Besuch im Steinturm ...




Kampf gegen das Nichts

"Who is the man I see,
Where I'm supposed to be?
I lost my heart, I buried it too deep
Under the iron sea.

Lines ever more unclear,
Not sure I'm even here,
The more I look the more I think that I'm
Starting to disappear.

Oh, crystal ball, crystal ball,
Save us all, tell me life is beautiful.
Mirror, mirror on the wall,
Oh, crystal ball, hear my song,
I'm fading out, everything I know is wrong,
So put me where I belong.

I don't know where I am,
And I don't really care.
I look myself in the eye,
There's no one there."

(Keane - "Crystal Ball")



Kann man gegen das Nichts siegen?

"Um was ging es in SalaRien?" fragte Katharin beim Espresso.
"Um Entscheidungen", gab Staale zur Antwort, "die Tain nicht selbst treffen konnte. Und zwar nicht, weil man ihm nicht die Möglichkeit gelassen hätte, sondern weil er sich tatsächlich nicht entscheiden konnte. Er war in einem Spannungsfeld gefangen, wußte nicht vor und nicht zurück. Das war eigentlich der Zustand des Gefangenseins, über den Tain sich in SalaRien immer beklagt hat."
"Es gibt eine Zeit im Leben, in der können wir alle nichts entscheiden", meinte Katharin. "Das sind die ersten Lebensjahre. Wir sind der Willkür anderer Menschen ausgeliefert. Und zugleich prägt uns nichts so sehr wie diese Zeit. Irgendetwas hat damals in Tains Leben nicht gestimmt, das ist meine Vermutung. Aber dazu kann niemand mehr etwas sagen. Vielleicht fehlte etwas. Wenn etwas nicht da ist, gibt es auch nichts, an das man sich erinnern könnte."
"Das Nichts, die Leere", fiel es Staale wieder ein. "Davon hat Tain doch so oft geredet damals. Innere Leere. Sich wie Nichts fühlen."
"Gegen das Nichts kann man nicht kämpfen."
"Und in SalaRien gab es Gegner", machte Staale sich bewußt. "Tain hatte Gegner, die er sehen und mit denen er sprechen konnte. Allerdings - als die Gefahr vorbei war, in der Tain sich befunden hatte, verschwanden auch die Gegner. Ihre Rollen waren an die lebensbedrohliche Situation gebunden und lösten sich mit ihr auf."
"Und Tain stand wieder im Nichts", schloß Katharin. "Das bedeutete die Abwesenheit von Bedrohung und Gefahr, aber auch die Abwesenheit von allem anderen."
"Das war das eigentliche Spannungsfeld, und an dem hatte sich nichts verändert."
"Mir fällt dazu ein, daß erst nach Leens Tod bekannt wurde, daß Tain gegen Frauen gewalttätig war", erinnerte sich Katharin. "Entweder wurde das vorher vertuscht, oder es hat wirklich erst danach begonnen."
"Warum ausgerechnet Frauen?" überlegte Staale. "In SalaRien waren Frauen für Tain immer nur im Hintergrund - wie Rikka Vaillant - oder hatten Nebenrollen, wie Inir Bendthaus oder Casyle Sar. Und dann gab es Berenice Alder, die Tain ergeben war. Tain hat sich zwar mit Berenice verlobt, sie hat aber für ihn auch nur eine Nebenrolle gespielt, und ich glaube nicht, daß Tain jemals ernsthaft vorhatte, sie zu heiraten. Vielleicht wollte Tain sie mit der Verlobung nur warmhalten, damit sie ihm nicht von der Fahne geht, weil er sie andauernd betrogen hat. Ja, Tain soll auf Saroud immer leichtfertig mit Beziehungen umgegangen sein - aber von Gewalttätigkeit war nie die Rede."
"Tains Verhältnis zu mir war irrational", meinte Katharin, "und irrational waren auch seine Aggressionen gegen mich. Tain hat sich in mich verliebt, als er mir im Jahr 2000 im 'Fractal' begegnet ist. Er hat sich aber nie für mich entschieden. Irgendwann - ohne daß zwischen uns irgendetwas vorgefallen wäre, das das auch nur im Entferntesten hätte begründen können - hat Tain sich in einen absurden Haß gegen mich verrannt."
"Er hat in dir eine Widersacherin gesehen", deutete Staale.
"Vielleicht hat sich Tains Haß in Wahrheit gegen die Gefühle gerichtet, die ich in ihm geweckt habe", überlegte Katharin. "Vielleicht hat er sich selbst dafür gehaßt, tiefe und aufrechte Gefühle überhaupt zu entwickeln, und er hat geglaubt, wenn ich solche Gefühle in ihm wecken kann, bin ich seine gefährlichste Gegnerin."
"Was sollte er denn gegen Verliebtheit haben?"
"Die Gefühle hatten Macht über ihn", vermutete Katharin. "Tain konnte sie nicht kontrollieren. Und das hat er sich selbst vorgeworfen. Und er hat mich gemieden."
"Warum hat Tain dann von Aimée verlangt, sie sollte 'endlich mal Gefühle' für ihn haben?"
"Vielleicht ging es um etwas, das nicht da ist. Um - das Nichts."
"Dich wollte Tain aber nicht", gab Staale zu bedenken. "Und du hast ja nun wahrhaftige Gefühle für ihn."
"Es gibt doch diesen Spruch:
'Wasch' mich, aber mach' mich nicht naß.'
Das heißt, jemand will zwar etwas, aber er will nicht die damit verbundenen Konsequenzen akzeptieren. Tain wollte große Gefühle, aber ohne die Gefahr, Verluste und Verletzungen zu erleben. Und das gibt es nicht."
"Und woher kamen seine Aggressionen?"
"Tain hat seinen Selbsthaß nach außen gerichtet, gegen andere Menschen", meinte Katharin. "Nur so kann ich mir das erklären."
"Und warum ausgerechnet gegen Frauen?"
"Tain hat einmal zu mir gesagt, alles Böse würde von den Frauen kommen, und die Königin aller Frauen sei ich."
"Und woher hat er dieses Frauenbild?"
"Ich denke mal, von Theodore. Der war ja wohl auch recht herablassend und hat seine Frau wenig geachtet, den kann Tain sich zum Vorbild genommen haben.
Tain folgt einem starr-reaktionären patriarchalischen Rollenverständnis. Daß er sich nie davon lösen konnte, kann damit zusammenhängen, daß es ihm hilft, in seiner Unsicherheit seine Welt für sich zu ordnen. Tain hat sich nirgendwo sicher gefühlt, und er hat scheinbare Sicherheiten gesucht und auch gefunden. Seine Rollenvorstellungen sind eine davon. Dazu gehören unhinterfragte Glaubenssätze wie:
'Wenn du kein ganzer Kerl bist, bist du nichts.'
Das kann man erweitern um:
'... nichts wert.'
Tain hat sein Selbstwertgefühl von seiner Rolle abhängig gemacht. Ohne diese Rolle wäre sein Gefühl scheinbarer Wichtigkeit zusammengebrochen. 'Mann sein', das ist nach patriarchalischen Rollenvorstellungen gleichbedeutend mit 'Macht haben und Herrschen'. 'Frau sein' bedeutet hingegen 'Dienen und Dulden'. Der Mann darf auswählen, die Frau soll gefallen. Der Mann soll immer können, die Frau soll immer wollen.
Im patriarchalischen Rollenverständnis haben diejenigen keinen Platz, die sich nicht in dieses System einfügen, und das sind viele: Alle LGBTIQ und alle, die sich nicht nach patriarchalischen Vorstellungen richten wollen. Jemand wie Tain hat für solche Menschen die folgenden Reaktionsmuster zur Verfügung: Ignorieren und Verachten.
Die patriarchalische Rollenverteilung setzt sowohl Frauen als auch Männer unter Druck. Die Frau soll sich stets unterwerfen und ihren Wert über ihren Partner definieren. Der Mann soll sich seiner Mächtigkeit und Überlegenheit immer wieder vergewissern. Und wie tut er das? Indem er Rivalen aus dem Feld schlägt und Frauen entwertet."
"Von jemandem wie Tain mußte man erwarten, daß er sich seinen Kollegen gegenüber konkurrierend verhält und sich aggressiv seinen Weg zur Karriere bahnt", meinte Staale. "Das hatte er auf Saroud allerdings nicht nötig, denn es gab keine Konkurrenten für ihn. Tain konnte seine Arbeit machen, ohne irgendjemandem ins Gehege zu kommen. Er hat fast ausschließlich für sich allein gearbeitet, nur zu mir hatte er Kontakte und zu wenigen anderen, deren Fachgebiete von dem seinigen weit entfernt waren. Ich habe immer vermieden, ihn im Team arbeiten zu lassen. Tain war nicht teamfähig, und darauf habe ich Rücksicht genommen."
"Wußte er das?"
"Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich ihn damit nicht konfrontiert. Es hätte niemandem etwas gebracht."
"Und im Privatleben ..."
"Im Privaten hat Tain das ausgelebt, was im Job nicht möglich war", meinte Staale. "So zumindest wurde es mir erzählt. Immer ging es um Frauen. Tain hat es bevorzugt auf die Frauen abgesehen, an denen andere interessiert waren. Die Frauen hat er sich gefügig gemacht und später fallengelassen. Frauen waren für ihn Objekte und Trophäen, Zeichen der Vorherrschaft. Es ging immer um Macht und Kontrolle und darum, mehrere Frauen verfügbar zu halten. Wenn eine wegfiel, mußten andere bereit stehen."
"Das hört sich nach viel Streß an."
"Tain soll immer geklagt haben, daß er ganz viel Streß hat mit Frauen."
"Am Ende hat er die Frauen noch für den Streß verantwortlich gemacht?"
"Jedenfalls scheint er sich nicht verantwortlich oder gar schuldig gefühlt zu haben wegen des Beziehungs-Wirrwarrs, den er angerichtet hat."
"Manchmal frage ich mich, ob Tain besonders aggressiv wurde, wenn er doch einmal Schuldgefühle bekam und sie wegdrängen wollte", überlegte Katharin. "Daß er sie umgewandelt hat in aggressives Verhalten gegen die Frauen, an denen er sich schuldig gemacht hat."
"Hat er dich auch angegriffen?"
"Das gab es tatsächlich, kurz nach Leens Tod, da hat Tain mich in eine Ecke geschleudert", erinnerte sich Katharin. "Das war in dem Loft, wo Constri und ich Videos gedreht haben. Und neulich, im Traum, da habe ich gedacht, gleich geht es richtig los ... das war, nachdem ich ihn auf SalaRien angesprochen habe."
"Hat Tain überhaupt jemals so etwas wie Reue wegen seiner Gewalttaten geäußert?"
"Nie - so weit ich weiß", erinnerte sich Katharin. "Wenn ich ihn auf seine Untaten angesprochen habe, hat er die kleingeredet oder verleugnet. Das Einzige, was Tain sich auch noch im Jenseits andauernd vorwirft - und sich damit herumquält -, das ist, daß er nicht jederzeit die Kontrolle hatte über seine Gefühle, sein Verhalten und sein Schicksal. Er zerrt Erinnerungen hervor, immer an SalaRien, und kann die nicht loslassen."
"Ja, in SalaRien hatte er zeitweise weder sein Verhalten noch seine Gefühle noch sein Schicksal unter Kontrolle", wußte Staale. "Das war für ihn der Super-GAU."
"Und davon durfte niemand erfahren", meinte Katharin. "Tain hat beständig Nebelkerzen geworfen, damit niemand erkennen konnte, was in ihm vorging. Er hat immer eine Show um sich gemacht."
"Wer Gefühle nicht zuläßt und Verantwortung nicht anerkennt, macht sich einsam."
"Vielleicht war Tain die Einsamkeit vertraut und für ihn weniger bedrohlich als eine wirkliche Beziehung. Vielleicht hatte er in seiner Vergangenheit zuviel Nichts erlebt."
"Wie geht das denn?"
"Beziehungslosigkeit", erklärte Katharin. "Jeder ist am Beginn des Lebens angewiesen auf ein Gegenstück, ein Du. Und wenn das Du nur eine Fassade ist ... oder nicht zur Verfügung steht, weil es mit eigenen Sorgen beschäftigt ist, dann bleibt nur das Nichts.
Was mir über Tains Familie bekannt ist, das ist, daß Tain als Einzelkind aufgewachsen ist und außer den Eltern keine engen Bezugspersonen hatte. Ida verhielt sich Theodore gegenüber bedürftig und hilflos, Theodore verhielt sich seiner Frau gegenüber zurückweisend und zeigte kein Mitgefühl. Nach Idas Tod wandte Theodore sich augenblicklich von seinem fünfzehnjährigen Sohn ab und war nur noch finanziell für ihn da. Trauer um seine Frau oder Besorgnis um seinen Sohn waren bei Theodore - zumindest, soweit ich es gehört habe - kaum zu erkennen.
Äußerlich war es, wie Tain es beschrieben hat, eine 'völlig normale Familie'. Die Katastrophen, die in dieser Familie passiert sind, waren vor allem unsichtbare Katastrophen, die unsichtbare Spuren hinterlassen haben. Es ist weißer Nebel, man sieht nichts. In einem solchen Nebel werden auch Konflikte und Entwertungen verschluckt.
Wenn Tain sich an seine Familie kaum noch erinnert, kann das mit einem solchen weißen Nichts zu tun gehabt haben, einer Atmosphäre des 'Whiteout' im warmen Zimmer, einem inneren Erfrieren.
Nichts kann man nicht beschreiben. Wenn nie etwas da war, weiß man nicht, was hätte da sein können. Gegen nichts kann man nicht kämpfen. Nichts ist immer überlegen, weil nichts nicht greifbar ist. Zu nichts kann man nicht in Beziehung treten, aus dem Nichts kann nichts entstehen, aus nichts kann man nichts erschaffen.
Tain hat das Nichts immer wieder als Machtmittel eingesetzt: das Fehlen, die Abwesenheit, das Enttäuschen. Tain war beruflich diszipliniert, im Privaten jedoch war er bekannt dafür, anderen Leuten wortreiche Versprechungen zu machen, die gewöhnlich nicht eingehalten wurden. Verabredungen wurden kurzfristig abgesagt, oder Tain erschien zu spät oder ohne Absage einfach gar nicht. Vor allem den Mädchen gegenüber, denen er Hoffnungen machte, hat er mit Vorliebe Versprechen gebrochen und sie enttäuscht, indem er Verabredungen nicht eingehalten hat oder indem er die Mädchen betrogen hat. Das haben mir mehrere dieser Mädchen selbst erzählt. Tain schien immer bestrebt zu sein, andere zu enttäuschen - als wenn er dadurch verhindern konnte, selbst enttäuscht zu werden. Dabei war Tain in meinen Augen für sich selbst die größte Enttäuschung, weil er tiefe und aufrechte Gefühle, die sein Inneres hätten erfüllen können, stets blockiert hat.
Der Kampf gegen das Nichts ist in Wahrheit der Kampf gegen die Vernichtung. Es ist der Kampf gegen Auflösung, Verleugnung, Vergessen, seelisches Verhungern und Erfrieren, der Kampf gegen lähmendes Schweigen und Ereignislosigkeit."
"Und Ereignisse gab es reichlich in SalaRien", meinte Staale. "Es gab Zuwendung und Aufmerksamkeit für Tain. Aber wie ein Schatten lag darüber die beständige Todesgefahr und all das, was erfolgt ist, um sie abzuwenden ..."
"Was war das denn eigentlich?" fragte Katharin. "Was ist denn wirklich in SalaRien passiert?"
"Du meinst das, was Tain nie wissen wollte."
Katharin nickte.
"Das weiß auch ich nicht", antwortete Staale. "Aber wenn du Rega fragen würdest, Rega Mansfeld ... zu dem kann ich dir eine Verbindung aufbauen, mit dem kannst du texten, vielleicht kann der mehr sagen."
Dank eines zwischengeschalteten Übersetzungsprogramms konnte Katharin sich mit Rega austauschen. Sie erfuhr, daß Rega und Tain auf Saroud viel miteinander zu tun gehabt hatten. Vor allem hatten sie einen gemeinsamen Bekanntenkreis und besuchten dieselben Clubs. Rega hatte Zutritt zu Tains Wohnung und umgekehrt. Es schien, als wenn Tain wenigstens eine vertraute Person haben wollte, auch wenn er in Rega eher einen Bekannten sah als einen Freund. Nach Tains Aufenthalt in SalaRien hatten sie - indes - kaum noch Kontakt.
"Tain hat sich von mir verraten gefühlt, als das mit SalaRien war", meinte Rega, "und auch von Leen Dayna und von mehreren anderen Leuten hat er sich verraten gefühlt, vor allem aber von Leen und mir, er kannte uns ja schon vorher."
Katharin erkundigte sich, was genau in SalaRien vor sich gegangen war, als Tain sich dort aufhielt - und was Tain dazu gebracht hatte, sich von Rega und Leen verraten zu sehen.
"Diese Informationen dürfen nicht weitergegeben werden", schrieb Rega.

-   -   -


Der nächste Traum führte Katharin nicht in den Bettensaal, sondern in einen Ballsaal. Er hatte hohe Fensterwände, die von schweren dunklen Samtvorhängen eingerahmt wurden. Er war noch größer und weitläufiger als der Hauptsaal im "Mute". Die Wände waren mit blaßfarbigen Barock-Ornamenten verziert. Eine Reihe großer Spiegel lief ringsum. An der Decke hingen vier Reihen von Kronleuchtern, die Leuchtdioden statt Kerzen trugen. Fahlgraues Tageslicht lugte zwischen den Fensterstreben hindurch und ließ die Tanzfläche hell schimmern. Die Gäste waren prachtvoll kostümiert und frisiert, einige historisch, andere postmodern und im Cyberstyle. Katharin trug eine Mischung aus allem: eine Steckfrisur mit vielen Kunstzöpfchen, eine große schwarze Haarschleife im Cosplay-Stil, ein graues Steampunk-Korsett aus Kunststoff und einen durchsichtigen schwarzen Flatterrock.








Am Rand der Tanzfläche - vor dem DJ-Pult - entdeckte sie Tain. Sein effektvoll zerrissenes weißes Hemd leuchtete im Schwarzlicht.
"Oh Gott, ist der sexy", dachte Katharin. "Ich muß immer wieder ... immer wieder ... staunen."
Während sie auf Tain zuging, stellte sie sich vor, wie sie sein Hemd vollends auseinanderriß - langsam, Stück für Stück.
Als Tain Katharin erblickte, erhellte sich sein Gesicht, doch gleich darauf bemühte er sich, seine Mimik wieder unter Kontrolle zu bringen.
"Was willst du denn hier?" war seine Begrüßung.
"Wie ich hierher gekommen bin, weiß ich nicht", antwortete Katharin, "aber es sollte wohl so sein. Wie geht es dir?"
"Pfoten weg", befahl er und zog ihre Hände unter seinem Hemd hervor. "Sag' mal ... kannst du dir vorstellen, daß ich ... vielleicht ... nicht alleine hier bin?"
"Deine Bettgeschichten kann ich schon lange nicht mehr ernst nehmen."
Tain hielt Katharins Hände umfaßt.
"Ich will dich umarmen", sagte sie.
"Das will ich aber nicht", entgegnete er.
"Warum nicht?"
"Das ist mir viel zu persönlich", erklärte Tain. "Sex darf nichts Persönliches sein. Das weiß auch meine Verlobte Sarena."
"Was ist aus der eigentlich geworden?"
"Weiß ich nicht."
"Und mit wem bist du dann hier?"
"Weiß ich doch nicht, wie die heißt."
"Willst du das gar nicht wissen?"
"Das muß ich doch gar nicht ... für Sex."
"Ich will dein Hemd langsam, ganz langsam zerreißen."
"Warum das denn?"
"Das ist doch schon ziemlich zerrissen."
"Und warum willst du das noch weiter zerreißen?"
"Das ist Erotik ..."
"Was hat Sex, verdammt nochmal, mit Erotik zu tun?" fragte Tain und hob die Arme.
"Bei dir scheint Sex in keiner Weise etwas mit einer Beziehung zu tun zu haben", meinte Katharin.
"Beziehung?" feixte Tain. "Wozu braucht man eine Beziehung?"
"Ich will eine ... mit dir."
"Du hast doch überhaupt keine Zeit für eine Beziehung", gab Tain zurück. "Du hättest auch nie Zeit für eine Beziehung mit mir gehabt. Guck' dir doch mal deinen Terminkalender an. Dein Leben zerrinnt dir unter den Händen."
"Wir haben jetzt Zeit."
"Bis du wieder auf der Tanzfläche bist", sagte Tain vorwurfsvoll. "Das ist dir dann schon wieder wichtiger als ich."
"Beides ist wichtig."
"Du entscheidest dich immer wieder gegen mich und für die Tanzfläche."
"Das eine muß doch das andere nicht ausschließen", meinte Katharin. "Willst du nicht einfach mitgehen auf die Tanzfläche?"
"Was soll ich da denn?" fauchte Tain. "Totentanz, oder was?"
"Bring on the Dying" von Aslan Faction begann: getragen, elektronisch, beinahe hymnisch. Katharin nickte Tain zu und mischte sich unter die Gestalten auf der Tanzfläche. Sie rechnete damit, daß Tain sich beleidigt entfernte. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihn noch an derselben Stelle, als das Stück endete.
"Trennung ist der Mörtel, der eine Beziehung zusammenhält", sagte Katharin, als sie wieder vor ihm stand und die Arme um ihn legte.
Tain ergriff ihre Arme und hielt sie von sich weg.
"Reicht es dir denn nicht, daß ich im Jenseits bin?" fragte er heftig. "Mußt du mich auch noch an der Tanzfläche stehen lassen?"
"Ich will dir beibringen, daß ich immer bei dir bin, auch wenn ich gerade nicht in deiner Nähe bin."
"Warum in Gottes Namen willst du einem Toten etwas beibringen? Du bist doch irre."
"Für einen Toten wirkst du sehr lebendig."
"Lebendig ist höchstens deine Phantasie, mit der du dir alles Mögliche einbildest. Du denkst nämlich insgeheim, daß du Tote aus dem Jenseits zurückholen kannst. Das geht aber nicht. Was hinüber ist, ist hinüber."
"Unsere Beziehung findet eben hier statt ... hier."
"Und das genügt dir?" zweifelte Tain. "Erwartest du nicht mehr vom Leben?"
"Das Leben hat mir genau dies übrig gelassen, und ich mache das Beste daraus."
"Und wie ich dabei wegkomme, das ist dir dann ... nicht ganz so wichtig."
"Wie hättest du es denn gerne?"
"Also, wenn du schon behauptest, daß du mich liebst, dann solltest du dich wenigstens auch so verhalten."
"Und du findest, daß ich das nicht tue."
"Also, wenn da nur irgendein Stück laufen muß, und schon rennst du weg, dann hat das ja wohl nichts, überhaupt nichts mit Liebe zu tun."
"Liebe bedeutet nicht, daß man rund um die Uhr zur Verfügung steht."
"Was bedeutet es denn sonst?"
"Liebe ist vor allem eine innere Verbindung."
"Sowas ist doch zu gar nichts gut", fand Tain. "Von einer inneren Verbindung hat man doch gar nichts. Ich habe doch nur etwas von jemandem, den ich jederzeit herbeirufen kann, und er folgt."
"So verhält sich ein Sklave - oder ein Lampengeist", entgegnete Katharin. "Das hat nichts mit Liebe zu tun."
"Doch, genau das ist Liebe", war Tain sicher. "Wenn jemand für mich immer und überall alles zu tun bereit ist, dann ist das Liebe."
"Wir scheinen unter Liebe halt nicht dasselbe zu verstehen."
"Sex mit einer Leiche" von Industriegebiet begann, als Remix von Soman. Ein Sample aus einem Horrorfilm war zu hören:
"Eine Person, die Leichen stiehlt, um Sex mit ihnen zu haben, nennt man einen Nekrophilen."
"Hu, was ist das denn?" fragte Tain erschauernd. "Sag' bloß, du willst dazu tanzen!"
"Ich will nicht nur, ich muß."
"Was? Jetzt hab' ich's - du bist wirklich nekrophil!"
"Man sollte den Text getrennt vom Rhythmus betrachten. Der Text ist albern, der Rhythmus überirdisch."
Schleifende deszendierende Sounds, die an vorbeirasende Autos auf der Überholspur erinnerten, legten sich über einen brachialen Rhythmus, der Katharin längs über die Tanzfläche scheuchte, mit ausgreifenden Schritten, in variierten Endlos-Pirouetten. Mit "Dosis" von Inhalt der Nacht folgte ein weiterer musikalischer Abgrund, danach dann "Trust" im Phase Fatale Remix von Veil of Light, mit einem nicht nur brachialen, sondern infernalischen Rhythmus. Darüber schwebten hallende Sounds wie Nebelschleier.
"Wenn der DJ weiter so auflegt, tanze ich mich tot", dachte Katharin. "Ich weiß gar nicht, wie ich noch anhalten soll."
Doch weil ihre Bewegungen der Musik folgten, stand sie von ganz alleine still, als das Stück verklang. Danach ging es etwas ruhiger weiter.
"Du hast sie nicht alle", bemerkte Tain, als Katharin wieder auf ihn zukam. "Jetzt mal in Kurzfassung: was ist dir wichtiger, das Tanzen oder ich?"
"Du könntest ebenso gut fragen, was mir wichtiger ist: das tägliche Brot oder du", gab Katharin zur Antwort. "Es gibt so etwas wie eine Lebensgrundlage, und das Tanzen gehört für mich dazu."
"Wir sind im Jenseits. Um Leben geht es hier nicht mehr."
"Ich bin lebendig und hier zu Besuch."
"Du bist doch wie auf Droge, du drehst doch nur ab."
"Das stimmt nicht", widersprach Katharin. "Mach' das mal - auf einer glatten Tanzfläche nicht ausrutschen und immer sofort innehalten, wenn jemand die Bahn kreuzt. Ohne die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten und Bewegungen in Bruchteilen von Sekunden zu steuern und umzulenken, geht das nicht."
"Kann doch sein, daß du Speed nimmst."
"Glaube mir oder glaube mir nicht - das entscheidest du."
"Wozu verausgabst du dich denn so?" fragte Tain verständnislos. "Für was, für wen?"
"Damit verfolge ich kein Ziel", betonte Katharin. "Es ist nur um seiner selbst willen wichtig. Bestimmte Rhythmen und Sounds ziehen mich auf die Tanzfläche, das ist alles. Es geht um das Umsetzen von Musik in Bewegung, um Kunst. Und ewig soll das so weitergehen, Tanzen bis in alle Ewigkeit."
"Ich verstehe das nicht."
"Hat dir Bewegung denn nie Freude gemacht?"
"Eiswandern auf stillgelegten Kanalarmen, das vielleicht."
"Wo war das denn?" fragte Katharin neugierig.
"Auf Saroud", rief Tain sich ins Gedächtnis zurück. "Etwa hundert Kilometer von Stellwerk entfernt, in einem ehemaligen Tagebaugebiet bei Timyran, wo das 'Departure' auch ist, eine Kult-Location ... da verlaufen noch die Werksschienen von damals ..."
"Das hört sich romantisch an!"
"Du findest das romantisch?"
"Lost Places finde ich romantisch."
"Rega und ich sind stundenlang auf zugefrorenen Kanalarmen Schlittschuh gelaufen, an endlosen Schotterbergen entlang."
"Wie romantisch!" rief Katharin entzückt.
"Romantisch", ahmte Tain sie nach. "Wir hatten fünfzehn Grad unter null. Und das war noch warm für den Winter dort draußen in der Geröllwüste. Der Wind hat den Schnee über das Eis gefegt und uns vor sich hergeschoben."
"Romantisch ..."
"Daß du das durchgehalten hättest, bezweifle ich aber. Den Schluß unserer Wanderung jedenfalls hättest du bestimmt nicht durchgehalten. Da haben wir uns nämlich so richtig einen gebrannt. Ich hatte eine Metallflasche mit Hochprozentigem im Rucksack, und Rega und ich haben uns ordentlich einen gegeben, auf einer Betonmauer unterhalb vom 'Departure'. Rega verträgt nicht so viel wie ich. Der war am Ende so dicht, daß er nicht mehr stehen konnte. Er wollte sich unbedingt da draußen schlafen legen, als es dunkel wurde. Ich habe ihn 'raufgeschleppt ins 'Departure', wo er sich ausschlafen konnte, ohne zu erfrieren. Von dort aus haben wir morgens den ersten Zug genommen."
"Du hast Rega das Leben gerettet."
"Im Gegenteil", widersprach Tain. "Ich war nicht sein Retter, sondern sein Verführer. Ich habe Rega dazu verleitet, mehr zu trinken, als er verträgt. Ich konnte es mir halt nicht leisten, ihn erfrieren zu lassen. Das wäre das Aus für meine Karriere gewesen. Vielleicht hätten sie mich sogar eingesperrt deswegen."
"Rega hat dir mal viel bedeutet, kann das sein?"
"Wir waren miteinander unterwegs, in Clubs und so, viel mehr war das eigentlich nicht."
"Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?"
"Das war, als ich endlich aus SalaRien weggekommen bin."
"Vermißt du ihn?" erkundigte sich Katharin.
"Der soll mir bloß wegbleiben", wehrte Tain ab. "Der hat gemeinsame Sache mit Leen gemacht."
"In SalaRien?"
"Wenn du noch einmal ... noch einmal mit SalaRien ankommst ..."
"First Light" von ORPHX begann, meditativ-rhythmischer Industrial-Trance, der sich über der Tanzfläche ausbreitete wie das erste rosige Morgenlicht.
"Bis gleich", sagte Katharin, ehe sie auf die Tanzfläche lief.
Tain betrachtete sich selbst von außen, wie einen Darsteller in einem Film. Er schaute sich zu, wie er allein dastand, verlassen, aufgegeben ... Er vermied es, zur Tanzfläche zu blicken. Er wollte sich an die Techniken erinnern, mit deren Hilfe er beliebt und umschwärmt wirken konnte, wenn es darauf ankam. Eine Variante begann damit, daß er sich die Frauen im Saal ansah und entschied, welche von ihnen infrage kam. Als Nächstes mußte er herausfinden, ob die Erwählte in Begleitung da war. Manche Begleiter konnte Tain übertrumpfen und sich an ihre Stelle setzen. Das war eine Herausforderung und nicht selten riskant.
"Warum braucht Katharin das eigentlich nicht?" dachte Tain, als er entgegen seines Vorhabens doch zur Tanzfläche blickte. "Warum kann sie einfach so hier herumlaufen und -tanzen, ohne irgendwen zu kennen und ohne sich um Beliebtheit zu kümmern? Ich bin allein, sie ist allein. Warum fühle nur ich mich allein? Sie scheint sich doch ohne mich ganz phantastisch zu amüsieren."
Tain wollte sich auf seine Fähigkeit besinnen, in jeder Situation und zu jeder Zeit an eine Begleitung zu kommen - je nachdem, ob er gerade Trinkbrüder oder attraktive Frauen gebrauchen konnte. Neben ihm stand ein sehr schlankes violettgelocktes Mädchen. Tain beobachtete sich dabei, wie er mit traumwandlerischer Sicherheit ein Gespräch mit ihr begann und ihr Komplimente machte - nicht zu viel, nicht zu wenig, gerade so dosiert, daß das fremde Mädchen beeindruckt war, anstatt sich belästigt zu fühlen. Unterdessen veränderte sich etwas in dem Saal. Trotz der vielen Menschen wirkte der Saal seltsam leer. Tains suchende Augen konnten Katharin nicht mehr entdecken.
"Jetzt sollte ich über das Mädchen mit den violetten Haaren steigen, und der Morgen ist gerettet", dachte Tain. "Das hat noch immer gegen jede Enttäuschung geholfen."
Er hauchte dem violettgelockten Mädchen eine Entschuldigung zu und wand sich durchs Gedränge zur Hintertür. Dort zerrte er seine Zigarettenschachtel hervor.
"Mir ist schlecht", wollte er rufen. "Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr."
Stattdessen saugte er den blauen Qualm tief in sich hinein.

-   -   -


Katharin fragte Rega, wie es Tain ansonsten auf Salarien ergangen war und ob Tain und Rega auch Ausflüge miteinander gemacht hatten. Rega schrieb:
"Tain habe ich es zu verdanken, daß ich noch am Leben bin."
"Wie kam das?"
"Wir waren bei sehr kaltem und stürmischem Wetter unterwegs", schrieb Rega, "und wir haben nach einer Tour auf dem Eis eine Menge harten Alkohol getrunken. Ich wollte irgendwann schlafen, weil ich die Kälte nicht mehr gemerkt habe. Ich wollte mich in den Schnee legen. Tain konnte mich nicht davon abhalten. Also hat er mich weggeschleppt. Es ging steil bergauf, einen Felshang. Es gibt dort nur eine sehr schmale Treppe, ohne Geländer. Wir kamen oben in einen Club, draußen in der Wildnis, den kann man nur mit dem Zug erreichen oder über den Kanal. Daß wir nicht abgestürzt sind, ist ein Wunder. Tain war auch betrunken, aber nicht so wie ich."
Katharin erkundigte sich, wie der Club hieß.
"Es war das 'Departure'", schrieb Rega. "Das sehe ich noch vor mir. Dunkle, grobe Holztische und Drinks in beleuchteten Gläsern. Nein, da habe ich nicht mehr weitergetrunken. Wir sind am Morgen mit dem ersten Zug weggefahren."
"Tain hat mir im Traum erzählt, daß ihr im 'Departure' wart", schrieb Katharin.
"Schön, daß ihr euch trefft", schrieb Rega. "Richte ihm Grüße aus."

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Hohe, dunkelgrau verstaubte Betonmauern standen dicht bei dicht am Rande von Hafenanlagen. Schmale Gassen verliefen zwischen ihnen. Das Tageslicht kam unten kaum an. In einem Seitengäßchen gab es eine Maueröffnung, eine dunkle Nische unter einer Treppe aus Beton, wo alte Autoreifen herumlagen und anderes Gerümpel. Tain kauerte auf einem Haufen Altkartonagen, eingewickelt in eine grobe graubraune Wolldecke. Die kalte, schattige Atmosphäre hatte er gesucht, weil er sich dort sicherer fühlte als anderswo. Immer war es da, das dunkle Gefühl einer drohenden Gefahr. Tain wußte, hier drohte ihm nichts, das irdische Leben lag hinter ihm, niemand verlangte mehr etwas von ihm, niemand konnte ihm mehr etwas tun. Und doch, das Gefühl blieb.
Tain sprang auf, als er Katharin erblickte. Sie stand in einer leeren Türöffnung, über der eine Leuchtröhre ein müdes Licht verbreitete.
"Leider bin ich noch nicht zum Aufräumen gekommen", sagte Tain entschuldigend. "Was machst'n du hier eigentlich?"
"Was ist das hier?" fragte Katharin verwundert. "Ein Lost Place? Schade, daß ich hier nichts fotografieren kann ..."
"Immer Fotos", sagte Tain verächtlich. "Immer denkst du nur an Fotos."
"Dich würde ich auch gerne fotografieren."
"Was findest du nur daran?" seufzte Tain. "Du fühlst dich von dem angezogen, vor dem alle anderen davonlaufen."
Katharin streckte die Arme nach ihm aus. Tain hob sogleich abwehrend die Hände und ließ Katharin nicht an sich heran. Er trat durch die Türöffnung hinaus auf einen gepflasterten Weg, der von kahlen, an die dreißig Meter hohen Betonwänden begrenzt wurde. Nirgends gab es Fenster in den Wänden, nur Lüftungsschächte.
"Warum läßt du mich nicht in Ruhe?" fragte Tain ungehalten. "Sogar hierher läufst du mir nach."
"Ich soll dir Grüße ausrichten von Rega."
"Ach, mit dem fängst du jetzt was an, oder was?"
"Den habe ich noch nie gesehen", betonte Katharin. "Wir texten nur."
"Ach ja, und das soll ich dir glauben ..."
"Du wirkst unglücklich ... man könnte meinen, du hast Angst."
"Angst kenne ich nicht."
"Hast du dich nie vor irgendetwas gefürchtet?"
"Damals, als Theodore weggezogen ist, da habe ich mal geglaubt, ich wache nicht mehr auf, wenn ich einschlafe, also wollte ich nicht mehr einschlafen", erzählte Tain. "Da habe ich immer Hörspiele gehört von fremden Planeten und gedacht, auf einem fremden Planeten bin ich endlich frei ... und in Wahrheit bin ich nicht einmal im Tod frei. Und das ist deine Schuld, weil du mich nicht losläßt. Du gehörst hier nicht her. Du gehörst nicht zu mir. Das ist nicht dein Revier."
"Ich kann nicht entscheiden, wo meine Träume mich hinführen", erklärte Katharin. "Ich kann auch nicht entscheiden, wen ich liebe. Du jedoch kannst entscheiden, ob du die Wahrheit hinnimmst oder sie verleugnest."
"Hör' endlich auf, mich zu verfolgen", sagte Tain drohend. "Soll das weitergehen bis an der Welt Ende - oder irgendwann ... auf einem anderen Planeten?"
"Es gibt etwas, das die Welt überdauert."
"Das weiß du auch ... du weißt auch alles, ja ..."
Tain verschwand im anthrazitfarbenen Dunkel.

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In einem verschneiten Park las Katharin an einer Betonmauer den Vers:

Der Winter kam und malte alles grau.
Ich sah den Winter und bat ihn, zu bleiben.


Der Vers war mit Hilfe einer Schablone aufgebracht worden. Vielleicht gehörte er zu einer Maßnahme der Stadtverschönerung.
"Wer will nicht, daß es Frühling wird?" dachte Katharin. "Es könnte jemand sein, dem es grau und finster ist im Inneren und der will, daß um ihn herum alles ebenso grau und finster bleibt. Vielleicht hat er die Hoffnung verloren, daß Licht und Wärme auch die Finsternis in seinem Inneren wandeln können."

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Katharin erwischte sich dabei, wie sie im Internet stundenlang Lofts in ehemaligen Industriegebäuden anschaute. Sie buchte immer noch gerne Lofts für Filmaufnahmen. Eines, in dem sie gefilmt hatte - umrankt von Weinlaub - war später einem Hochwasser zum Opfer gefallen.
"Diese Aufnahmen sind unbezahlbar", wußte Katharin.
Sie hatte im Morgengrauen gefilmt. Meistens filmte sie im Morgengrauen und nutzte das natürliche Licht.








"Diese geheimnisvollen Lofts sind wie eine Parallelwelt", dachte Katharin und versuchte, sich vorzustellen, wie es auf Saroud war, insbesondere im "Departure".
Auch auf Erden gab es Gegenden, in denen man sich fast wie auf einem fremden Planeten fühlen konnte, das hatte Katharin schon oft erlebt - in der Antarktis, in grönländischen Moränenlandschaften, im Inneren der Gletscher Svalbards oder im Hochgebirge, wo sie sich - meistens mit Constri - von Bergbahnen zu verschneiten Gipfeln hinaufziehen ließ und dort in Turmzimmern mit Panoramablick logierte.
Dennoch, der Gedanke an Saroud ließ Katharin nicht los.
"So gerne wäre ich mit Tain durch eine dieser Gegenden gereist", seufzte sie, "ob das nun hier oder auf Saroud ist. Einmal mit Tain in der Mitternachtssonne wandern und ihm die Eisberge des Kangia im rosenfarbenen Dämmerlicht zeigen können ... und alles schläft, die Holzhäuser von Ilulissat träumen vor sich hin ..."








Ihr war bewußt, daß so etwas auch schon unmöglich gewesen war, als Tain noch lebte. Er hatte sich nie auf Katharin eingelassen, und er hätte sich auch nie auf eine Reise mit ihr eingelassen. Zumindest - wenn man kurze nächtliche Überraschungtrips außen vor ließ, die ihm eine Laune eingab.
Katharin war durchaus bewußt, daß ihre Reisen mit Constri oder ihren Freunden oder anderen Verwandten immer eine große Freude waren, sowohl für sie als auch für die Leute, die sie mitnahm.
"Ich will nicht ungerecht sein", war ihr Fazit, "aber Tain fehlt mir trotzdem, er fehlt mir überall."


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