Irrlicht



Tu es nicht,
auch nicht bei Licht.
Das ist mein Gedicht.

Irr dich nicht,
mein kleines Licht.
Das ist mein Gedicht.

(Delia 2009)



Denise war ein Irrlicht ... besser: in ihr war ein Irrlicht, das sich von Zeit zu Zeit bemerkbar machte, und meistens dann, wenn es störte. Keiner konnte Denise sagen, woher das Irrlicht kam und wie man es loswurde. Was es aber tat, wußten alle, die sie kannten: wenn Denise etwas nicht recht war, wollte sie die Welt in Stücke sprengen, es gab kein Halten mehr. Besonders arg wurde es, als Denise eine Katze haben wollte und niemand glaubte, daß es ihr gelingen würde, das Tier regelmäßig zu versorgen. Denise warf Spielsachen aus dem Fenster und sich selbst auf ihr Bett mit der neuen rosafarbenen Prinzessinnen-Bettwäsche.
"Eine Katze! Eine Katze! Eine Katze will ich!" schrie sie und war nicht zu bremsen.
Eigentlich wußte sie, daß sie erst recht keine Katze bekommen würde, wenn sie so unartig war.
"Das Irrlicht muß weg", entschied sie. "Aber wohin damit?"
Sie wollte das Irrlicht in den Kanal werfen, aber das tanzte nur auf den Wellen und flog zu ihr zurück.
Sie wollte das Irrlicht in einen Schafstall bringen, doch die Schafe begannen zu blöken:
"Nää! Nää!"
Sie wollte das Irrlicht in einen Gartenschuppen sperren, aber es entwischte durch ein Loch in der Bretterwand.
Sie brachte das Irrlicht in eine Kirche, doch der hölzerne Christus am Kreuz winkte ab:
"Hier ist kein guter Platz für ein Irrlicht. Es stört beim Gottesdienst."
Endlich ging Denise mit dem Irrlicht zu einem alten Wasserturm. Die Tür mit der rostigen Klinke ließ sich öffnen. Denise brachte das Irrlicht hinauf zu dem leeren Behälter und verprach:
"In dem Behälter sind noch viele andere Irrlichter, du mußt nur nachschauen."
Dann lief sie, was sie konnte, die Treppen hinunter, warf mit all ihren Kräften die schwere eiserne Tür zu und stemmte eine Holzlatte von außen dagegen. Müde ging sie davon. Sie wollte kaum glauben, was sie hinter sich hörte:
"Denise, laß' mich nicht allein! Laß' mich nicht im Stich! Ich bin es doch, dein Irrlicht! Ich gehöre doch zu dir! Verlaß' mich nicht!"
Denise hatte ein mitleidiges Herz. Sie wußte, sie konnte es nie überwinden, wenn sie das jämmerlich schreiende und klagende Irrlicht in dem Wasserturm allein ließ. Sie würde immer daran denken müssen, wie es langsam dahinsiechte ohne ihre Fürsorge und ihre Gesellschaft.
"Du mußt artig sein!" rief Denise. "Ich kann dich sonst nicht herauslassen!"
"Ich will immer artig sein!" rief das Irrlicht.
"Und wenn du das nur sagst, damit ich dich befreie?"
"Du mußt mir glauben!" weinte das Irrlicht. "Ich kann es dir doch nur beweisen, wenn du mich 'rausläßt."
"Na ja ...", sagte Denise zweifelnd. "Ich bringe es sowieso nicht über mich, dich in dem Turm zu lassen."
"Wenn du mich freiläßt, wirst du es nicht bereuen."
Da gab Denise nach und zog die eiserne Tür auf.
"Husch!" machte es.
Das Irrlicht sauste um Denise herum, wurde weiß, wurde schwarz - und bekam vier Beine, spitze Ohren und ein seidiges Fell.
"Du hast mich erlöst", maunzte das Irrlicht.
Denise nahm das Kätzchen auf den Arm und sagte:
"Irrlicht, so sollst du heißen. Ich werde immer für dich sorgen. Ich muß daheim nur aushandeln, daß ich eine, eine, eine einzige Chance kriege, zu beweisen, daß in mir kein Irrlicht mehr ist."

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