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Eigentlich wollte Hytania heiraten. Sie hatte gehört, daß Androiden zu Menschen werden konnten, wenn es ihnen gelang, einen Menschen zu lieben. Hytania hoffte, sich in ihren Bräutigam zu verlieben, den schönen Selius. Er war nicht nur schön, sondern auch strebsam und treu, ordentlich und fleißig. Und er war verliebt in Hytania. Daß sie ein Android war, hatte sie ihm verschwiegen. Sie hoffte, durch die Liebe zu ihm ein Mensch zu werden, ehe er erfuhr, daß sie industriell hergestellt war.
Hytania wollte Selius nicht lange warten lassen. Sie hoffte, sich rasch in ihn zu verlieben, dann war ihr Wunsch erfüllt, sie war ein Mensch und konnte teilhaben am Leben der Menschen.
Die Wochen vergingen, aber die Liebe zu Selius wollte nicht in Hytanias Herz kommen. Es schien ebenso zu werden wie in all den Jahren vorher; nie hatte jemand ihr Herz rühren können. Selius vereinte alles in sich, was sie sich unter einem Traummann vorstellte, und sie war so sicher gewesen, daß sie sich in einen Mann mit diesen Eigenschaften verlieben konnte ... doch die Wirklichkeit traf sie kalt wie Stahl, ihre Träume wurden blaß und leblos. Sie empfand noch immer nicht mehr für Selius als für ein Foto an der Wand. Dabei umwarb Selius sie mit aller Aufmerksamkeit, mit roten Rosen, Kerzenlicht, handgeschriebenen Liebesbriefen, Brillantkettchen und seidenen Dessous.
Als Selius gemeinsam mit Hytania das Aufgebot bestellt hatte und sie abends neben ihm vor dem Fernseher saß, kam ein Bericht über das Verschwinden junger Mädchen. Innerhalb eines Jahres wurden acht Mädchen vermißt. Sie alle waren achtzehn Jahre alt und trugen lange blondierte Haare.
Hytania erinnerte sich an eine Klatschgeschichte, die sie vor einigen Monaten gehört hatte. Es war ein Märlein, das man sich erzählt und immer weitererzählt, ohne sicher sein zu können, ob es sich wirklich so zugetragen hat. Die Geschichte handelte von einem jungen Adligen namens Tasso, der hatte Ländereien und einen Herrensitz geerbt. Er dachte nicht darüber nach, wie er sein Vermögen erhalten oder mehren konnte; er gab es nur aus. Sein Rufname war "Egoshooter", das lag an seiner Leidenschaft für Computerspiele, in denen es darum ging, Menschen umzubringen, die einem zufällig begegneten. Besonders gern brachte er hübsche junge Frauen um. Mal erschoß er sie, mal tötete er sie mit einer Kettensäge, einer Axt oder anderem Mordwerkzeug. Er genoß es, Menschen zu töten, ohne dafür bestraft werden zu können. Vor lauter Spielen kam er fast nicht mehr dazu, andere Menschen zu treffen. Und wenn er ausging, stritten seine Zechkumpane häufig mit ihm, denn er wollte niemand anderen zu Wort kommen lassen und immer Recht behalten.
Schließlich ging Tasso lieber allein aus und zog früh am Abend durch die Bistros und Bars. Dann konnte er junge Mädchen kennenlernen, die später in der Nacht nicht mehr unterwegs waren. Sie wohnten fast alle noch bei ihren Eltern, und daheim behaupteten sie, bei einer Freundin zu übernachten; in Wahrheit aber folgten sie Tasso auf seinen Herrensitz. Dort führte er sie herum, zeigte ihnen die Pracht, in der er lebte, und er versicherte jedem Mädchen, sie sei die Auserwählte, die durch ihn in den Adelsstand erhoben würde. Kinder sollte sie haben mit ihm, den Nachwuchs für das Adelsgeschlecht.
Tasso ließ die Mädchen fallen, eines nach dem anderen, mal eher, mal später, mal hatte er auch mehrere Geliebte gleichzeitig. Er genoß es, wenn sie enttäuscht waren, wenn sie wütend, verzweifelt und traurig waren. Er genoß es, Menschen zu quälen, ohne dafür bestraft werden zu können. Niemals ließ er sich einen Vorwurf daraus machen, die Mädchen belogen und betrogen zu haben. Er behauptete stets, zu Anfang sei er unsterblich in das Mädchen verliebt gewesen, doch dann sei dieses Gefühl wieder verschwunden, und dafür könne er schließlich nichts ... oder er sei unsterblich in gleich zwei Mädchen verliebt gewesen und habe sich für keines entscheiden können, und in der Not sei er mit beiden zusammengewesen, habe allerdings jeder sein Verhältnis mit der anderen verschweigen müssen, denn sonst hätte er auf eines der Mädchen verzichten müssen ...
Wenn Tassos Untreue aufflog, schaute er leidend, bat um Mitgefühl ... und begann mit dem nächsten Mädchen ein Verhältnis. Er war stolz darauf, daß er niemals Mitgefühl empfand. Er genoß es, Menschen zu quälen, ohne daß es ihm wehtat. Wenn er ein Mädchen fallenließ, vermißte er es nicht, nie hatte er Sehnsucht nach einem Menschen. So gierig er die jugendlichen Körper verschlang, so wenig fehlten sie ihm, wenn sie nicht mehr da waren. Ihm genügte es, irgendein anderes, fremdes Mädchen zu verführen, um seinen Hunger nach Nähe zu stillen.
Tasso nahm Drogen, und er teilte die Drogen mit den Mädchen. "Niemals nüchtern!" - das war sein Motto, das trug er wie ein Schild vor sich her.
Eines Tages lag er tot in seinem Schlafgemach. Das Zimmermädchen fand ihn. Verwandte hatte Tasso nicht mehr, zumindest keine, die noch etwas von ihm wissen wollten. Im Trauerzug gingen einige Zechkumpane und die beiden Mädchen, die zuletzt mit Tasso ein Verhältnis gehabt hatten und die er zwar miteinander betrogen, aber noch nicht fallengelassen hatte. Auch folgten einige Menschen dem Trauerzug, die dabei zusehen wollten, wie jemand ins Grab sank, der ihnen übel mitgespielt hatte.
Es gab Erbstreitigkeiten, der Herrensitz stand eine Zeitlang leer, brannte schließlich aus, das Anwesen verwilderte. Nun sagte die Mär, daß Tasso als Geist umging, weil die Schuld noch nicht abgebüßt war, die er im Leben auf sich geladen hatte. Er sollte in einer Burg aus türkisfarbenem Polystyrolschaum leben, mitten im wilden Wald, in seinen Ländereien. Die Burg wurde deshalb die Schaumburg genannt, und Tasso, als ihr Bewohner, hieß der Schrecken von Schaumburg.
Die Burg wurde nie gefunden, wenn man danach suchte. Sie zeigte sich nur denjenigen, die durch den Wald gingen, ohne Tassos Geschichte zu kennen. Sie berichteten im nächsten Dorf von der geheimnisvollen Burg, und alle, die endlich wissen wollten, wo sie stand, baten und fragten, wie man nur den Weg dahin finden konnte. Da machten sich ganze Gruppen auf die Suche, aber die Burg konnte nicht wiedergefunden werden.
Über Tasso erzählte man sich, der locke junge Mädchen in die Schaumburg. Sie alle gerieten ahnungslos in den Wald, abseits von dem Weg, den sie entlangfahren wollten. Es war, als wenn der vertraute Weg eine andere Richtung nehmen würde und sie gerade zur Schaumburg hinführte. Dort wurden sie empfangen in der türkisfarben leuchtenden Burg, und Tasso zeigte sich in einem schimmernden Gewand, anzusehen wie ein außerirdischer Fürst. Jede glaubte, an Tassos Seite in eine Traumwelt hinüberzugleiten, wo sich alle Wünsche erfüllten, auch solche, an die sie nicht gedacht und die sie nicht ausgesprochen hatte. Tasso versicherte ihr, daß sie die Welt, in der sie bisher gelebt hatte, nicht mehr brauchte, da sie doch hier alles habe, was sie sich nur wünschen konnte. Er legte ihr sein prächtiges Reich zu Füßen, doch eines verbot er ihr: niemals sollte sie einen Schritt hinaustreten, niemals wieder sollte sie die Burg verlassen, nie auch nur das Tor öffnen. Das junge Mädchen versprach es gern, sah sie sich doch am Ziel all ihrer Wünsche.
Tasso verabschiedete sich nach einigen Tagen, um, wie er sagte, die Trauung vorzubereiten. Ehe er abreiste, gab er dem Mädchen einen Schlüssel. Es war Tassos Zweitschlüssel. Mit dem sollte sie die Burg aufschließen können, doch eben dieses war es, was er ihr verboten hatte. Und wenn er zurückkehrte, hatte das Mädchen das Burgtor immer geöffnet, es hatte dem Reiz des Verbotenen nicht widerstehen können. Obwohl das Mädchen das Tor wieder abgeschlossen hatte, erkannte Tasso doch, was geschehen war; er sah es an dem Schlüssel, denn der verlor seinen türkisfarbenen Glanz, wenn er einmal im Schloß herumgedreht wurde. Das Mädchen war verzweifelt, wollte den Schlüssel nicht zeigen, wollte ihn verstecken, doch Tasso fand den Schlüssel immer. Er tobte:
"Das ist also der Dank für meine Liebe! Du hast mich verraten, du hast mich belogen und betrogen, du hast die Burg entzaubert. Deshalb mußt du sterben."
Das Mädchen flehte um Vergebung, bettelte, weinte, doch es half nichts, Tasso zerrte das Mädchen mit sich und brachte es in einer eigens dafür hergerichteten Kammer um. Er genoß es, Menschen zu töten, ohne dafür bestraft werden zu können. Tasso war tot, war nur noch ein Geist, niemand konnte ihn finden, niemand konnte die Burg finden, wenn er es nicht zuließ, und niemand konnte die toten Mädchen finden. Jeder gemordete Leib löste sich auf in türkisfarbenem Nebel und färbte den Schlüssel wieder so türkis, wie er gewesen war, ehe das Mädchen die Tür aufgeschlossen hatte, und so gab Tasso ihn an das nächste Mädchen weiter, das er zu sich in die Schaumburg holte.
Von diesen Vorfällen sollten Tassos frühere Zechkumpane durch eines der Gespenster erfahren haben, die in der Schaumburg bedienten. Das Gespenst sollte sich in Menschengestalt in einem Nachtlokal gezeigt haben.
Hytania ging die Schauergeschichte durch den Sinn, als im Fernsehen von acht verschwundenen Mädchen die Rede war.
"Du willst die Schaumburg finden", dachte Hytania, "vielleicht sind die Mädchen wirklich dort ums Leben gekommen."
Sie schaute sich um in den Bistros der Region. Viele kannten sie dort und konnten ihr schon bald ein achtzehnjähriges Mädchen vorstellen, das lange blondierte Haare trug. Das Mädchen hieß Alannia.
"Wir gehen die Schaumburg suchen", schlug Hytania ihr vor. "Keiner hat sie bisher gefunden, wenn er sie gesucht hat, aber du gehörst du denen, die sie wohl finden können."
Alannia war abenteuerlustig und ließ sich von Hytania deren Plan erklären. Mit dem Androiden im Kofferraum fuhr Alannia an einem schönen Nachmittag im wilden Wald herum. Wie von Zauberhand geleitet kam sie auf einen Weg, der sie gerade zu der türkisfarbenen Burg führte, die geheimnisvoll zwischen den hohen Bäumen hervorleuchtete. Der schimmernd gekleidete Adlige trat aus dem weiten Burgtor und verneigte sich vor ihr. Sie durfte ihr Auto in einer Remise parken.
Alannia war so angetan von Tassos galanten Manieren und seiner feinen Höflichkeit, daß sie sich gleich in ihn verliebte. Sie ließ Hytania in der Nacht aus dem Kofferraum und wisperte ihr zu, sie könne sich nicht vorstellen, daß Tasso zu schlimmen Taten fähig wäre.
Hytania schlich in eine Abseite und lud an einer Steckdose ihren Akku auf. Sie wartete mit der Geduld einer Maschine auf das, was geschehen würde.
Zu Selius hatte Hytania gesagt, sie sei wegen dringender Geschäfte abwesend und müsse ihr Handy ausschalten. Er solle sich keine Sorgen um sie machen.
Tasso verhielt sich, wie man es sich erzählte. Er legte Alannia seinen Reichtum zu Füßen und gab ihr den Schlüssel zu seiner Burg, verbot ihr aber, das Tor aufzuschließen. Als er fort war, angeblich um die Hochzeit vorzubereiten, schaute Alannia sich in der Burg um. Sie wollte sich an Tassos Verbot halten, fühlte aber am dritten Tag ein übermächtiges Verlangen, das Tor zu öffnen. Immerzu mußte sie daran denken, gerade weil es ihr verboten war. Sie sagte sich endlich, Tasso werde es doch nicht merken, und drehte den Schlüssel im Schloß herum. Da sah sie, wie der türkisfarbene Glanz des Schlüssels erlosch, und ihr fiel ihr Hytanias Warnung ein, die sie im Rausch der Verliebtheit vergessen hatte:
"Wenn du den Schlüssel im Schloß drehst, verliert er seinen türkisfarbenen Glanz, und Tasso wird dich umbringen, wenn er entdeckt, daß du sein Verbot übertreten hast."
"Tasso ist immer so aufmerksam und freundlich zu mir, mich wird er bestimmt nicht umbringen", beruhigte Alannia sich selbst. "Mich liebt er wirklich."
Doch als Tasso zurückkam und an dem veränderten Schlüssel erkannte, daß sie das Tor aufgeschlossen hatte, schrie er:
"Du bist wie alle anderen, du hast mich verraten, du verdienst nichts anderes als den Tod. Keine auf dieser Erde ist meiner Liebe wert, sie alle belügen und betrügen mich nur."
Er wollte Alannia in die Mordkammer schleifen, da trat Hytania aus der Abseite und ergriff den auf dem Boden liegenden Schlüssel.
"Wer bist du denn?" fragte Tasso, außer Atem und in besinnungslosem Zorn.
"Ich bin nicht achtzehn", erwiderte Hytania, "und ich glaube, das kommt mir entgegen."
"Und was bist du dann?"
"Ein Android. Also nichts für dich."
Hytania stieß das Tor auf, das Tasso seit dem Hereinkommen noch nicht wieder abgeschlossen hatte. Alannia hatte sich erhoben und stand zitternd und ratlos da.
"Lauf, wenn du noch kannst!" rief Hytania. "Lauf um dein Leben!"
Alannia rannte in den Wald hinein.
Tasso schien sich nicht entscheiden zu können, ob er zuerst Alannia verfolgen oder zuerst Hytania zerstören sollte. So bekam Alannia einen Vorsprung und verschwand zwischen den Bäumen.
Tasso erwachte aus seiner Erstarrung. Er wollte Hytania mit einer Eisenstange den Kopf zerschmettern, doch sie sprang wie von Stahlfedern getragen zur Seite; er konnte sie nicht treffen.
" Du bist ein Monster!" schrie er.
"Ein Monster bist eher du", erwiderte Hytania.
"Mit der Kettensäge werde ich dich zersägen, mit dem Maschinengewehr zersieben ...", drohte Tasso.
"Und wenn du deinen Schlüssel nicht mehr hast, was dann?" fragte Hytania.
Mit der Kraft ihrer industriell gefertigten Hände brach sie den Schlüssel in der Mitte durch.
Tasso erbleichte, taumelte, stürzte zu Boden. Hytania kniete neben ihm und beugte sich über ihn. Sie griff nach seinen Schultern, blickte ihm ins Gesicht, wollte ihn streicheln, ihn ins Leben zurückbringen, doch unter ihren Händen zerfiel Tasso zu Staub. Hytania fühlte, wie ihr Körper sich erwärmte und ihr Herz schlug; sie war ein Mensch geworden, und vor ihr lag, als ein Häufchen Staub, der Schrecken von Schaumburg.
Kurz danach fiel die ganze Schaumburg in sich zusammen und löste sich in türkisfarbenem Nebel auf. Wo sie gestanden hatte, machte Hytania eine Markierung und steckte den Weg, der aus dem Wald führte, mit feinen Stöckchen ab, so daß die Stelle wiedergefunden werden konnte. Die Polizei entdeckte dort auf dem Waldboden die Reste von acht Skeletten.
Hytania bat Selius, ihr zu verzeihen, daß sie ihn nicht heiratete. Sie liebte Tasso mit aller Leidenschaft, der eine Menschenseele fähig ist.
"Das ist der Preis dafür, daß ich ein Mensch geworden bin", deutete Hytania. "Ich liebe einen Toten, einen Menschen, der schon im Leben tot war, der nie wirklich gelebt hat. Ich trage jetzt das Leben in mir, das Tasso nie haben wollte."

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