im Leben erreichen?"
"Ich habe alles erreicht", gab Tain zur Antwort. "Ich habe gelebt. Ich bin halt nicht wie du einem unerreichbaren Ziel nachgerannt. Ich habe nicht versucht, mit jemandem zusammenzukommen, der sich nicht für mich interessiert. Ich habe geguckt, was ist da, was geht, und was ging, das ging."
"Es ging oft zu Lasten anderer Menschen", wandte Katharin ein.
"Komm' du mir nicht damit an", warnte Tain. "Du hast keine Ahnung. Du solltest nicht über Dinge reden, von denen du nichts weißt. Übrigens ... denkst du nicht, daß du versagt hast?"
"Versagt?"
"Du hattest doch vor, mich unschädlich zu machen."
"Bist du das nicht?"
"Dein Ziel war, daß ich überlebe und niemandem mehr etwas tue", erinnerte Tain. "Das hast du doch nicht erreicht."
"Ich hätte das Ziel nicht ohne deine Mithilfe erreichen können", meinte Katharin. "Man kann gegen keine Sucht der Welt etwas ausrichten, wenn der Süchtige bei seinem Suchtverhalten bleiben will."
"Sucht ... Sucht ... Ich habe aus Genuß geraucht", hielt Tain dem entgegen. "Das hast du wohl vergessen? Übrigens ... wie fühlt man sich denn so, als Verliererin?"
"Du bist durch deinen Tod zum Gewinner geworden", meinte Katharin. "Ich denke, als Verliererin geht es mir besser als dir."
"Du denkst ... was weißt du denn schon vom Tod? Du warst doch noch nie tot."
"Wie ist es denn, tot zu sein?"
"Ich fühle mich nicht tot genug."
"Nicht tot genug?"
"Der Tod hat mir die Erkenntnis gebracht, daß ich mit meinem Tod nicht ausgelöscht werden kann", erklärte Tain. "Ich kann sterben und sterbe doch nicht, denn als Erinnerung lebe ich weiter, solange es Menschen gibt, die sich an mich erinnern. Und selbst wenn die nicht mehr da sind, habe ich Spuren hinterlassen, die nachfolgende Generationen an mich erinnern. Ich werde nicht ausgelöscht ... es sei denn, die Menschheit würde ausgelöscht und mit ihr alle Lebewesen, die Erinnerungen haben können."
"Tain, du hast mal gesagt, daß du unsterblich werden willst."
"Da wußte ich noch nicht, wie es ist, wenn man tot ist und nichts mehr tun kann, um die Erinnerungen zu beeinflussen, die die Menschen an einen haben."
"Warum willst du denn ausgelöscht werden?"
"Damit die Schuld ausgelöscht wird."
"Du meinst das, was du anderen Menschen angetan hast."
"Nein, das kümmert mich nicht", sagte Tain wegwerfend. "Das berührt mich nicht. Wenn ich von der Schuld rede, dann meine ich das, was ich mir nicht verzeihen kann."
"Was kannst du dir denn nicht verzeihen?"
"Ich kann mir nicht verzeihen, daß es ... Augenblicke gab, in denen ich nicht das getan habe, was ich von mir erwartet habe."
"Was hast du denn von dir erwartet?"
"Daß ich den Pakt einhalte."
"Den Pakt."
"Ja, den Pakt, daß ich nie, nie Gefühle zeige, wenn ich keine zeigen will."
"Und das kannst du dir nicht verzeihen."
"Das ist unverzeihlich."
"Mit wem hast du den Pakt gemacht?"
"Mit mir."
"Warum verbietest du dir, Gefühle zu zeigen?"
"Weil ich mir jede Schwäche verbiete", verdeutlichte Tain. "Wer Schwächen zuläßt, ist es nicht wert, zu leben."
"Und jetzt schaffst du es nicht, zu sterben."
"Ich bin ein Untoter", klagte Tain. "Ich verschwinde einfach nicht."
"Und du glaubst, erst wenn alles Leben vernichtet ist, verschwindest du auch."
"Zumindest aus dem Diesseits verschwinde ich dann."
"Und wenn das tote Diesseits noch Spuren von dir trägt?"
"Dann soll alles vernichtet werden, einfach alles."
"Tain, du siehst doch, es hört im Jenseits nicht auf", gab Katharin zu bedenken. "Wenn du alle Menschen umbringst, kann es sein, daß du sie im Jenseits wiedertriffst."
"Was weißt du denn vom Jenseits?" fauchte Tain. "Du warst doch noch nicht da."
"Wie ist es denn im Jenseits? Hast du da Tote wiedergetroffen?"
"Vom Jenseits kann ich dir nichts erzählen. Wenn ich das versuche, löst sich der Traum auf, in dem wir uns begegnen."
"Begegnen wir uns wirklich?" fragte Katharin gespannt. "Oder träume ich das nur?"
"Wir begegnen uns ... im Traum."
"Kannst du mir etwas sagen, das du mir im Leben nicht gesagt hast?"
"'Ich liebe dich.' Das hilft dir jetzt auch nichts mehr, haha ..."
"Ich meine etwas, das ich im Leben nicht wissen konnte und das du mir erzählst und das ich nachprüfen kann, so daß ich erkenne, daß ich dir wirklich begegnet bin."
"Was soll das sein?"
"Ein versteckter Ort, wo ich nie war und den du mir beschreibst. Wenn ich dahin gehe und finde diesen Ort so vor, wie du ihn beschrieben hast, dann weiß ich, ich bin dir wirklich begegnet."
"Ein Ort ...?"
"Ein Lost Place vielleicht?" schlug Katharin vor, die wohl wußte, daß die Begeisterung für Ruinen sie beide vereinte.
"Ach ...", überlegte Tain, "kennst du das verlassene Kloster?"
"Wo ist das?"
"In einem Wallfahrtsort hinter der ehemaligen Grenze", erzählte Tain. "Du mußt rechts neben dem Portal der Klosterkirche in den Kreuzgang gehen, von dort aus führt eine Treppe ins Obergeschoß, und du kommst in ein leeres Kloster mit einem großen Raum, mehreren Kammern und einem Archiv, das hat vergitterte Fenster. Im Archiv ist über der Tür ein Spruch an die Wand geschrieben, den kann man kaum lesen, die Farbe ist abgeblättert. Er lautet:
'Seine Pflichten nie versäumen ist mehr, als große Dinge träumen.'"
Tain nannte den Namen des Dorfes, wo sich das verlassene Kloster befinden sollte. Dies konnte Katharin eben noch hören, bevor sie erwachte.
Im Abendsonnenschein fuhren Katharin und ihre Schwester Constri zu dem Wallfahrtsort. Vor einem verfallenen Fachwerkhaus stellten sie den Wagen ab und gingen über einen Schotterweg unter Ahornbäumen zu der Klosterkirche. Rechts vom Portal befand sich das Tor zum Kreuzgang. Drinnen waren Grabtafeln aus mehreren Jahrhunderten an der Wand befestigt, die ältesten stammten aus dem Mittelalter. Eine hölzernde Treppe, grau gestrichen und verstaubt, führte vom Kreuzgang aus nach oben in eine leere Wohnung im Stil des achtzehnten Jahrhunderts; offenbar handelte es sich um die Räumlichkeiten des Klosters. Daß diese erst Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgegeben worden waren, bezeugten Lichtschalter aus den vierziger Jahren und die Spuren über Putz geführter Kabel.
Die Wände waren geweißt, die Dielenbretter rotbraun lackiert. Fachwerkbalken ragten in den größten Raum des Klosters, den Saal, und wirkten als Raumteiler. In einigen Wänden waren Mulden zu sehen, wo sich einst Kamine befunden hatten.
Das nach links an den Saal grenzende Archiv hatte einen Steinboden, im Gegensatz zu den übrigen Räumen. Durch die vergitterten Fenster schien das goldene Abendlicht. Über der Tür war der Spruch an den bröckelnden Putz geschrieben:

Seine Pflichten nie versäumen ist mehr, als große Dinge träumen.

"Und, hast du es gefunden?" fragte Tain des Nachts, als er Katharin wieder anrief.
"Alles war so, wie du es beschrieben hast", konnte sie berichten. "Und ich hätte mir das nicht im Traum ausdenken können."
"Siehst du, ich spreche wirklich mit dir."
"Warum tust du das eigentlich, wo du mich doch so sehr haßt?"
"Ich will etwas von dir ... nein, nicht das, was du dir wünschst ... Es ist etwas anderes."
"Und was?"
"Du sollst mir dabei helfen, zu verschwinden."
"Du bist tot, was geht denn noch?"
"Ich bin tot und doch nicht weg, das ist es", seufzte Tain. "Ich kann nicht restlos verschwinden. Und ich kann nichts tun, um das zu vernichten, was von mir geblieben ist."
"Warum stört dich das?"
"Weil ich mich völlig auflösen will ... weil ich mich vollkommen und endgültig vernichten will ... nur danach sehne ich mich."
"Warum denn?"
"Es darf mich nicht geben. Daß ich da bin, ist der Fehler."
"Warum?"
"Ich muß die Schuld loswerden, und ich werde sie nur los, wenn ich mich selbst loswerde, denn die Schuld ist ein Teil von mir."
"Dann handelt es sich um Scham, nicht um Schuld", meinte Katharin. "Scham ist für die Menschen oft bedeutsamer als der Tod."
"Schuld", beharrte Tain. "Ich bin selbst schuld an dem, was ich mir nicht verzeihen kann."
"Was wirfst du dir denn vor?"
"Daß ich störanfällig bin. Daß ich angegriffen werden kann."
"Jeder ist störanfällig und angreifbar", gab Katharin zu bedenken. "Alles, was vorhanden ist, kann gestört sein und angegriffen werden."
"Ich will das aber nicht."
"Du lehnst das Leben ab, Tain."
"Das würde bedeuten, daß das Leben mit dem Tod nicht aufhört."
"Das ist richtig", bestätigte Katharin. "Der Tod ist nicht das Ende. Und er ist schon gar nicht das Ende meiner Liebe zu dir."
"Das ist es - du müßtest endlich aufhören, mich zu lieben."
"Kannst du mir nun endlich glauben, daß ich dich liebe?" fragte Katharin.
"Na ... was du halt unter 'Liebe' verstehst", entgegnete Tain zögernd. "Das solltest du mal abschaffen."
"Das liegt außerhalb meiner Reichweite", sagte Katharin bestimmt. "Das könnte ich nicht bewerkstelligen, selbst wenn ich es wollte."
"Nein, du willst es nicht, das ist es", hielt Tain ihr vor. "Du würdest nicht einmal das für mich tun. Du sagst, du liebst mich, aber du wärst um meinetwillen nicht bereit, auf deine Liebe zu verzichten. Du denkst wieder einmal nur an dich."
"An dich denke ich, Tain. Du bist für mich immer anwesend."
"Dann wirf mich doch einfach aus deinem Leben."
"Das kann ich nicht und will ich nicht."
"Siehst du, nicht einmal das würdest du mir zu Gefallen tun."
"Wenn man jemanden liebt, ist der für einen immer anwesend, selbst wenn man das nicht will."
"Unsinn, das ist alles nur eine Frage des Willens."
"Das heißt, du konntest immer beeinflussen, für wen du was empfunden hast", folgerte Katharin.
"Ja, das habe ich immer selbst entschieden", behauptete Tain. "Gefühle müssen kontrollierbar sein. Wer seine Gefühle kontrolliert, gewinnt."
"Und du hast gewonnen, meinst du."
"Du hast mich nicht gekriegt ... niemand hat mich gekriegt", sagte Tain mit einem Lächeln in der Stimme. "Das ist für mich die Hauptsache."
"Hattest du nicht eine Verlobte?"
"Welche meinst denn du jetzt?"
"Das weiß ich nicht, denn auf deiner Beerdigung habe ich keines von diesen Mädchen gesehen."
"Das kümmert mich nicht, ich war ja nicht dabei."
"Was hättest du gemacht, wenn Staale dich wirklich 'rausgeworfen hätte?"
"Hör' mir auf damit ... der ist doch nur von dir gegen mich aufgehetzt worden."
"Ach, du meinst, das kam gar nicht von ihm selbst."
"Von dir kam das!" war Tain sicher. "Du wolltest mich kaputtmachen, weil du mich nicht kriegen konntest."
"Der Beinahe-Rauswurf hatte mit deinem Verhalten zu tun."
"Was für ein Verhalten?" wurde Tain lauter. "Erstens hat mein Privatleben nichts, aber auch nichts mit meinem Berufsleben zu tun ... es geht Staale schlicht nichts an. Außerdem habe ich niemanden umgebracht."
"Du hast deine Freundinnen nicht nur seelisch, sondern auch körperlich schwer mißhandelt."
"Was du wieder einmal alles weißt ... ich sage dir, du weißt gar nichts. Du weißt nur das, was die Leute herumtratschen."
"Hast du deine Freundinnen nie geschlagen?"
"Immer siehst du nur mich als den Schuldigen", wehrte sich Tain. "Daß vielleicht zwei dazu gehören, wenn es Streit gibt, kannst du dir nicht vorstellen."
"Ich rede nicht von Streit, sondern von Mißhandlungen."
"Dann rede ich von Provokationen", gab Tain zurück. "Dann will ich mal sehen, was du tun würdest, wenn dich jemand nervt ... und nervt ... und nervt ..."
"Hast zu Hause Gewalt erfahren?"
"Daran kann ich mich nicht erinnern."
"Woher kommt es dann, daß du immer wieder gewalttätig warst?"
"Gewalttätig ... was ist das denn für ein Wort?"
"Wie war das damals bei euch zu Hause?"
"Zu Hause?" fragte Tain irritiert. "Welches Zuhause?"
"Als deine Eltern beide noch am Leben waren."
"Wir waren eine ganz normale Familie."
"Was ist denn aus eurem Haus geworden?"
"Das wurde später verkauft."
"Hast du es wiedergesehen, nachdem du von Saroud zurückgekehrt bist?"
"Das war damals mit ... wie hieß die noch?" suchte Tain in seinen Erinnerungen. "Hellrosa Haare, zweiundzwanzig Jahre alt, Friseur-Azubi. Die wollte mit ihrem neuen Wagen eine Fahrt ins Blaue machen, und dann sind wir da hingefahren. Es sah fast so aus wie früher, aber da wohnte schon längst jemand anders drin."
"Warst du auch am Grab deiner Mutter?"
"Ich wußte nicht mehr so wirklich, wo das war."
"Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als deine Mutter umgekommen ist?"
"Immerzu fragst du mich aus, das ist ja wie im Verhör", seufzte Tain. "Wie das passiert ist, habe ich dir doch längst erzählt."
"Wie hast du das denn damals erlebt?"
"Wozu willst du immer so viel über mich wissen?"
"Ich will es gerne wissen."
"Also gut", gab Tain nach. "1986 war das, kurz vor Winteranfang. Es hat geschneit und wurde den ganzen Tag über nicht richtig hell. Es war so eine düstere, schwer zu erklärende Stimmung ... als würde die Zeit langsamer vergehen als sonst. Am Nachmittag - es war schon fast dunkel - haben meine Eltern sich gestritten. Ich stand hinter der Wohnzimmertür, die war ein Stück offen. Durch das Glas in der Tür konnte ich Ida und Theodore beobachten, sie mich aber nicht. Ich wollte immer zuhören, wenn meine Eltern sich gestritten haben. Ich weiß auch nicht, was mich da hingezogen hat. Sie waren richtig gemein zueinander ... so hintenherum, daß man es nicht gleich merkte ... aber wirklich gemein.
An diesem Abend im Dezember ging es wieder einmal darum, daß Ida ausgehen wollte und Theodore keine Lust dazu hatte. Und es ging darum, daß Theodore seinen beruflichen Aufstieg feiern wollte und dann auf einmal doch nicht feiern wollte. Sie hatten schon die Sektflasche aufgemacht, und dann hat Theodore gesagt, es gibt doch eigentlich nichts zu feiern, denn mit jeder Beförderung gibt es auch mehr Streß, die Luft wird oben immer dünner, und es gibt immer mehr Neider. Ida hat gesagt, sie versteht das, aber er könnte sich doch mehr um sie kümmern und ihretwegen mit ihr ausgehen. Das wollte Theodore aber nicht. Er hat gemeint, sie hat doch nichts davon, wenn er nur ihr zuliebe mit ihr ausgeht und die ganze Zeit schlechte Laune hat. Da ist er lieber ehrlich und bleibt zu Hause. Ida kam damit nicht zurecht. Sie hat gefleht und geweint, und dann, als es vollends dunkel war, ist sie nach draußen gelaufen in die Kälte. Theodore hat sich hingesetzt und geraucht und die Sektgläser ausgetrunken.
Ida hatte die Terrassentür nicht verriegelt, weil die Tür von außen nicht verriegelt werden kann. Theodore hat irgendwann bemerkt, daß die Tür anschlägt, und er ist aufgestanden und hat sie zugemacht.
Ida hatte einen Mantel an, der war aber nicht besonders warm. Ich habe mich gefragt, wo sie hinwollte.
Spätabends hat das Telefon geklingelt. In der Nacht kam Thara zu uns. Theodore hat mich ins Wohnzimmer gerufen.
'Sag' du es ihm', hat er von Thara verlangt.
Für mich war es wie eine Nachricht aus dem Radio. Ich fühlte mich unbeteiligt. Es war, als wenn meine Eltern und die gesamte Umgebung nicht zu mir gehörten. Ich habe gedacht, es müßte mich doch treffen, wenn die eigene Mutter umkommt."
"Was für ein Gefühl hattest du denn, statt der Trauer?"
"Ida hat mir leidgetan ... wie einem halt jemand leidtut, der so früh stirbt. Ida war erst siebenunddreißig Jahre alt. Und Himmel, sah die gut aus. Die hätte eigentlich jeden haben können."
"Hast du deine Eltern immer nur mit den Vornamen angeredet?"
"Ja, das haben die mir beigebracht, das war damals modern."
"Waren deine Eltern sich treu?"
"Das weiß ich nicht. Die ließen sich nicht in die Karten gucken."
"Wie erklärst du dir deine eigene Untreue?"
"Ich war nie untreu."
"Du hattest mir selbst erzählst, daß du die Frauen reihenweise enttäuscht hast."
"Dafür muß man sie ja nicht betrügen?"
"Du hast damals gesagt, du hättest eine Verlobte namens Berenice, und dann hast du im 'Mute' mit diesem Mädchen ... wie hieß die noch ... Tessa ..."
"Ach, das mit der Verlobten ... das habe ich doch nur gesagt, um dich abzuschrecken."
"Wie war das eigentlich, als du Theodore wiedergesehen hast, nach deiner Rückkehr von Saroud?"
"Das war nicht gleich danach."
"Hattet ihr Kontakt während deiner Zeit auf Saroud?"
"Eher nicht."
"Hattet ihr nicht Sehnsucht nacheinander?"
"Weiß ich nicht."
"Was hat Theodore gesagt, als er dich wiedergesehen hat, nach neun Jahren?"
"Er hat gesagt, ich könnte mal vorbeikommen."
"Und du hast ihn besucht."
"Wir hatten Videotelefonate, und er hat mir auf dem Monitor seine Penthouse-Wohnung gezeigt, zu mehr kam es eigentlich nicht."
"Kein Wiedersehen?" fragte Katharin bestürzt. "Kein einziges?"
"Na, auf Video. Theodore war geschäftlich sehr eingebunden, hoher Posten, viel Geld verdient. Da hatte ich auch Verständnis für."
"Weißt du, daß er tot ist?"
"Das bleibt nicht aus."
"Hast du irgendwelche Leute im Jenseits wiedergetroffen, die du kanntest und die verstorben sind?"
"Das darf ich dir nicht erzählen, sonst ... löst sich hier alles auf."
"Eigentlich müßtest du dich an meine Schulter lehnen und dich ausweinen."
"Warum das denn?"
"Das ist alles so traurig, was du erzählst."
"Das sehe ich gar nicht so", beschwichtigte Tain. "Das mit Theodore war für mich in Ordnung, der hatte sein eigenes Leben."
"Er war dein Vater."
"Wir waren recht verschieden, wir standen uns nicht so nahe."
"Tain ... können wir eigentlich nur miteinander telefonieren, oder können wir uns auch richtig treffen?"
"Das sehen wir noch."


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... WEITER ...

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