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Am Freitag waren wir in "Halle 1". Dort ist die Tanzfläche jetzt mit weißen Schleiern umrahmt. Rikka und ich tanzten zu "Kingdom come" von Will. Als es zuende war, lief Rafa dicht an mir vorbei. Er warf mir einen kurzen Blick zu und lächelte ein wenig. Er war in Dolfs Begleitung. Die beiden tanzten neben Rikka und mir. Ich sah Rafa schräg von vorne. Er trug ein schwarzes Tuch als Stirnband und einen Pferdeschwanz. Er hatte seinen schwarzen Uniformmantel an. Nach dem Stück lief Rafa eilig fort und mit ihm Dolf.
Die Sängerin hielt sich in der Nähe der Bühne auf, wo sich das DJ-Pult befindet. Carl beobachtete, daß sie mit Rafa sprach. Später stieg Rafa auf die Bühne zu Kappa und stand dort eine Weile reglos, weit vorne. Hinter ihm brannte eine Stehlampe vom Sperrmüll. Weil er so weit fort war und im Gegenlicht stand, konnte ich nicht erkennen, ob er mich ansah. Doch er hat mich schon häufiger aus der Ferne angeblickt.
Schließlich nahm Rafa in der linken Ecke der Bühne auf einem Stuhl Platz. Ich konnte nun sein Gesicht sehen. Rafa sah mich wirklich an, über die Tanzfläche hinweg. Er sah mich lange ruhig und unbewegt an. Als Kappa aus Versehen eine Platte auf 45 rpm abspielte, sprang Rafa nach den ersten Takten von seinem Stuhl auf und stellte 33 rpm ein. Dann setzte er sich wieder und fuhr fort, mich anzusehen. Diese Wachsamkeit kenne ich schon von Rafa. Er ist mit allen Sinnen aufnahmebereit. Ihm entgeht fast nichts. Allerdings behauptet er gern, dieses und jenes nicht gemerkt, nicht gewußt, vergessen oder verlegt zu haben - wenn er sich dadurch einer unangenehmen Verantwortung entziehen kann.
Kappa spielte in "Halle 1" einen Klassiker der Electronic Body Music, "Warte, bis es dunkel ist" von Klangwerk alias Thorsten Fenslau selig. Ich freute mich, nach fast vier Jahren wieder dazu tanzen zu können. Rafa war zu dieser Zeit schon nicht mehr da. Auch Dolf und die Sängerin sah ich nicht mehr. Ich nahm an, daß Rafa mit ihnen gefahren ist. Ich gehe davon aus, daß Rafa sein Verhältnis mit der Sängerin fortsetzen wird.

In einem Traum kam ich mit einer fremden Begleiterin in einen Garten. Auf einer sonnigen, leicht abschüssigen Wiese standen lauter Bäume. Sie trugen alle die gleichen weißen Blüten mit einem Lilastich an den Rändern. Die Blüten wollte ich essen, doch man mußte sie zuerst ernten, und das sehr vorsichtig, um sie nicht zu zerstören. Das fremde Mädchen kannte den Griff, mit dem man die Blüten abbrechen mußte. Es brach einige und half mir auch, welche zu brechen, und es tat alle in einen Korb. Dann trug es sie weg, denn sie sollten zubereitet werden. Ich blieb für eine Weile allein unter den Bäumen. Die Blüten lockten mich sehr. Ich legte meine Hand um eine und zog. Ich versuchte den Griff, den das Mädchen mir gezeigt hatte. Die Bienen um mich herum wurden zahlreicher. Sie flogen wilder und summten lauter. Ich ließ mich aber nicht irremachen. Schließlich kam eine Biene aus der Blüte hervorgeschossen, die ich in der Hand hielt. Die Biene flog mir an den Hals und summte dröhnend laut. Mit einem Schreckensruf wachte ich auf.

So gefährlich ist sie also noch, die Sängerin. Immer noch will sie verhindern, daß ich mir von Rafa nehme, was ich haben möchte. Nur Rafa selbst kann sie im Zaume halten. Er könnte die fremde Begleiterin gewesen sein, die mir die Griffe gezeigt hat. Erst, als die ging und ich es allein versuchen wollte, griffen die Bienen mich an. Die Eifersüchtigen wagen sich nur hervor, wenn Rafa mich nicht schützt.
Es gibt einen weiteren Sampler in der Serie, in der auch "Ganz in Weiß" erschienen ist. Auf dem Foto im Booklet zeigt Rafa sich wieder mit Dolf und der Sängerin. Die beiden sitzen vor Rafa. Alle tragen Sonnenbrillen.
Mitte März war ich mit Ted im "Fall". Dort gab mir Mal einen Flyer, auf dem eine Industrial-Tanznacht in HH. angekündigt wird, die "Klangwerk" heißt. Mal hat vor, den Tape-Sektor hinter sich zu lassen und in Zukunft CD's zu veröffentlichen.
Im "Fall" gab es ein Industrial-Festival, und die Performance war zum Teil recht seltsam; unter anderem wurde ein Teddybär aufgeschlitzt, und zwei Leute droschen mit Eisenstangen auf einen braunen Klappstuhl ein, bis er ganz verbogen war. Dann setzte einer von den Leuten sich auf den Stuhl und machte auch gleich eine Rutschfahrt auf den Boden.
Ted kommt nicht damit zurecht, daß Marvin eine Freundin hat. Prüfend griff Ted sich Marvins Bein, um, wie er sagte, dessen neue Schuhe genauer zu betrachten.
Tags darauf habe ich Folgendes geträumt:

Ich war in einem hellen, leeren Raum, der zur "Halle" gehörte, jedoch etwas abseits lag. Die Sängerin war mir dorthin gefolgt. Sie stellte sich ganz in meine Nähe. Wo auch immer ich sonst hinging, stets hielt sie sich dicht bei mir. Als ich schon eine Weile ruhig dagestanden hatte, sprang die Sängerin mich von vorne an und riß mich zu Boden. Sie kniete auf mir und schlug, kratzte und quetschte mich, so daß ich gezwungen war, mich zur Wehr zu setzen. Dabei wachte ich auf.

In einem anderen Traum sah ich ein tiefes steinernes Wasserbecken. Es war hell und leer, man sah bis auf den Grund. An einer Stelle war das Mauerwerk schadhaft. Es konnte leicht ausgebessert werden, da das Wasser nicht den Weg und die Sicht versperrte.

Es war einfach, der "Sache auf den Grund zu gehen" und Schäden zu beheben. Das ist nicht immer so gewesen. In einem Traum vor acht Jahren, als ich Rafa noch nicht kannte, stellte sich das Wasserbecken anders dar:

Der Froschmann
Am Nordeestrand war das Ufer mit großen Betonplatten befestigt. Constri und ich kletterten darauf entlang, und wir hatten Sorge, abzurutschen. Dann kamen wir auf einen breiten Sandstrand. Ein Mädchen mit langen, toupierten blonden Haaren lief uns entgegen. Es hatte sich geschminkt und trug ein Minikleid. Zu dritt gingen wir durch das knietiefe Wasser.
"Clara!" rief die Erzieherin des Mädchens vom Strand her. "Clara!"
Ohne Widerstand, mit einer entschuldigenden Geste kehrte Clara um und ging mit der Erzieherin fort.
In der nächsten Ortschaft entdeckten Constri und ich zwischen den Mauern alter Backsteinhäuser ein viereckiges Wasserloch, mit schwarzem Wasser gefüllt. Das Becken hatte Stufen, die kurz unterhalb des Wasserspiegels endeten. An einer der Mauern, die das Becken eingrenzten und von Wasser umspült wurden, stand auf einem Emailleschild:
"Baden für Jungen und Männer verboten."
"Die Wachleute können nur Mädchen aus dem Wasser heben", erklärten uns Leute, die vorbeikamen, das Schild. "Jungen sind zu schwer."
Constri und ich legten unsere dünnen seidenen Kleidchen ab, die wir über unseren Badesachen trugen, und stiegen in das Becken. Ich vermied es, beim Schwimmen nach unten zu sehen. Als wir wieder aus dem Becken geklettert waren, erschien ein Froschmann im schwarzen Taucheranzug. Er war ein Diensttaucher, und ihm war es erlaubt, in dem Becken zu schwimmen. Er sprang kopfüber hinein. Vom Grund holte er eine bemalte Kugel herauf und gab sie der Erzieherin, Clara und einem kleinen Mädchen und dessen Mutter. Das kleine Mädchen hatte die Kugel auf einem Flohmarkt entdeckt. Man konnte die Kugel aufdrehen und etwas hineintun. Die Mutter ließ das Mädchen gern allein über den Flohmarkt gehen, weil es einen Blick für das Wertvolle und Seltene besaß. Auch Claras Ketten und Ohrringe hatte das Mädchen auf dem Flohmarkt gefunden. Clara hatte die bemalte Kugel aus Versehen in das Wasserbecken fallen lassen, so daß der Froschmann sie wieder heraufholen mußte.

Constri und ich waren Ende März bei unserer Freundin Jutta zum Kaffeekränzchen. Sie macht Bauchtanz und näht sich ihre Kostüme selbst. Passend zu ihren rotgoldenen Haaren hält sie ihre Kostüme in glühenden Rottönen und weichen Grüntönen. Sie bestickt die feinen Stoffe mit Perlen und Pailletten.
"Du machst das Gegenteil von dem, was die orientalischen Frauen machen", sagte sie zu mir. "Die verhüllen sich vollkommen, stehen den Männern aber bereitwillig zur Verfügung. Du zeigst viel, bist aber nicht verfügbar."

In einem Traum waren Rafa und ich im Haus meiner Mutter. Rafa sagte etwas wie:
"... damit der Bengel rechtzeitig ins Bett kommt."

Es konnte sein, daß Rafa mit seinem Sohn da war und daß das unser gemeinsames Kind war.
Am Samstag sah ich Rafa nicht im "Elizium". Dolf unterhielt sich vorwiegend mit Sanna. Die Sängerin saß wieder mit Talon auf dem Podest. Lena sagte mir, Xentrix habe die Musik geändert, als ich gekommen sei. Er brachte viel Industrial - auch "With which strokes are given" von Omala und "Kleppen-Spoeling" von De Fabriek - und außerdem "Deiche" von den Sex Gang Children.
Mal war mit Alanna und Ivo Fechtner im "Elizium". Mal und ich tanzten häufig. Xentrix hatte von Mal nur ein Stück da, "Gebärmutter", das unter "Notstandskomitee" entstanden ist. Er bat Mal, eine CD mitzubringen.
Xentrix erschauerte bei dem Gedanken an die nächste gemeinsame Veranstaltung mit Kappa. Kappa war im "Elizium", ich sah ihn aber nicht bei Xentrix. Luie vertrat Xentrix für kurze Zeit. Die beiden verstehen sich gut.
Im Nachhinein erzählte mir Derek, daß Rafa auch im "Elizium" war, daß er jedoch ging, kurz bevor ich kam, etwa gegen ein Uhr. Rafa soll die meiste Zeit an der Theke gesessen haben und sich nacheinander mit drei Mädchen unterhalten haben, ausschließlich über Musik. Er soll der Sängerin eine Schachtel Zigaretten wortlos auf den Tisch geknallt haben.
Rafa soll im "Elizium" böse gestolpert sein. Er stieß mit seinen spitzen Schuhen an die spitzen Schuhe von Derek, der an der Wand lehnte. Es fehlte nicht viel, und Rafa wäre hingefallen. Als er sich wieder im Gleichgewicht hatte, soll er sehr erschrocken gewirkt haben.

In einem Traum gab Rafa mir einen Flyer für eines seiner Konzerte, einen besonders schönen mit Stempel.

In einem weiteren Traum war ich ein Ritterfräulein. Ritter standen vor der Burg, allen voran ein junger mit seinem älteren Begleiter. Sie versuchten, in die Burg zu gelangen. Von einer Zinne aus beobachtete ich sie.




Am Freitag sah ich Rafa in der "Halle" auf dem Bühnenpodest herumlaufen. Er hielt sich längere Zeit in der Ecke auf, wo wir gewöhnlich sind. Er redete mit Dolf und sah dabei sehr "wichtig" aus. Rafa hatte die Weste mit dem roten Rücken an und das weiße Hemd mit den großen Spitzenmanschetten. Sein Haar war mit einer schwarzen Schleife zusammengebunden. Rafa unterhielt sich auch lange mit Lillien und noch anderen Mädchen. Er stand dabei nur wenige Schritte von mir entfernt. Ich ging auf die Tanzfläche und danach ins Bad, um mich nachzuschminken. Die Sängerin kam mit einem anderen Mädchen an dem Spiegel vorbei, wo ich stand. Sie tat mir nichts.
Rafa vertrat Kappa für eine Weile am DJ-Pult. Dann war er längere Zeit verschwunden. Kappa rief durchs Mikrophon immer wieder nach Rafa. Der kam schließlich mit dem Mädchen, das sein Haar geflochten trägt, aus einer verglasten Bar namens "Crystal Palace" wieder zum Vorschein. Er stellte sich ans Pult. Ich schaute ihn an und er mich, aus weiter Ferne. Ich war mir fast sicher, daß Rafa schon wieder Annäherungsversuche bei mehreren Mädchen unternommen hatte.
Über der Tanzfläche hängt ein Stern aus mehreren Stahlarmen, an denen Scheinwerfer befestigt sind. Der Stern war weit heruntergefahren worden. Mehrere Monde hingen daran. Brinkus und ich spielten damit und schleuderten sie uns gegenseitig an die Köpfe. Als mir ein Mond herunterfiel, gab ich ihn einem Jungen, der gerade vorbeikam.
Brinkus war länger als wir in der "Halle" und hat beobachtet, daß Dolf und die Sängerin alleine fortgegangen sind, ohne Rafa mitzunehmen. Das kann auch heißen, daß Rafa bei irgendeinem anderen Mädchen übernachtet hat.
Constri ist Rafa schon vor etwa zwei Jahren aufgefallen, als ich ihn noch gar nicht kannte.
"Er war damals einer der Wenigen, die sich richtig aufwendig zurechtgemacht haben, mit viel Schwarz und hochgestellten Haaren. Soweit ich mich erinnern kann, war er immer von Mädchen umgeben, aber nicht zwei oder drei, sondern acht bis zehn."



Am Samstag waren wir im "Elizium". Ich sah die Sängern auf dem Podest sitzen und Dolf beim DJ. Als ich zum Bad wollte und die Schwingtür öffnete, die in den Vorraum des "Elizium" führt, kam Rafa mir entgegen. Einen Arm hatte er etwas erhoben. Ich nahm seine Spitzenmanschette zwischen zwei Finger, streichelte sie und sagte:
"Hi."
Rafa erwiderte den Gruß:
"Morgen."
Ich setzte meinen Weg fort. Während ich im Bad war, soll Rafa mehrmals den Bereich durchquert haben, wo ich mich meistens aufhalte; als ich aber zurückkam, vermied er es, dorthin zu gehen. Rafa grüßte Carl. Constri und Carl beobachteten, daß Rafa sich viel mit der Sängerin unterhielt. Ich ging davon aus, daß er wieder mit ihr zusammen war.
Als ich einmal am Fuß der Treppe stand, kam Rafa vom DJ-Pult herunter und an mir vorbei, eine CD in der Hand. Es schien erst, als wollte er sich gar nicht zu mir umdrehen, doch dann, als er mir ganz nahe war, sah er mich an mit einem bittenden, beschwörenden Blick. Er blieb jedoch nicht stehen. Dolf ging hinter ihm, und ich hatte den Eindruck, daß Rafa sich davor fürchtete, daß Dolf mitbekam, wie Rafa und ich uns austauschten. Rafa verließ das "Elizium" wieder sehr früh, noch vor zwei Uhr, und mit ihm gingen Dolf und die Sängerin.
Brinkus blieb länger im "Elizium" als wir und hat beobachtet, daß Dolf und die Sängerin noch einmal auftauchten und das "Elizium" ohne Rafa verließen. Gegen fünf Uhr früh kam Rafa durch die Stahltür wieder zum Vorschein, die sich gegenüber der Treppe zur Galerie befindet und hinter der es in ein höheres Stockwerk geht, das Gäste nicht betreten dürfen. Rafa kam in den Tanzraum mit rotem Kopf, wutentbrannt. Er warf die Stahltür hinter sich ins Schloß und ging zu einem blonden Mädchen. Mit diesem Mädchen hatte er einen heftigen Streit.
Ich erzählte Carl von Rafas hilflosen, Unschuld beteuernden, bittend-beschwörenden Telleraugen. "Tellermiene" sagte Carl dazu.

In einem Traum sahen zwei Männer sich schweigend an, so wie Rafa und ich uns im "Elizium" angesehen haben. Der eine griff dem anderen ins Gesicht und verstümmelte es auf grausame Weise. Der Verletzte blieb still und zeigte sich unbewegt. Dann streckte er seine Hand aus und berührte mehrere rote und blaue Markierungen an Kopf und Schultern des Angreifers, und jener schrie wild auf, obwohl er nur berührt worden war.

So klagte Rafa, als ich ihn umarmte und streichelte. Und so wie der Angegriffene im Traum werde ich von Rafa verletzt, indem er mir seine Frauengeschichten vorführt.
Die roten und blauen Markierungen ähnelten den Markierungen auf dem Ziffernblatt von Rafas Uhr, die für ihn so wertvoll ist. Wenn ich ihn streichle, scheint es ihm ans Innerste zu gehen.

In einem Traum wollte Rafa gemeinsam mit meinem Vater in der "Halle" auftreten. Es gab Schwierigkeiten mit der Technik, als das Konzert begann. Mein Vater fühlte sich dadurch schnell entmutigt und überfordert. Er setzte sich in einen Winkel und weinte. Ich lief zu ihm.
"Ich mach' das nicht mehr!" rief er. "Ich mach' das nicht mehr!"
"Die Geburtstagsfeier, die du für mich gegeben hast, war so schön, im kleinen Kreis", sagte ich zu ihm. "Eine große Gesellschaft ist doch nichts für dich. Rafa ist stärker als du, doch genauso verletzlich."
"Das habe ich schon gemerkt, als ich mit ihm geredet habe."
"Rafa bricht nicht so leicht zusammen wie du, doch wenn er zusammenbricht, wird es viel schlimmer als bei dir, viel, viel schlimmer."
Als ich wieder zur Bühne kam, war dort alles abgeräumt. Rafa hatte dafür gesorgt, daß nicht mehr zu ahnen war, daß es ein Konzert hatte geben sollen.

In einem anderen Traum war ich mit drei Jungen unterwegs. Eine von ihnen war Rafa. In der Nacht suchten wir etwas. Auf einem verwilderten Grundstück entfernte Rafa sich von uns. Als ich um ein verfallenes Gemäuer herumging, fand ich Rafa; er saß in einer Nische und schlief. Man konnte ihn kaum sehen, denn er war umgeben von Grün. Das Unkraut stand hoch, und das alte Haus war überwachsen mit Ranken, die weit herunterhingen. Das Dach schützte Rafa vor dem beginnenden Regen. Zuerst wollte ich Rafa nicht wecken und ging weiter, doch dann dachte ich, daß es für ihn zu kalt werden könnte, und ich kehrte um. Ich setzte mich auf ihn und umarmte und streichelte ihn, bis er wach wurde. Er folgte mir dankbar und ergeben. Ich war erleichtert darüber, ihn geweckt zu haben. Wir trafen die beiden anderen Jungen wieder und setzten unsere Suche fort.

Im Radio kam das Titelstück von Rafas neuem Album. Rafa hat seine Stimme darin weit heruntergeregelt. Der Moderator meinte denn auch, ein wenig mehr Studioarbeit hätte Rafa gutgetan, "milde ausgedrückt".
Dasselbe sagte er auch über Kappas neues Stück und seufzte dann:
"Doch wahrscheinlich entwickeln sich die Stücke so oder so zu Szenehits."

In einem Traum waren Rafa und ich in einem Audienzsaal des Papstes. Alles war gehalten in Stil der Renaissance. Der Papst sagte zu uns, er könne uns nichts geben, wir müßten für uns selbst sorgen. Rafa und ich waren in dem Traum schon verheiratet.

Derek wohnt inzwischen bei Constri und stört sie, wenn sie mit mir telefoniert. Er wirft mir aus dem Hintergrund Sprüche an den Kopf, und ich habe zurückgeworfen:
"Es gibt zwei Zustände, in denen Derek sich befinden kann - entweder ist er dicht, oder er ist nicht ganz dicht."
Anfang April ging Derek ohne Constri und mich ins "Elizium", weil wir in der Osternacht bei unserer Mutter waren, um morgens mit ihr zu frühstücken und im Garten Eier zu suchen. Im "Elizium" soll kaum etwas losgewesen sein. Rafa soll mit der Sängerin, Kappa und Genna gekommen sein. Hinterm DJ-Pult sollen sie mit einer Flasche Sekt das Osterfest gefeiert haben. Allein soll Rafa dann durchs "Elizium" gelaufen sein, und er soll mit vielen Leuten geredet haben. Schon nach einer halben Stunde soll die Gesellschaft wieder abgerückt sein.
Ich bin mir sicher, daß Rafa wieder mit der Sängerin zusammen ist.

In der Osternacht habe ich von einem großen, tiefen Wasser geträumt, über dem ein Gewitter tobte. Das Wasser war kalt und trübe. Rafa und ich waren dort hineingeraten. Ein Mann erschien, sitzend auf einer Buhne, die schwebte wie ein Geisterbild über dem Wasser. Er sagte mir, er könne nicht helfen; ich müßte Rafa und mich aus eigener Kraft in Sicherheit bringen. Ich fand überdachte Boote auf dem Wasser. Ich zog eines heran und setzte Rafa hinein. Ich hielt das Boot fest und setzte mich in ein anderes. Ein Windstoß schleuderte mich ins Wasser zurück. Etwas wollte mich in die Tiefe reißen wie Bleigewichte, doch ich widerstand.

In einem Traum wirkte Rafa sehr aufgewühlt. Verloren geglaubte Empfindungen überwältigten ihn. Ich wollte, daß er sich an immer mehr erinnerte.

Mitte April kam ich zu "Klangwerk" nach HH. Der Raum war mit schwarzer Folie verhängt und flackerte im Stroboskoplicht. Noch nie habe ich so viel Industrial auf einmal zu hören bekommen. Es liefen vor allem Raritäten wie "Comisario de la luz I" von Esplendor Geometrico und "Dark side of the life" von Dissecting Table und viele andere. Ich wollte eigentlich den Nachtzug nehmen, aber Mal bat mich, noch bis zum Schluß zu bleiben, und ich bereute das nicht. Es war nicht sehr voll, aber es wurde getanzt, und das war mir wichtig. Ich kam aus dem Tanzen gar nicht mehr heraus, und ein Gast namens Leon sagte zu seinem Freund:
"Sie zieht uns die Energie weg. Wir werden immer schlaffer und sie immer munterer."
Leon trägt Lack und wünscht sich mehr Selbstsicherheit. Über mich sagte er:
"Du kannst mit wenig Kleidung viel Eindruck machen."
Ivo Fechtner blieb nicht lange. Ich klärte Alanna darüber auf, daß ich keineswegs mit Ivo Fechtner zusammengewesen sei; dies hatte sie bis dato geglaubt. Alanna fragte nach den neuesten Entwicklungen im "Elizium". Sie hatte von ihrer Freundin May gehört, daß die Leute aus SHG. kaum noch ins "Ellzium" kommen sollen.
Frühmorgens gab es Tee bei Mal und Alanna. Ein neues Regal stand in Ytongs Zimmer, das dieser kunstvoll aus Altmetall zusammengeschweißt hatte.

In einem Traum habe ich Rafas Uhr an meinem Handgelenk gefühlt. Ich tastete nach seinem Arm.

In einem weiteren Traum geschah noch sehr viel mehr zwischen Rafa und mir. Ich war deshalb sehr erleichtert; es beunruhigt mich nur, das ich nicht mehr weiß, was eigentlich geschah.

Merle berichtete, daß Rafa samstags auf einer Depeche Mode-Party in der "Halle" gewesen sei, während ich im "Elizium" war. Rafa stand meistens am Pult bei Kappa. Die Sängerin war nicht zu sehen.

In einem Traum war ich mit Constri auf einer Veranstaltung, und danach ließen wir uns von Leon im Auto mitnehmen. Leon zeigte sich harmlos, nett und zuvorkommend, wie er mir von "Klangwerk" bekannt ist. In einem Gasthof machten wir unterwegs Rast. Es war ein baufälliges Haus an einer Landstraße, ein Familienbetrieb. Unten im Saal gab es Tanz. Der DJ legte Industrial auf, und wir trafen Bekannte aus unserer Szene. Leon begann sich zu verändern. Er führte lange Reden ohne Inhalt und biederte sich bei den Leuten an. Sein Bezug zur Wirklichkeit schien immer mehr zu schwinden, wie bei einem Geisteskranken. Als er mit Constri und mir in einem beheizten Pool saß, tunkte er mich, und nur mit Mühe bekam ich meinen Kopf wieder aus dem Wasser. Leon fand für sein seltsames und gefährliches Verhalten weitschweifige Erklärungen. Constri und ich zogen es vor, uns von ihm abzusondern. An einem Stand entdeckte ich Zeitschriften, die auf durchsichtigem Papier gedruckt waren. Ich kaufte eine, in der ein schönes Kleid abgebildet war sowie das dazugehörige Schnittmuster.
Leon hatte inzwischen keinen langen Pferdeschwanz mehr, sondern ein kurzes Fellchen. Er trug auch keinen Lackanzug mehr, sondern ein weißes T-Shirt und Jeans. Er hielt weiter seine Reden und schlurte schwankend durch die Gegend, mit steifen Beinen und stierem Blick. Ich ging mit Constri in einen Vorraum und besprach mich mit den Wirtsleuten. Die erschienen nicht allzu besorgt, versprachen aber, die Polizei zu rufen.
Im Saal hörte man Leon in seinem Wahn vor sich hinreden; er versuchte zu erläutern, weshalb man mich töten müsse. Er betrachtete mich als Gefahr, als unseligen Einfluß.
Es klingelte an der Haustür, und ich dachte schon, es sei die Polizei; es waren aber nur Paketboten, die mir ein großes Paket in den Arm legten. Sie verschwanden wieder, ohne mir zu helfen. Ich ging mit Constri ins Obergeschoß, wo die Großmutter der Familie wohnte. Ich hoffte, daß der Wahnsinnige mich dort nicht fand. In der Küche beratschlagten wir, was zu tun sei. Wir kamen überein, rasch zu fliehen. Eben wollten wir hinuntergehen, als lauter junge Leute aus dem Tanzsaal uns entgegenkamen. Ich befürchtete, daß sie aus Versehen den Irren mitlockten. Ich sah mich in der Küche um und fand schweres Werkzeug, langes Stahlwerkzeug mit Holzgriffen. Das Gerede des Wahnsinnigen wurde hörbar; er kam näher und näher und versperrte unseren Fluchtweg. Ich verteilte die Werkzeuge an die Leute in der Küche. Im Halbkreis standen wir da, Constri an meiner Seite, und warteten auf den Irren. Er kam, ein Messer in der Hand. Sein Messer und mein Hammer kreuzten sich wie die Degen beim Fechten. Ich vertauschte den Hammer mit einer langen, dünnen, am Ende scharf geschliffenen Feile, die länger war als das Messer, und rammte die Feile zwischen die Rippen des Irren, mehrmals, um auch das Herz zu treffen. Tot sackte er zu Boden. Ich hatte über zehn Zeugen für meine Notwehr.

Ich kann mir nicht so recht vorstellen, daß in Leon wirklich eine solche Geisteskrankheit lauert. Ich glaube vielmehr, daß Leon stellvertretend für andere Figuren auftritt, etwa den Sockenschuß, in dem ich früher, als ich ihn kennenlernte, auch keinen Wahnsinnigen vermutet hätte.
Eines Abends fuhr ich mit Merle in die Stadt. Sie wollte sich ins Wartehäuschen setzen, ich rief sie aber zurück, weil dort schon jemand saß - der Sockenschuß. Er drehte nur ein wenig den Kopf, sagte aber nichts und tat sonst auch nichts. Es war, als wenn ihn eine unsichtbare Hand zurückhielt. Dennoch jagte mir seine Anwesenheit einen gehörigen Schrecken ein.

In einem Traum saß Rafa vor mir. Ich konnte mit ihm umgehen wie mit einem Computer. Wenn ich seine Wange auf eine bestimmte Art berührte, öffnete sich ein Programm, und ich konnte darin arbeiten. Ich arbeitete in verschiedenen Dateien.

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Merle und ich kamen kurz vor Mitternacht in die "Halle". Wir nahmen an einem Tisch Platz. Ich stellte fest, daß Rafa oben bei Kappa war. "Love Missile" von Sigue Sigue Sputnik begann. Ich ging in die Mitte der Tanzfläche. Vor mir, doch einige Meter entfernt, tanzte Rafa mir gegenüber. Ich weiß nicht, ob er mehr zu mir oder ich mehr zu ihm kam; jedenfalls tanzten wir bald nah beieinander. Die Sängerin tanzte neben Rafa und Dolf neben mir. Es wunderte mich, daß die Sängerin mich nicht angriff. In dem Stück gibt es ruhige Stellen, an denen man denken könnte, es sei zuende; an einer solchen blieb ich stehen und sah Rafa ins Gesicht. Er trug seine Spiegelbrille, seine "Schutzbrille". Am Ende des Stücks verschwand Rafa.
Ich nahm meine Tasche und ging ins Bad. Ich stellte fest, daß die großen Damentoiletten abgesperrt waren und daß man die engeren Toiletten in der Bar "Crystal Palace" benutzen mußte. Das "Crystal Palace" gehört zu dem Bereich der Hall, in dem Rafa sich vorwiegend aufhält und den ich ungern betrete. Auf meinem Weg hinter dem Tresen am DJ-Pult kam Rafa durch den Engpaß, begleitet von mehreren Jungen. Rafa trug seine Sonnenbrille nicht mehr. Er unterhielt sich lächelnd und drehte mir den Rücken zu. Ich zog ihn im Vorbeigehen am Pferdeschwanz. Ich fasse so gern in dieses weiche Haar.
Vor dem Eingang zur Toilette rief U.W. nach mir. Er war mit Dolf im Gespräch. Ich begrüßte U.W., und wir wechselten einige Worte. Ich tat so, als sei Dolf gar nicht da. Als ich von der Toilette kam, war Rafa im "Crystal Palace". Er bemerkte mich und ging eilig hinaus, noch vor mir. Er wandte sich nach links, ich mich nach rechts.
Rafa machte sich längere Zeit unsichtbar. Zwischendurch erschien er auf dem DJ-Balkon. Er lächelte und blickte in meine Richtung, es war aber für mich nicht zu erkennen, ob das Lächeln mir galt.
Laut Ankündigung sollte in der "Halle" Wave und Industrial laufen; es lief aber Wave statt Industrial. Ich konnte nicht viel tanzen. Als ich einmal auf der Tanzfläche war, sah ich, wie Rafa auf dem Bühnenpodest den Arm um die Sängerin legte. Diese Geste wirkte wie eine Schau eigens für mich. Die Sängerin erwiderte Rafas Umarmung nicht und hielt sich auch sonst nicht bei Rafa auf; sie redete mit verschiedenen Leuten und tanzte häufig. Rafa hatte nur zu "Love Missile" getanzt und dann nicht mehr.
Ich glaube, Rafa wollte mir mit der Umarmung lediglich zeigen, daß er mit der Sängerin sein achtes Verhältnis hat.
Als ich ein zweites Mal durch das "Crystal Palace" zum Bad ging, sah ich Rafa vor mir hineingehen. Ich hatte die Toilettentür eben geschlossen, da hörte ich ein lautes Klappern von Absätzen und harte, schnelle Schritte. Die Tür der Kabine neben meiner wurde zugeknallt. Ich wußte, daß die Sängerin Pfennigabsätze trug, und ich kenne auch das Klappern dieser Absätze und den Gang der Sängerin. Sie hat zwar keine klimpernden Armreifen mehr um, doch das Klappern ist mir Warnung genug. Ich wartete, bis sie verschwand. Sie ging, ohne sich die Hände zu waschen.
Wenn die Sängerin mir in die Toilette folgt, bedeutet das in der Regel, daß sie mit Rafa zusammen ist und daß das Verhältnis brüchig wird.
Als ich zurückkam in "meinen" Bereich, war dort auch Rafa. Er unterhielt sich mit Lillien. Sie gehört zu den wenigen Leuten, mit denen wir alle beide reden, Rafa und ich. Rafa kann sie als Vorwand nutzen, wenn er in meine Nähe kommen will.
Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich machte einen Schritt in seine Richtung und zog ihn noch einmal am Pferdeschwanz. Dann setzte ich mich wieder zu Merle. Sie hatte Hunger. Ich gab ihr Geld für ein Baguette. Sie ging zum Stand, und ich steckte mein Portemonnaie in die Tasche zurück. Da schlich Rafa sehr nah an mir vorbei. Ich dachte daran, daß er auch eine andere Entfernung oder eine andere Richtung hätte aussuchen können.
Bald danach sah ich Rafa neben der Sängerin auf dem Bühnenpodest sitzen. Das währte jedoch nicht lange. Sie ging auf die Tanzfläche. Ein Junge setzte sich zu Rafa und sprach mit ihm. Ich betrachtete Rafa, der nicht mehr durch die Sängerin abgeschirmt war. Schließlich drehte er den Kopf und erwiderte meinen Blick. In sein Gesicht kam ein Lächeln. Dieses Lächeln zeigte Rafa auch, als ich ihn bei seinem Auftritt im Februar beobachtete. Es ist ein Lächeln wie ein Kopfschütteln. Es scheint zu sagen:
"Sieh' doch, du kriegst mich nicht! Ich bin so fies zu dir, wie ich kann, damit du mir das endlich glaubst. Wie bringst du es nur fertig, mich immer noch zu lieben?"
Nachdem Rafa zu mir herübergesehen hatte, stand er auf und ging mit seinem Bierglas fort. Die Sängerin setzte sich wieder an ihren Platz und redete mit anderen Leuten.
Gegen halb zwei erschien Rafa hinterm DJ-Pult und legte auf. Sooft ich in sein Gesicht sah, lächelte er und wippte im Takt der Musik. Er hielt sein Bierglas in der Hand und trank und rauchte. Er trug wieder die Spiegelbrille und pustete sich von Zeit zu Zeit eine Ponysträhne aus der Stirn. Rafa tat gutgelaunt. Er führte seine Unerreichbarkeit vor. Er war weit weg von mir, und er konnte mich gefahrlos ansehen und anlachen, solange er wollte. Keiner konnte feststellen, wen er eigentlich betrachtete, nicht zuletzt, weil seine Augen hinter spiegelndem Glas versteckt waren. Ich konnte vor allem an Rafas Verhalten ablesen, daß er meine Blicke wahrnahm und beantwortete.
Es wurde zwei Uhr. Kappa sagte durchs Mikrophon:
"Morgen machen wir Party in Dt. Wenn ihr Fahrgemeinschaften bilden wollt ... Rafa tut das."
Rafa möchte also eine Fahrgemeinschaft aufbauen, ohne einen Wagen zu haben ... vielleicht betrachet er gewissenmaßen den Wagen der Sängerin als sein Eigentum.
Ich wußte nach der Ansage, daß Rafa in der kommenden Nacht nicht im "Elizium" sein würde. Noch im letzten Winter war Rafa ein fester Bestandteil des "Elizium"; er lief dort geschäftig herum und hielt Hof. Heutzutage scheint er ohne Kappa keinen Schritt mehr tun zu können, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Vielleicht ist er unsicherer als je zuvor.
Es sieht so aus, als wenn Rafa bei Kappa hinterm Pult seine Zuflucht findet. Kappa hat ihn außerdem bei dem Label untergebracht, mit dem er selbst in Verbindung steht, und er sorgt dafür, daß Rafa regelmäßig in der "Halle" auftreten kann.
Merle wollte heim, und ich ging mit ihr fort. Sie erzählte mir, daß sie beobachtet hat, wie ich Rafa am Pferdeschwanz gezogen habe, als er sich mit Lillien unterhielt:
"Sah ich so, wie du vorbeigekommen bist, und auf einmal hast du gelächelt und bist zu ihm gegangen, und ich dachte, 'aha'. Und dann bist du ganz ungerührt weitergegangen, so 'ich war's nicht'. Und er sieht nach rechts und nach links und fragt:
'Wer war das?'
Ich muß sagen, wie ich euch so habe tanzen sehen, ihr seid schon ein geiles Paar."

In einem Traum war Rafa gestorben, und seither war ich gelähmt und verlor nach und nach mein Augenlicht. Ich hatte das Gefühl, daß ich auf dieser Welt nichts mehr zu suchen hatte.
Die Tage vergingen. Die Erinnerung an Rafa verblaßte, und mit ihr schwand meine Sehkraft. Nur dunkel und undeutlich sah ich den Sarg auf einem Anhänger stehen, geschmückt mit weißen Blumen. Er wurde zum Friedhof gebracht. Dorthin ließ auch ich mich fahren. Ich würde allein bei dem Sarg bleiben.

Eine Erinnerung kommt mir wieder, die Erinnerung an einen Gothic mit schwarz gefärbter Strahlenkranz-Frisur, behängt mit vielen Ketten, gekleidet mit einem weißen Rüschenhemd und einem wallenden schwarzen Talar, stämmig und mittelgroß. Er war vor zwei bis drei Jahren regelmäßg im "Elizium" und tanzte häufig, den "Gothic-Einheitsschritt", vor und zurück. Ich tanzte auch häufig mit ihm, unter anderem zu "Gottes Tod" von Das Ich. Ich fand ihn sehr anziehend und wünschte mir, ihn umarmen zu können. Er schien allerdings eine Freundin zu haben, denn es gab ein Mädchen, das er im "Elizium" küßte. Ich fühlte mich dadurch entmutigt. Auch sagte man mir damals, er sei sehr jung, etwa zwanzig, fünf Jahre jünger als ich.
Einmal entschuldigte sich "Strahlenkränzchen" nach dem Tanzen bei mir für ein Versehen:
"Jetzt hab' ich dir ganz schön auf den Fuß getreten."
Ich lächelte und sagte etwas wie:
"Ach, ist schon gut."
Ich schaffte es nicht, ein längeres Gespräch mit ihm zu beginnen, nicht zuletzt, weil ich mich unsicher fühlte.
Eines Tages sah ich ihn nicht mehr, hielt von da an jedoch immer nach ihm Ausschau. Ich kann mir Gesichter nicht gut merken, vor allem dann nicht, wenn sie geschminkt sind. Es ist also denkbar, daß "Strahlenkränzchen" auch weiterhin im "Elizium" war und ich ihn nur nicht erkannte.
Daß ich in ihn verliebt sein könnte, kam mir nicht in den Sinn, weil es mir zu abwegig erschien, daß jemand, der so jung war und eine Freundin hatte, für mich in Frage käme.
Ist "Strahlenkränzchen" ein Rätsel meiner Vergangenheit, um dessen Auflösung ich mich nicht zu kümmern brauche? Oder war es Rafa, der auf der Tanzfläche seinen Talar kaputtrat? Er muß früher sehr viel getanzt haben, sonst hätte er den Saum nicht so zerfetzen können ... Auch ich tanze viel und ich merke mir vor allem die Leute, die auf der Tanzfläche sind. Ein solcher war der Gothic mit dem Talar. Und ich kann mich an keinen erinnern, der so kräftig gebaut war wie er.
Carl hat Hennike in der Stadt getroffen. Sie meinte, Tessa würde von Rafa immer nur ausgenutzt werden:
"Sie finanziert ihm die Band."
Zwischen Rafa und der Sängerin sei schon mehrmals Schluß gewesen, das wußte auch Hennike.
Die Sängerin scheint von vielen Mädchen bewundert und von vielen Jungen begehrt zu werden.

In einem Traum versuchte Dolf sich als Filmemacher. Rafa wollte Bier haben. Und er wollte, daß ich Abstand zu ihm hielt.
"Ich bin ganz lieb", versprach Rafa. "Ich bin ganz brav."

Ende April war ich mit Constri und Derek im "Crucifiction". Ich tanzte zu "Nazis of the night" von Club Moral Antwerpen und anderen schrägen Stücken. Währenddessen waren Brinkus, Sator und U.W. in der "Halle". Rafa war dort; er soll sich nicht viel um die Sängerin gekümmert haben.
In der folgenden Nacht sah Carl Dolf und die Sängerin im "Elizium", ohne Rafa. Die Sängerin war meistens in der Nähe von Kappa. Gerrit hielt das Täschchen der Sängerin. Carl erzählte Gerrit, daß ich in HH. sei, um meine Cousine Lisa zu besuchen. Als Gerrit "HH." hörte, dachte er zuerst, ich sei bei Leon.
"Leon findet Hetty toll!" wußte Gerrit.
Leon soll meine Art, zu tanzen so sehr gefallen haben.
Gerrit konnte auch erzählen, daß Leon unter einem Decknamen jahrelang eine unserer bekanntesten Musikzeitschriften in der Szene mit Kleinanzeigen überflutet hat. Ich kann mich selbst noch erinnern, daß Monat für Monat mystisch-romantische Verslein in der Zeitschrift zu finden waren, mit denen Leon sich bemerkbar machte.
Lisas Freund Kevin hat sich von mir Musik aufnehmen lassen. Ich hatte auch Rafas "Ganz in Weiß" hinzugefügt. Das hinterließ bei Kevin einen besonderen Eindruck. Er spielte es noch einmal vor, und ich fühlte mich davon sehr angerührt, mehr als von irgendeinem anderen Musikstück, das ich jemals gehört habe. Ich konnte meinen Nougatpudding mit Sahne erst weiteressen, als das Stück zuende war.
Es hat mich gewundert, daß Kevin "Ganz in Weiß" mit dem düsteren "Dead and buried" von Alien Sex Fiend vergleicht. Alien Sex Fiend sei "nur schneller".
Ich erinnerte mich daran, daß ich mit Rafa zu "Dead and buried" getanzt habe, als er mich bat, ihn mit zu mir zu nehmen.
Abends war ich mit Lisa und Kevin bei einem klassischen indischen Konzert, und es gab im oberen Foyer auch indisches Essen. Wir bestellten uns einige Köstlichkeiten und setzten uns. Kevin ging auf den Balkon, um zu rauchen.
"Hast du nicht Angst davor, daß er krank wird und stirbt?" fragte ich Lisa.
Sie entgegnete, an so etwas denke sie nicht.
"Man kann auch bei einem Autounfall sterben", meinte sie.
"Aber sollte man nicht vorbeugen, wo man vorbeugen kann?" fragte ich. "Ich meine, wenn der, den man liebt, tot ist, sind der Sinn, das Ziel und der Inhalt des Lebens doch dahin."
"Man sollte sich nicht zu sehr an jemanden klammern", meinte Lisa.
"Was ist der Unterschied zwischen Klammern und Lieben?" fragte ich. "Wo liegt er?"
Darauf wußten weder Kevin noch Lisa eine Antwort. Die Frage blieb im Raum stehen.
Meine Antwort auf die Frage lautet:
"Wer jemanden liebt, ordnet sich ihm nicht unter. Wer an jemandem klammert oder ihm hörig ist, ordnet sich ihm unter."
Ich bin an Rafa gebunden, aber ich denke nicht daran, meinen Willen seinem Willen unterzuordnen. Und ich will auch nicht, daß Rafa sich mir unterordnet.
Als ich Carl erzählt habe, daß Kevin von Rafas "Ganz in Weiß" so beeindruckt war, meinte er:
"Das Lied klingt ja auch sehr echt. Der singt das nicht einfach so herunter. Das Lied ragt heraus. Wenn man bedenkt, was der sonst so macht ..."
Merle hat im März einen britischen Soldaten wiedergetroffen, in den sie sich zur Jahreswende verliebt hatte. Jetzt findet sie ihn "langweilig", hat ihn aber dennoch mit ins Bett genommen. Das Ergebnis ist lebendig, und Merle freut sich darauf, ungeachtet der Tatsache, daß sie mit dem Soldaten gar nicht mehr zusammen ist und es auch nicht mehr sein will.



In der "Halle" war ich zuerst allein und wartete auf Ted, mit dem ich mich verabredet hatte. Ich tanzte, wenn die Musik nicht zu abgegriffen war. Nach Rafa suchte ich noch nicht. Ich fühlte mich ohne meine Leute nicht sicher genug, zumal in der "Halle" nicht viel Betrieb war und man nicht so einfach Deckung finden konnte. Die Sängerin kreuzte leider mein Blickfeld. Dolf sah ich nicht.
"Alles bügeln" kam, ein Stück, das "Alles Lüge" von Lacrimosa auf die Schippe nimmt. Später kam dann "Strap me down" von Leæther Strip und danach "Schlachtreif" vom Liederkranz. Die Tanzfläche leerte sich. Ich wollte nicht mit der Sängerin allein tanzen. Zum Glück erschien Lillien. Ich tanzte mit ihr. Es störte mich, daß ich immer die Sängerin ins Blickfeld bekam, so wie ich früher immer den Sockenschuß ins Blickfeld bekommen habe. Nach dem Stück wechselte ich ein paar Worte mit Lillien. Ted klopfte mir auf die Schulter. Er war endlich gekommen und hatte auch zwei Bekannte mitgebracht, Kate und ihren Freund.
Ich sah Rafa mit einem Bierglas ins "Crystal Palace" gehen. Nach kurzer Zeit kam er wieder heraus und verschwand hinter der Treppe zum DJ-Balkon. Lange Zeit verbarg er sich.
Als ich einmal in die Toilette wollte, kam mir die Sängerin aus einer Kabine entgegen. Eilig huschte sie an mir vorbei. Sie wusch sich auch dieses Mal nicht die Hände.
Es ging auf zwei Uhr zu, als Rafa endlich wieder sichtbar wurde. Er übernahm das DJ-Pult. Während ich mich mit Ted unterhielt, versuchte ich, Rafa zu betrachten. Rafa redete mit Kappa. Währenddessen betrachtete er mich.
Ich führte mir vor Augen, daß Rafa dort oben auf dem DJ-Balkon nicht nur Gebieter, sondern auch Gefangener sein konnte. Die schützende Festung konnte auch zum Kerker werden.
"Sou, jetz' geit das mal lous hier", munterte Rafa das Volk auf.
Ted lachte.
"Sou, jetz' geit das mal lous hier", ahmte er Rafa nach. "Und dann spielt der 'Smalltown Boy'."
"Das ist das sture Festhalten an Traditionen", erklärte ich.
Das Podest gegenüber dem DJ-Balkon hat ein gekrümmtes Geländer. Ted und ich turnten daran herum. Er steckte ein Bein unter dem Geländer hindurch und legte es auf einen Tresen. Ich tat es ihm nach. Dann legte Ted beide Beine auf den Tresen. Er hing in der Luft und hielt sich nur mit den Armen am Geländer. Ich tat ihm auch das nach.
"Es geht gleich weiter mit New Wave", war Rafas nächste Ansage. "Aber vorher wird's ein bißchen härter: Leæther Strip und 'Adrenalin-Schock'!"
"Neiin!" schrie ich.
"Verzeihung - 'Adrenalin Rush'", verbesserte sich Rafa.
Ted und ich gingen auf die Tanzfläche. Nach "Adrenalin Rush" kam "Kids in America"von Kim Wilde. Ted nahm auf dem Handlauf Platz. Ich setzte mich spiegelverkehrt zu ihm. Er bewegte seine Arme im Takt zu der Musik, die wir nicht leiden konnten, und ich versuchte, meine Arme spiegelbildlich zu bewegen. Kate versuchte, mich vom Geländer zu ziehen, schaffte das aber nicht. Dabei ist sie kräftig.
"So, und jetzt - alle Depeche Mode-Fans auf die Tanzfläche!" sagte Rafa durchs Mikrophon.
"Schoon wieder?" rief ich, und auch Ted war entrüstet, denn es waren bereits zwei Stücke von Depeche Mode gelaufen.
"Na, na, na, na!" tadelte Rafa.
Es kam mir vor, als wenn er das Mikrophon dazu verwendete, mit mir in Verbindung zu treten.
Als das Stück von Depeche Mode begann, warf Rafa hinterm DJ-Pult seine Arme in die Luft und schüttelte sie im Takt. Ich mußte lachen.
Rafa trank viel. Er hielt sein Bierglas in der Hand und trank mir etwas vor. Dabei schien er immer fröhlicher zu werden.
"Morgen ist hier in der 'Halle' 'Tanz den Mai' mit Kappa", kündigte er an. "Da trinken wir wieder -" er verbesserte sich - "da treffen wir uns alle wieder."
Der Versprecher hätte beabsichtigt sein können, doch das klang nicht so.
Rafa hatte in dieser Nacht "Tanz den Mussolini" gespielt, ein Stück von DAF, das zu denen gehört, die in der "Halle" und im "Elizium" unbarmherzig wiederholt werden. Nun sagte Rafa "Tanz den Mai" statt "Tanz in den Mai". Auch dies hätte Absicht sein können, doch ich glaube es nicht.
Nachdem ich mit Ted zu "TV treated" von Neon Judgement getanzt hatte, blieb ich mitten auf der Tanzfläche stehen, denn Rafa war heruntergekommen und tanzte mir gegenüber mit Kappa. Ich stellte fest, daß die Brille, die Rafa trug, keine Spiegelbrille war, sondern eine Sehhilfe. Ich fand sie langweilig und häßlich. Rafa sah oft zu mir herüber und strahlte mich an. Er machte "Winke-winke" wie ein kleines Kind. Ich winkte nicht. Ich lachte und lächelte nur. Ich ließ mir eine Strähne ins Gesicht fallen und sah dahinter hervor. Rafa ließ sich auch eine Strähne ins Gesicht fallen, auf der gleiche Seite wie ich. Ehe das Stück zuende war, lief er fort, in eine Nebelwolke.
Später sah ich Rafa in "unsere" Ecke laufen; er zog ein Mädchen mit langen blonden Haaren am Arm hinter sich her. An einer kleinen Bar im Eingangsbereich sprach er mit ihr.
Ich legte einen Arm aufs Geländer und beobachtete Rafa. Das Mädchen streifte beim Sprechen manchmal seine Schulter. Bei Rafa können solche Gesten auf ein Verhältnis hindeuten. Unbewegt lauerte ich. Bald ließ Rafa das Mädchen stehen und lief einmal um die gesamte Tanzfläche herum. Als er wieder in "unserer" Ecke angekommen war, blieb er an der Box stehen. Er redete mit einem anderen Mädchen weiter, einem mit langen dunklen Haaren. Ich lauerte immer noch. Rafa tauschte auch dieses Mädchen wieder aus, gegen eines mit kurzen dunklen Locken. Mit diesem Mädchen ging er ins "Crystal Palace". Er wählte einen Platz an der Bar, den ich gut überblicken konnte. Lange saß Rafa dort und sprach mit dem Mädchen. Ich kam auf dem Weg zur Toilette an ihm vorbei, doch ich näherte mich ihm nicht. Rafa schien sich an dem Mädchen festzuhalten.
Ich wartete und wartete. In der Ferne sah ich Rafas kräftige Gestalt im "Crystal Palace". Ich sah das rote Rückenteil der Weste und den Pferdeschwanz, erreichbar und doch nicht erreichbar. Weißes Licht schien durch die Ärmel seines Hemdes und ließ die Umrisse seiner Arme erkennen. Ich verschlang Rafa mit meinen Augen.
Ich war froh darüber, daß Ted noch in der "Halle" bleiben wollte. Ich hoffte, daß es Rafa doch noch gelang, mit mir zu sprechen.
Es ging auf vier Uhr zu, als Rafa wieder zum DJ-Balkon hinaufstieg. Er griff nach dem Kopfhörer und tat ganz geschäftig. Doch er nahm nicht Cyrus' Stelle ein. Er lief gleich wieder nach unten. Ich sah Rafa mit entschlossenem Schritt auf die Tanzfläche zugehen, in meine Richtung gewandt. Er kam nur bis zur rechten Box; da hielt er inne. Er bog ab und näherte sich mir über das Bühnenpodest. Ich entfernte mich von Ted, der auf einem Stuhl schlief.
Bei der linken Box blieb Rafa wieder stehen. Ich stellte mich an den Rand der Tanzfläche und verschränkte die Arme. Wenn ich Rafa begegne und ihn nicht anfassen kann, weiß ich nie, was ich mit meinen Armen machen soll. Sie müssen um Rafas Schultern gelegt werden; nur da gehören sie hin.
Rafa zögerte. Er sprach mit einigen Jungen. Dann stand er kurz allein und lächelte und nickte mir zu. Wieder kamen Leute, mit denen Rafa sich unterhielt, auch die Sängerin. Wieder stand Rafa danach allein und lächelte mir ins Gesicht. Ich lächelte zurück. Ich fühlte die unsichtbare Mauer zwischen uns. Die letzten Schritte konnte ich ihm nicht abnehmen.
Rafa entschied sich für einen Mittelweg. Er lief in einem großzügigen Sicherheitsabstand an mir vorbei und begann zu tanzen. Er kehrte mir den Rücken zu. Ich folgte ihm langsam und vorsichtig. Ich tat, als sei ich eine Spielfigur, die übers Brett geschoben wird. Ich bewegte mich gleichmäßig und sparsam. Die wortlose Verständigung zwischen Rafa und mir hat seit jeher eine Form, die man als Mischung aus Tanz und Gesellschaftsspiel bezeichnen kann. Die Sängerin konnte uns beobachten. Sie saß neben einem Mädchen auf dem Bühnenpodest. Sie fiel mich nicht an. Sie schien tatsächlich von Rafa getrennt zu sein.
Ich stand schließlich in Griffweite hinter Rafa und wartete.
"Ich störe ihn nicht beim Tanzen", sagte ich mir. "Beim Tanzen muß er vor mir sicher sein. Aber sowie er innehält - und wenn es nur für einen Lidschlag ist -, dann liegt meine Hand auf seiner Schulter."
Rafa schien meine Gedanken zu lesen und mein Lauern zu fühlen. Er tanzte mit einschläfernder Gleichmäßigkeit. Dann sprang er mitten im Stück fort, aus dem Tanzen heraus, ohne die kleinste Pause. Mit raschen Schritten überquerte er die Tanzfläche und entkam meinem Zugriff.
Im "Crystal Palace" unterhielt Rafa sich mit der Sängerin. Die verließ alsbald die "Halle" mit dem Mädchen, neben dem sie gesessen hatte.
"Letztes Stück", kündigte Cyrus an. "Wir gehen danach nämlich noch in 'Halle 1'."
In der Stille klang das Hämmern aus "Halle 1" herüber. Dort läuft die Techno-Musik bis zum Morgen.
Rafa schien die Zeit bis zum ersten Zug nach SHG. überbrücken zu wollen; da kamen ihm Kappa, Cyrus und die Techno-Party in "Halle 1" eben recht.

In einem Traum war ich in einem großen Kaufhaus, glitzernd und von vielen Scheinwerfern erleuchtet wie die "Halle". In einem der mittleren Stockwerke hatten ich und meine Bekannten, Verwandten und die Arbeitskollegen vom Institut eine Sitzecke.
Eine Doktorandin wußte eine Neuigkeit, die alsbald die Runde machte:
"Sie haben ihn, den Täter, den sie so lange gesucht haben. Er ist hier Verkäufer. Sie haben ihn mit einer Insulinspritze überführt, in der Blut war. Der Verkäufer hat sein eigenes Blut in die Spritze gefüllt, zusammen mit dem Blut von seinem Opfer. Er dachte wohl, daß er die Fahnder dadurch verwirrt."
In Wahrheit führte er sie aber auf die richtige Spur. Das Versteckspiel entlarvte ihn.
Der straffällige Verkäufer erschien bald in der Nähe unserer Ecke. Es war eine lange, dürre Gestalt in Jeans, mit schulterlangen Locken. Er bot das Bild eines Verzweifelten, Gehetzten. Er schien immer noch die Hoffnung zu haben, daß man ihn nicht einsperrte. Er tat, als gehöre er noch dazu. Er versuchte harmlose Plaudereien. Ich war froh, nicht in seiner Lage zu sein. Ich war froh, mich nicht schuldig gemacht zu haben.
Mehr und mehr Menschen kamen ins Kaufhaus. Sie waren in Feierstimmung. Der Straffällige begann zu rennen, treppauf, treppab und rundherum, ebenso, wie Rafa durch die "Halle" gelaufen ist. Überall erschienen Polizeibeamte. Sie griffen noch nicht zu. Sie warteten ruhig, obwohl schon Haftbefehl erlassen war. Sie wußten, daß ihnen der Straffällige nicht entwischen konnte. So ruhig habe auch ich in der Hall gestanden und auf Rafa gewartet.
"Es gibt eine Zugabe aus der Kleiderkonfektion! Es gibt eine Zugabe aus der Kleiderkonfektion!" rief der Straffällige hilflos.
Er glaubte, seine Fänger besänftigen zu können, indem er Kleider an sie verschenkte.
Schließlich kam der weißbärtige Chef des Warenhauses und hieß den straffälligen Verkäufer sich vor ihn auf ein weißes Pferd setzen. Das Pferd war halb künstlich und halb lebend. Es war nicht sehr groß, doch stämmig und schwer gebaut, ähnlich wie ein Kaltblüter. Der Straffällige mußte von dem Pferd aus Luftballons an die Kinder verteilen. Das Pferd lief immer wieder auf mich zu und hängte mit stummem Bitten seinen Kopf über meine Schulter. Ich streichelte und zauste hingebungsvoll seine Mähne. Die Körper des Chefs und des Verkäufers sanken in den Körper des Pferdes hinein; sie wurden eins mit ihm. Ich hatte nur noch ein einziges Wesen vor mir. Und das verlangte nichts anderes mehr, als mir nahe zu sein. Trotzig und starrsinnig warf es den schweren weißen Kopf ins Genick und hielt mir dann doch wieder seine Mähne hin, damit ich darin wühlte. Das erinnert mich sehr an Rafa.

Am letzten Apriltag kamen schon nachmittags Gäste, Rikka, Ted, Brinkus und Talis. Das Wetter war warm und sonnig, und wir machten draußen Fotos. Ted kaufte sich bei der Tankstelle ein rosa Plüschvögelchen. Das mußte mitfotografiert werden. Eigentlich war es für das Kind eines Freundes gedacht, doch dann fand Ted es so süß, daß er es selbst behielt.
Später kamen noch Steini, Sator, U.W., Philipp, Nino, Constri, Derek, Lenni und Lena. Sator erzählte mir, er würde seine ehemalige Freundin immer noch lieben, obwohl er sich schon fünfmal von ihr getrennt hat. Nun, das ist noch gar nichts gegen das, was Rafa mit der Sängerin macht.
U.W. verkaufte signierte Leæther Strip-Promos. Er erzählte Folgendes:
Mitte April hat er in der "Halle" mit Rafa geredet. Der wollte ihm seine alten Kraftwerk-Platten abkaufen, angeblich "für seine Freundin". Näheres wollte Rafa mit U.W. eine Woche später im "Elizium" besprechen. Wie ich schon weiß, kam Rafa an diesem Tag nicht ins "Elizium". Es kamen nur Dolf und die Sängerin. Dolf sagte zu U.W., Rafa müsse dringend etwas aufnehmen und hätte keine Zeit gehabt, die Verabredung einzuhalten. Diese Ausreden sind mir sehr vertraut. Wenn Rafa keine Zeit haben will, hat er auch keine. Ich glaube, Rafa ist in Wahrheit deshalb nicht ins "Elizium" gekommen, weil er kein Interesse mehr daran hatte, für die Sängerin Kraftwerk-Platten zu besorgen. U.W. wollte es genau wissen; er fragte die Sängerin, ob sie denn noch mit Rafa zusammen sei.
Ja, das sei sie.
"Das war letzte Woche", sagte ich zu dem Bericht von U.W. "Das kann sich längst geändert haben."
Brinkus erzählte mir einen Traum, den er kürzlich hatte:

Er kam zum Standesamt und begegnete dort seinem Vater und dessen Frau Christine, die sich bereits von ihm getrennt hat. Das Paar verwandelte sich in Rafa und mich. Rafa trug einen Pferdeschwanz und einen feinen schwarzen Anzug. Ich hatte ein weißes Spitzenkleid an, hochgeschlossen, mit Schnürtaille und einem weiten Rock, der bis zu den Waden reichte. Ein Pastor traute uns, obwohl wir uns nicht in einer Kirche befanden.

"Werden deine Träume wahr?" fragte ich Brinkus.
"Sie werden wahr", antwortete er. "Allerdings können das auch andere Personen sein als die, die ich im Traum sehe."
"Es kann also sein, daß ganz andere Leute heiraten als Rafa und ich."
"Ja."
Laut U.W. soll Rafa Anfang Mai bei einer Gothic-Messe in HH. sein, "Dark Zone". Das wäre ungewöhnlich für Rafa. Ich habe ihn schon seit einem Jahr nicht mehr bei Konzerten und anderen Sonderveranstaltungen gesehen, es sei denn, er trat selbst auf oder stand am DJ-Pult.
Talis berichtete, daß Rafa für sein Album Verrisse erntet, gleich in mehreren Zeitschriften. In gewisser Weise finde ich, es geschieht ihm recht, weil an seiner Musik vieles auf mich gestellt und unecht wirkt, verlogen, und weil er sich eine Sängerin "hält", die seine Geräte bezahlt.
Rafa und die Sängerin stehen inzwischen vor ihrem neunten Verhältnis. Vielleicht stehen sie zur Abwechslung eines Tages vor dem Standesbeamten, und dann trennt Rafa sich nicht mehr in Abständen von wenigen Wochen, sondern er läßt sich in Abständen von wenigen Jahren scheiden.
Ich glaube nach wie vor, daß Rafa auch anders kann, als sendungsbewußt unter dem Namen eines Senders zu senden. Noch schwebt er im Äther, anstatt auf dem Boden zu stehen. Allen will er das Heil bringen und ist doch selbst nicht heil.
Im "Elizium" traf ich Mal, und ich stellte ihm Philipp vor. Philipp redet meistens über Musik. Mal stellt nicht nur Musik her, sondern er kennt auch viele Musiker. Einen hatte er ins "Elizium" mitgebracht, Plastic Noise Experience.
Mal beschrieb mir seine Arbeitsweise. Er macht seit über zehn Jahren Musik, hat sich jedoch nie über den Tapesektor hinausbewegt. Er macht noch keine CD, weil er noch kein Label gefunden hat, das ihm die gewünschten Bedingungen bietet. Er gehört nicht zu denjenigen, die um jeden Preis schnell veröffentlichen wollen. Er gehört auch nicht zu denjenigen, die glauben, ein teures Equipment ergäbe zwangsweise gute Musik.
Saverio war auch anwesend. Er nahm Carl geschwinde die Handschellen vom Gürtel und kettete ihn an die Schwingtür zum Tanzraum. Das hatte er Carl schon vor längerer Zeit versprochen, und nun machte er es wahr.
Saverio saß viel bei seiner Freundin Edna. Sie ist unförmig, trägt sehr knappe schwarze Lackgarderobe und Pfennigabsätze, hat lange, rot gefärbte Haare und guckt recht abweisend.
Ich finde, daß Carl und Saverio ein hübsches Paar sein könnten. Die langen, klapperdürren Gestalten mit ihren Lackhosen und Pferdeschwänzen hätten Zwillinge sein können.
Es störte mich, daß Ivo Fechtner dicht vor mir tanzte, als Dive gespielt wurde. Ich konnte ihm nicht ausweichen, weil die Tanzfläche zu voll war. Erst, als das abstrakte, rhythmische "Destrozaron sus Ovarios" von Esplendor Geometrico lief, gab es etwas mehr Platz.
Constri hat mitbekommen, was Saverio mit Carl gemacht hat. Sie hat Carl angekettet an der Tür gefunden. Saverio stand dabei und fragte jeden, den er kannte:
"Hier, willst'n Schlüssel haben?"
Er wollte den Schlüssel sogar hinunterschlucken und soll auch etwas von "Auspeitschen" gesagt haben. Als er sich schließlich erbarmte und den Schlüssel herausgab, schafften Constri und Carl es nicht, die Handschellen zu öffnen. Saverio half mit, und gemeinsam befreiten sie Carl.
"Da hatte Saverio aber den Schlüssel gleich wieder", erzählte Constri.
Und er behielt ihn lange.

In einem Traum sah ich eine grobe, ungelenke Bildschirmmalerei. Jemand versuchte sich an einem Malprogramm. Sowie er unter einen bestimmten Einfluß geriet, malte er von einem Augenblick zum anderen fein und künstlerisch, mit leichter Hand. Fiel jener Einfluß weg, wurde die Malerei wieder grob und unbeholfen.

Dieser Traum könnte Hinweise auf mögliche Entwicklungen in Rafas kreativer Arbeit geben. Es kann sein, daß sich ihm ein Teil seiner Fähigkeiten nur unter einem bestimmten Einfluß erschließt. Vielleicht würde Rafa sich selbst mehr zeigen und ausleben, wenn ihm vermittelt wird, daß er es darf und daß ihm dadurch keine Gefahr droht.
Derek fällt es viel leichter als Rafa, sich zu offenbaren; das kann ich tagtäglich beobachten. Wenn Constri und Derek sich umarmen, werden sie fast eins miteinander. Sie strahlen sich an, so, wie ich Rafa anstrahle. Rafa läuft fort, wenn ich mich ihm zuwende. Derek kann bleiben und zieht sogar mit Constri zusammen.
Was mein Berufsleben angeht, so bin ich, wie früher schon, mehr berufstätig, als daß ich studiere. Im Institut arbeite ich vorwiegend am Rechner, für ein Projekt, das von der Pharmaindustrie bezahlt wird.
"Sie sind ja etwas strukturierter", sagte der Professor auf dem Weg zum einem feinen Hotel, wo eines jener "Pharmabuffets" aufgetischt wurde, die in der Branche häufig stattfinden. "Wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen die Abteilung etwas chaotisch vorkommt."
Ich bin also zum "Aufräumen" da.
Als ein Kollege vom geringen Budget sprach, weil ich Büroartikel aufzählte, die gebraucht wurden, meinte ich:
"Wir brauchen die Sachen halt. Wir können nicht kopieren ohne Papier, wir können nicht heften ohne Heftstreifen, wir können nicht binden ohne Ordner. Immerhin hast du vierhundert Mark lockergemacht für die Reparatur dieses maroden Rechners, der eigentlich längst auf den Müll gehört, und da stören dich fünf Mark für so einen Stellkasten ..."
Der Kollege kicherte.
Das Arbeitsklima im Institut beschrieb er folgendermaßen:
"Jeder sieht zu, wie er sich selbst einen Vorteil verschafft, und wenn alle ungefähr gleich stark sind, nennt man das 'Zusammenarbeit'."



Zu der Gothic-Messe "Dark Zone" wollte Ortfried Brinkus mitkommen. Ich bat ihn, schon am Vortag bis Mitternacht bei mir zu erscheinen und im Gästezimmer zu übernachten, damit ich sichergehen konnte, daß er den Termin nicht verpaßte und auch wirklich mitkam. Brinkus war jedoch erst morgens um halb vier da.
"Unhöflich", sagt ich zu ihm. "Stell' dir vor, ich wäre schon zu Bett gegangen, und du hättest mich wachgeklingelt."
"Ich war bei Schrader und hab' sieben Eimer gekifft", erzählte Brinkus, "und jetzt gehe ich erstmal aufs Klo."
Als ich später ins Bad ging, war ein Stück vom Rand der Waschbeckenablage verschmort.
"Das war schon", behauptete Brinkus.
"Das war nicht", wußte ich. "Das ist erst, seit du drin warst. Mit sieben Eimern im Kopf."
"Naa ...", druckste Brinkus. "Ich kiff' doch normalerweise nicht; das ist nur, weil Schrader dauernd kifft. Und wenn du dann so die Zigarette auf die Ablage legst ... und bist voll stoned und achtest nicht drauf ... dann wird die Zigarette langsam immer kürzer, und irgendwann ... dann kann schon mal ..."
"Eben. Deshalb darfst du jetzt eine neue Waschbeckenablage kaufen und anbringen."
"Ist gebont."
Nachmittags gegen drei Uhr kamen Brinkus und ich in den "Megamarkt" in HH., wo "Dark Zone" stattfand. Das Veranstaltungszentrum hat mehrere Stockwerke. Es gibt einen großen Konzertsaal, zwei kleinere Säle und ein geräumiges Foyer.
Ich hatte mein Spitzenkleid angezogen; das war für das sonnige Maiwetter gut geeignet. Viele hatten sich ganz besonders feingemacht, ähnlich wie beim Weihnachtsfestival in der Fabrik. Es gab da eine "schwarze Braut" mit Schleier und bodenlangem Spitzenkleid. Mehrere Mädchen trugen Reifröcke. Ganz stilecht wirkten die Reifröcke nicht, weil die Mädchen nicht geschnürt waren.
Im Foyer hatten viele Labels ihre Stände aufgebaut. Was ich kaufen wollte, kaufte ich gleich beim Hereinkommen. Unter anderem waren das eine limitierte Single vom Liederkranz und ein Album von From Laughter to Tears, ein filigraner, melancholischer Electro-Act.
Brinkus und ich trafen U.W. und Sator.
"Alle sind da", erzählte U.W. "Dolf ist da... Rafa ist da..."
"Wo ist Rafa?" fragte ich.
Das wußte U.W. nicht.
"Ich muß wissen, wo er ist", sagte ich. "Ich muß ihn finden."
U.W. und Sator sprachen mit einem Mädchen, das ich nicht kannte. Es war recht klein, hatte kurze, schwarz gefärbte Haare und trug eine Pannesamtjacke und eine Lackhose. Es ging mit, als wir uns im großen Konzertsaal auf die Stufen setzten. Der Saal liegt hinter dem Foyer und sieht aus wie ein rechteckiges Amphitheater. An der Stirnseite ist eine Bühne. Die war noch dunkel. Jemand ging zum Mikrophon und verkündete, um sechzehn Uhr sei die Präsentation von W.E.
"Oh Gott", seufzte ich, "das wird wieder peinlich."
Alsbald sah ich Rafa mit wehendem Pferdeschwanz auf der Bühne herumlaufen. Er trug das Sakko, das ich nicht leiden kann. Bebrillt war er nicht mehr. Dolf und die Sängerin erschienen ebenfalls. Die Sängerin trug das Kleid mit den Federn, das mich an ein Freudenhaus erinnert.
"Da", sagte ich zu Brinkus. "Die Sängerin."
"Das neunte Mal, hm?"
"Das neunte Mal. Wi-der-wärtig. E-kelerregend."
Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Begleiterin mitbekam, was wir sagten.
Brinkus, U.W. und Sator wollten sich im Bahnhof Bier holen gehen.
"Geht doch jetzt nicht", bat ich. "Dann bin ich hier ganz alleine. Bleib' doch wenigstens einer von euch hier."
"Daria bleibt doch da", hieß es, und die drei entfernten sich.
"So, du bist also Daria?" fragte ich das Mädchen mit der Samtjacke.
"Ja."
"Ich bin Hetty."
"Ja, das sagte mir der eine schon, der ..."
"Sator."
"Du kommst aus H.?"
"Ja."
"Ich hab' dich nämlich schon oft in der 'Halle' gesehen. Da tanzt du immer so wild, das finde ich irgendwie voll geil ... du tanzt dann auch so allein und so ..."
"Ja, das macht mir immer so viel Spaß."
"Ja, das finde ich immer völlig geil ..."
"Wo kommst du denn her?"
"Ich wohne zur Zeit in SHG."
"SHG.", wiederholte ich. "Das ist aber doch eine recht kleine Stadt, nicht? "
"Ja ... na, ja ... eher klein."
"Warum bist du da denn?"
"Ich mache meine Ausbildung da."
"In welchem Bereich?"
"Hotelfach."
"Und, das gefällt dir ganz gut in SHG.?"
"Ja, doch."
Daria erkundigte sich nach meinem Beruf. Ich erzählte ihr, daß ich mich wohl auf Psychiatrie spezialisieren werde. Ich erzählte auch von dem Job im Institut, in dem ich layoute und viel mit Computern zu tun habe. Daria wollte wissen, was ich für Musik höre und was ich sonst mache.
"Ich bin kreativ", sagte ich.
"Und was machst du da so?"
"Schreiben und malen."
"Liest du denn auch?"
"Dazu komme ich gar nicht. Ich brauche die ganze Zeit, um kreativ sein zu können."
Daria liest gern.
Was SHG. betraf, so bestätigte Daria meine Vermutung, daß dort nichts los sei.
"Früher war da noch im 'Black Rose' was", sagte sie. "Und da war noch ein anderer Laden; ich weiß aber nicht mehr, wie der hieß."
"Ja, was macht man denn dann, wenn man in SHG. wohnt?"
"Tja ... nach H. fahren. Meistens fahre ich dann mit Rafa, Tessa und Dolf."
"Sind die im Moment zusammen?"
"Wer, Rafa und Tessa?"
"Ja."
"Ja."
"Das ist das neunte Mal", sagte ich, "wenn nicht das achte noch läuft. Sie waren mindestens siebenmal schon getrennt."
"Ja, ja, ich habe schon mitbekommen, daß die sich dauernd streiten."
"Die trennen sich im Schnitt alle acht Wochen."
Daria wollte wissen, ob ich mir am Stand vom Zoth Ommog-Label kostenlose Promo-CD's geholt hatte.
"Als ich kam, waren keine mehr da", antwortete ich.
Daria hatte noch zwei abbekommen und bot an, sie mir zu leihen, damit ich sie aufnehmen konnte. Sie schien mit mir in Verbindung treten zu wollen. Ich fragte mich, was sie dazu bewog.
Ich sah Rafa auf der Bühne Anweisungen geben und mit den Armen herumfuchteln, und ich fand das niedlich. Gleichzeitig wurde ich immer wütender auf ihn.
Es sah so aus, als sei ein Auftritt geplant. In der Mitte der Bühne stand ein Mikrophon, und ein Keyboard wurde danebengestellt. Daria war einverstanden mit meinem Vorschlag, weiter nach vorne zu gehen. Am Ende taten wir das doch nicht, denn dort wären wir fast alleine gewesen. Es waren nur wenige Zuschauer im Saal, und die saßen zum größten Teil hinten, in der Nähe des Eingangs. Der Ansager wies noch einmal auf die bevorstehende Präsentation hin. Es gab überall im "Megamarkt" Lautsprecher, und jeder konnte die Ansage hören. Doch die meisten Leute fanden die Verkaufsstände aufregender. Rafa wirkte nervös.
"Er hat sich seine Schutzbrille aufgesetzt", sagte ich zu Daria, als ich ihn mit seiner Spiegelbrille sah.
Die Präsentation fing spät an; man hatte immer noch die Hoffnung, daß der Saal voller würde. Doch das Hoffen war vergebens.
Ein Video sollte vorgeführt werden, und gleichzeitig sollte ein Interview stattfinden. Vor der Leinwand standen vier Stühle um einen Tisch herum. Die Sängerin setzte sich links, dann folgten Rafa, Cyrus und Dolf. Cyrus bat die Bandmitglieder, sich vorzustellen. Alle drei redeten zögernd und recht undeutlich.
"Fangen wir doch mal links an", sagte Cyrus.
"Also, ich bin Tessa", sagte die Sängerin. "Ich spiele Keyboard und singe."
Ihre Stimme klang metallen, dunkel und hart.
"Ich bin Rafa", sagte Rafa. "Ich bin Sänger und Kopf der Band."
Dolf stellte sich auch als Keyboarder vor. Zuerst konnte man ihn kaum verstehen. Dolf kippte den Mikrophonständer, anstatt ihn heranzurücken.
"Nimm's dir doch gleich ganz", maßregelte Rafa. "Wie sieht'n das aus?"
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. Ich hatte den Eindruck, daß Rafa mit Absicht Menschen um sich sammelte, die er maßregeln und scheuchen konnte. Vielleicht hoffte er, dadurch etwas von seiner eigenen Unsicherheit zu verlieren.
Das Video, das im Hintergrund lief, zeigte in der Hauptsache Konzertmitschnitte.
"Die Musik lauter!" befahl Rafa.
Wesentlich lauter als an der Grenze des Hörbaren konnte man sie freilich nicht stellen, denn sonst hätte man vom Interview nichts mehr gehört.
Rafa trank Bier und rauchte. Auf dem Tisch lag die Spielzeugpistole, die er sich bei seinen Konzerten um den Hals hängt. Sie macht auf Knopfdruck verschiedene Geräusche, die ich von anderen Spielwaren kenne. Sie sollen sich wie Panzerfäuste und Maschinengewehre anhören. Das gesamte Interview wurde von diesen Geräuschen untermalt. Rafa drückte nur gelegentlich auf die Knöpfe, ohne die Waffe in die Höhe zu heben. Die Sängerin spielte fast die ganze Zeit damit.
"Sieh die Richtung, in die sie zielt", sagte ich zu Daria.
Ich wurde mit einem Regen aus unsichtbaren Geschossen bedacht. Die anderen Zuschauer bekamen auch etwas ab, doch mir gönnte die Sängerin das meiste.
Rafa sollte etwas zu dem Namen der Band sagen. Er hörte aber die Frage nicht, weil er flüsternd auf die Sängerin einredete, die etwas an dem Keyboard verstellte.
"Rafa!" rief Cyrus sanft.
"Oh", machte Rafa. "Oh, Verzeihung, äh ... ich hab' das eben gar nicht mitbekommen. - Was hast du nochmal gefragt?"
Da hatte Rafa die Lacher auf seiner Seite.
"Aber das ist Rafa", erklärte Daria. "Echt, das ist Rafa. So kenne ich ihn."
"Ja, so kenne ich ihn", bestätigte ich.
"Wir hießen mal 'Feindsender'", fing Rafa an zu erzählen. "Aber das war denen vom Plattenlabel zu rechtsradikal, so wie 'Störkraft'. Und da gab es mal so einen Radiosender, so 1924. Und der hieß 'W.E' ..."
Nach dem Sinn des Projekts gefragt, meinte Rafa, es gebe heutzutage kaum noch Bands, die Musik wie zur Zeit der Neuen Deutschen Welle machten.
"Wir wollen die Musik der NDW-Zeit so umformen, daß sie für die Neunziger hörbar wird."
Dolf redete gar davon, NDW-Fanatiker zu sein. Ihm glaube ich das.
Die Sängerin sagte nichts. Cyrus bedauerte, sie ganz vergessen zu haben, als Rafa ihn anstieß und ein "Tessa ist auch noch da" äußerte. Cyrus hielt ihr das Mikrophon hin, und sie sagte:
"Ja, ich bin noch da."
"So ... die nächste Frage muß ich leider auch wieder Rafa stellen", fuhr Cyrus fort.
Rafa gab sich den Anschein, als sei die einzige Art von Musik, die er wichtig fände, die Musik der Neuen Deutschen Welle. Er behauptete sogar, in der Musik könne sich seit den Achtzigern nichts mehr weiterentwickeln; es sei schon alles erfunden, was sich erfinden ließe. Eine Ausnahme bilde lediglich das, was als "virtuell" bezeichnet wird.
Dolf erzählte nach diesem Stichwort von dem Paar, das sich bei dem Auftritt im Februar auf Tische legen mußte und beklebt und betippt wurde. Dolf hatte immer noch Schwierigkeiten mit dem Mikrophon, und ich hörte ihn kaum.
"Die hatten Datenanzüge an", meinte ich zu verstehen.
"Die waren nackt", unterbrach Rafa. "He! Die waren nackt."
Ihm hätte es vielleicht am liebsten gewesen, wenn sie noch nicht einmal mehr Slips getragen hätten. Aber das könnte an dem fehlenden Einverständnis der Darsteller gescheitert sein.
Rafa meinte zusammenfassend, da in der Musik nichts Neues mehr entstehen könne, komme es darauf an, Altes hervorzuholen und neu aufzubereiten. Zur Zeit gebe es nur drei Bands, die das täten, darunter der Prager Handgriff und W.E.
Ich glaube Rafa, daß sich seit den Achtzigern etwas nicht weiterentwickeln kann, allerdings nicht in der Musik, sondern in Rafa selber. Ich erlebe ihn in gewisser Hinsicht als Dreizehnjährigen, für den nach dem Tod seines Vaters die Zeit stehengeblieben ist.
Rafa hat mir gegenüber häufiger davon gesprochen, Industrialmusik machen zu wollen. Im Interview sagte er nichts dergleichen. Ich glaube, es hätte Dolf und der Sängerin nicht gefallen.
Cyrus stellte schließlich auch der Sängerin eine Frage, recht allgemein und weit gefaßt. Sie erzählte etwas, das vorgeformt wirkte; es hätte aus einer Zeitschrift stammen können.
"... weil wir eben alle total auf NDW stehen", sagte sie unter anderem.
Über das Stück gegen Videospiele sagte Rafa ungefähr das, was er auch zu mir gesagt hat:
"Da sind in England irgendwie fünf ... ja, ich glaube, fünf waren das, fünf Kinder, die haben da irgendwie zwanzig Stunden lang vor so einem Spiel gehockt, und dann haben die epileptische Anfälle gekriegt und sind gestorben, und das muß ja nicht sein, daß man Kindern sowas schenkt, wo sowas passieren kann."
"Und, was ist dein Rat an die Kinder?" wollte Cyrus wissen.
"Ja ... 'Sesamstraße' gucken", antwortete Rafa, "nicht soviel vorm Fernseher hängen und Videospiele spielen ... und mehr 'W.E' hören."
"Peinlich", seufzte ich.
Und ich fragte mich, wie Rafas Musik die Kinder erreichen sollte, wenn sie nicht in der "Sesamstraße" lief, sondern in der "Halle".
Cyrus erkundigte sich nach einer geplanten Tour.
"Die Tour kommt", antwortete Rafa, "mit dem Prager Handgriff zusammen; das ist schon klar."
"... und mit der Sängerin zusammen", dachte ich.
Am Schluß des Interviews teilte Cyrus mit, die Band sei im Dachgeschoß am Stand von SPV zu sprechen. Ich wurde von der Sängerin noch einmal besonders lautstark befeuert. Sie muß mich mehrfach erschossen haben.
Daria und ich blieben sitzen und warteten auf die Podiumsdiskussion. Rafa bastelte, räumte, lief und redete. Dolf ging langsam auf uns zu und begrüßte Daria. Ich sah ihn nicht an. Ich beobachtete Rafa, der Dolf hinterherging. Rafa ließ sich vom Schicksal führen. Ich saß neben einem Mädchen aus seinem Bekanntenkreis; auf sie konnte er zugehen und damit auch auf mich. Die Sängerin war gerade nicht im Saal, und das erleichterte die Sache noch um Einiges. Rafa stellte sich vor uns hin und sagte:
"'n Abend, die Herrschaften!"
"'n Abend", erwiderte ich den Gruß in einem möglichst ruhigen, freundlichen Ton.
Rafa strebte an uns vorbei. Er kam in Griffweite. Ich streichelte sein Bein. Er ließ etwas hören wie:
"Was 's'? Was 's'?"
"Ich habe so selten Gelegenheit dazu", erklärte ich Daria und streichelte weiter. "Die letzte war vor zehn ... nein, vor neun Wochen. Vor neun Wochen."
Rafa verschwand.
"Er kann nicht mit mir reden, wenn er die Freundin hat", sprach ich weiter mit Daria. "Sonst greift sie mich gleich an. Deshalb muß ich immer einen Sicherheitsabstand von zwei Metern einhalten."
"Also, ich finde Tessa voll nett", meinte Daria. "Und irgendwie kann ich sie echt verstehen."
"Ich kann sie auch verstehen", sagte ich. "Ich bin schließlich eine ernstzunehmende Gegnerin für sie. Ihre Aggressivität ist vielleicht ein bißchen überzogen, aber sonst kann ich sie schon verstehen."
Die erste Podiumsdiskussion begann. Radiomoderator Ace und DJ Z aus dem "Fall" beteiligten sich. Es ging um die Frage, ob es eine Independent-Sendung im Fernsehen geben könne. Ein blonder Junge aus dem Zuschauerraum erhitzte sich vor dem Mikrophon. Es wurde gelächelt. Als ich einmal neben mich blickte, saß Rafa etwa zwei Meter entfernt auf der Stufe, auf der auch Daria und ich saßen. Er saß über Eck; so kam es, daß ich ihn ohne Schwierigkeiten betrachten konnte. Die Sängerin hatte er sich mitgenommen, doch sie wurde durch ihn verdeckt und konnte mich nicht stören. Von Dolf, der auch dabeisaß, ließ ich mich nicht stören. Rafa trug seine Sehhilfe; er scheint manchmal gleich mehrere Brillen dabeizuhaben. Er wandte seinen Blick kaum von der Bühne fort. Ich wandte meinen Blick kaum noch zur Bühne hin.
Rafa kaute Kaugummi. Sein Gesicht war ungeschminkt. Die Haut wirkte fahl und teigig. Ich wußte nicht, woran das liegen konnte.
Wie gewöhnlich tauschten Rafa und seine Freundin keine zärtlichen Gesten aus. Die Sängerin rauchte nur vor sich hin und schien Rafa zu bewachen.
Brinkus, U.W. und Sator kamen zurück.
"Setzt euch! Setzt euch!" rief ich und erzählte ihnen, welche Peinlichkeiten sie verpaßt hatten.
"Rafa ist das neunte Mal mit der Sängerin zusammen", sagte ich zu U.W.
"Aach, Mönsch, ich sach's dir doch schon die ganze Zeit, daß der mit der zusammen ist", stöhnte U.W.
"Kürzlich war er's nicht", entgegnete ich.
Nach der Diskussion ging Rafa noch einmal zur Bühne. Brinkus, U.W. und Sator stürmten ebenfalls dorthin. Sie wollten mit Ace sprechen. Ich folgte den Jungen und sah Rafa am Rand der Bühne stehen, abgekehrt von mir. Ich griff gleich wieder nach seinen Beinen und streichelte sie. Von oben hörte ich den ärgerlichen Ruf:
"Was 's' 'n das denn?"
Ich drehte mich weg und tat unschuldig.
Während Brinkus, U.W. und Sator sich mit Ace unterhielten, erschien Rafa auf der Tribüne. Ich blickte in sein Gesicht, das nun wieder die Spiegelbrille schützte. Rafa stand eine Weile dort oben, ehe er den Saal verließ.
Brinkus, U.W., Sator, Daria und ich gingen hinaus ins Foyer. Daria und ich setzten uns auf eine Stufe, von der aus man die Leute beobachten konnte, die kamen und gingen, ins Freie und ins Dachgeschoß. Daria und ich betrachteten die Kostüme und unterhielten uns über Kleider. Daria schwärmt für Weinrot. Ich zeigte ihr ein Mädchen in einem langen roten Samtkleid mit Schleppe und Tournüre. Das gefiel Daria.
"Sowas laß' ich mir vielleicht von Tessa machen", sagte sie. "Tessa kann voll gut nähen."
Daria mag Pannesamt und Lack, was auch die Sängerin trägt. Nur wirkt es bei Daria nicht im Entferntesten so gewöhnlich und einladend.
Daria scheint auch aufgrund ihres jungen Alters zu Schwärmerei und Verehrung zu neigen. Sie ist zehn Jahre jünger als ich und hatte mich auch jünger geschätzt, auf etwa zwanzig.
"Die Szene hält jung", ist Teds Erklärung dafür, daß man den Leuten in unserem Bekanntenkreis ihr wahres Alter selten ansieht.
Daria fand mein kurzes Spitzenkleid mit dem Samtrock hübsch. Ihr gefiel auch die Haarschleife. Ich erzählte, daß ich immer eine Schleife trage, auch im Alltag. Daria hatte erst geglaubt, meine Haare seien nur fürs Wochenende zur Seite gerafft und nicht asymmetrisch geschnitten.
Daria erzählte, daß sie schon bei Rafa zu Besuch war. Er soll mit ihr auch schon eine bestimmte Zeit verabredet haben, zu der sie ihn anrufen sollte.
"Ich habe ihn dann angerufen; da war der aber nicht da."
"Ich kenne Zeiten, zu denen man den erreicht", sagte ich, "nach Feierabend."
"Ich denke, der arbeitet nachts."
"Nachts?"
"Ja, der hat einmal gesagt, er arbeitet von zweiundzwanzig bis sechs Uhr."
"Ach ... dann ist das jetzt anders. Letztes Jahr hat er gesagt, er arbeitet tagsüber."
"Also, das weiß ich auch nicht ... zur Zeit ist er gerade krankgeschrieben ..."
"Ja?"
"Ja, der schafft das immer, sich krankschreiben zu lassen", sagte Daria mit etwas Neid in der Stimme. "Der schafft das immer. Und unsereins muß immer zur Arbeit gehen."
"Der hat vielleicht einen Arzt, der das immer macht."
"Nein, ich glaube, der hat einen Arzt, der seine Mutter kennt."
"Ach, ich habe auch einen Hausarzt, der einen immer krankschreibt, wenn man das will."
"Warte ... die CD's gebe ich dir am besten gleich", meinte Daria. "Ich habe so und so keinen CD-Player. Du kannst mir ja deine Nummer geben ..."
"Sicher. Wenn du mir ein Blatt gibst, schreibe ich sie dir auf."
"Oder ... gib mir die CD's doch einfach am Freitag in der 'Halle'."
"Sicher. Ich bringe sie dann einfach mit."
Daria wußte gar nicht, daß Rafa und die Sängerin sich so häufig trennen. Sie dachte, die beiden würden sich nur streiten.
"Nun ja", sagte ich, "der Rafa hält das auch geheim. Er möchte die Leute glauben machen, er sei durchgehend mit ihr zusammen."
Daria erzählte von den unergiebigen Streitereien, die Rafa und die Sängerin sich liefern sollen. Sie sprach so viel von den Streits, daß ich den Eindruck bekam, das Verhältnis der beiden bestünde aus nichts anderem.
"Immer geht das um so Kleinigkeiten. Einmal, da sind wir am Morgen zurück nach SHG. gefahren. Rafa hatte Hunger. Da ist Tessa wegen ihm auf eine Tankstelle gefahren, damit er sich etwas zu essen holen konnte. Dann waren wir gerade da angekommen, da sagt Rafa auf einmal:
'Oh, da kannst du doch auch aussteigen und was zu essen holen. Du kannst das besser. Du kriegst da eher was.'
Da meinte Tessa:
'Nein. Du hast Hunger, also hol' dir auch was.'
Da hat er aber gesagt:
'Nein. Du gehst, du gehst, du gehst.'
Und sie:
'Nein, ich geh' nicht.'
Und so ging das eine halbe Stunde hin und her. Und wir waren kurz vor SHG., und ich war müde und wollte ins Bett ..."
"Ja, sie hat den nicht im Griff", meinte ich. "Das ist eindeutig. Sie hat den nicht in der Gewalt. Auch, daß sie sich auf so einen Streit überhaupt eingelassen hat, das ist ... Unsinn. Ich glaube, die wollten sich streiten. Die haben nur einen Anlaß gesucht."
"Die streiten sich vielleicht auch deshalb immer, weil sie sich so ähnlich sind."
"Ich finde nicht, daß die sich ähnlich sind."
"Na, irgendwo sind die sich aber schon sehr ähnlich."
"Sagen wir, sie haben in bestimmter Hinsicht etwas gemeinsam."
"Ich weiß nicht; mir tut Tessa manchmal voll leid, wenn Rafa sie in der Hall so alleine läßt", sagte Daria. "Er geht dann immer hoch und redet mit dem und dem, und sie sitzt unten."
"Nun, ja - er liebt sie nicht. Daran liegt es. Der liebt sie nicht."
"Ach, ich glaube, der liebt sie schon. Der wäre doch sonst nicht so lange mit ihr zusammen."
"Lange? Die trennen sich doch alle paar Wochen."
"Ja, stimmt auch wieder."
"Ich frage mich, weshalb sie das mitmacht."
"Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich, weil sie ihn liebt."
"Ich glaube nicht, daß sie ihn liebt."
"Doch, doch, sie mag ihn schon."
"Mögen ... vielleicht ..."
"Tessa weiß, daß Rafa oft mit anderen Mädchen was hat. Du kennst doch seinen Ruf, nicht?"
"Ja, den kenne ich."
"Wie der mit den Mädchen umgehen soll ..."
Daria ist beim Maitanz in der "Halle" gewesen, einen Tag, nachdem Rafa versucht hatte, auf mich zuzugehen. Rafa soll sehr schlecht gelaunt gewesen sein und viel herumgeschimpft haben. Die Sängerin und Daria saßen an einem Tisch auf dem Bühnenpodest. Rafa wollte dort Platz schaffen. Er kam auf die beiden zu, und obwohl die Zeit nicht drängte und genug Raum vorhanden war, herrschte er die Mädchen an:
"Und ihr macht da jetzt auch gleich den Abflug, ne?"
Ich bezweifelte mehr und mehr, daß Rafa Ende April wirklich von der Sängerin getrennt war. Seine achte Trennung könnte tatsächlich nur ein Streit gewesen sein. Vielleicht war es auch eine inoffizielle Trennung. Gewöhnlich bleibt die Sängerin nicht so ruhig, wenn sie nicht von Rafa getrennt ist.
"In der 'Halle' müssen wir uns auch immer nach Rafa richten, wenn wir nach Hause fahren wollen", fuhr Daria fort zu erzählen.
"Warum müßt ihr euch denn nach Rafa richten?"
"Na ja, wenn man zum Beispiel um vier sagt, so, wir wollen fahren, dann sagt er:
'Ich komme in fünf Minuten.'
Und dann redet der da noch eine halbe Stunde mit Kappa und so."
"Ah, ja. Er fährt nicht, er hat kein Auto, und trotzdem richtet ihr euch alle nach ihm."
"Na ja, ist ja Tessas Wagen", sagte Daria entschuldigend.
"Na ja, und sie muß ja auch entscheiden, von wem sie sich diktieren läßt", ergänzte ich.
"Ich glaube, das ist gar nicht so sicher, wer wem diktiert."
"Ach, du glaubst, die Sängerin diktiert auch Rafa."
"Ja."
"Ich glaube, die Sängerin ist Rafa turmhoch unterlegen", sagte ich. "Sie hat ihn nicht diszipliniert. Ich meine, man könnte es doch auch so machen, daß man einfach fährt, wenn Rafa nicht kommt, und dann kann er mit dem Zug nach Hause fahren."
"Der fährt nicht mit dem Zug!" wußte Daria. "Das macht der nicht! Der fährt nicht mit dem Zug!"
Wenn Rafa nachts nicht mit dem Zug fahren will, bedeutet das, daß er abhängig von seinen Fahrern ist. Er bringt die Fahrer jedoch dazu, sich von ihm abhängig zu machen. Rafa scheint tatsächlich eine besondere Macht über diejenigen Menschen zu haben, die ihm nichts entgegensetzen können.
Es gab noch eine weitere Podiumsdiskussion. Daria und ich kamen spät hinzu. Worum es ging, erfuhren wir nicht. Einige Musiker und andere Leute aus der Szene sprachen über allerlei Merkwürdigkeiten. Ich betrachtete Rafa. Er saß wieder auf seinem Platz in unserer Nähe. Nun kaute ich Kaugummi; Daria hatte mir eins angeboten.
Ich entdeckte Mal, der die Treppe am Eingang hinaufkam. Ich stand auf und ging zu ihm.
"Ich schwanke noch, ob ich am Samstag zu 'Klangwerk' komme", sagte ich. "Wieviele wollen denn dann da sein?"
"Ich glaube, viele."
"Wie ist das denn am Morgen, ich meine, weil mein Zug doch erst um fünf fährt."
"Ach! Das ist doch klar, daß du mit zu uns kannst", sagte Mal. "Ich war an dem Morgen schlecht drauf, aber das bin ich immer."
"Also ist dir das nicht unangenehm, wenn ich mit euch mitgehe?"
"Nein! Wenn mir das unangenehm wäre, würde ich dich nicht bitten, zu kommen."
"Ja, wenn ihr das wollt, daß ich mit euch mitkomme, dann ... das ist ja was anderes. Dann komme ich wohl."
"Ja, komm' mal. Komm' mal."
Ich nahm wieder Platz. Unglücklicherweise setzte die Sängerin sich sehr bald so, daß Rafa sie nicht mehr verdeckte. Daria langweilte sich, und wir verließen den Saal und setzten uns wieder auf die Stufe im Foyer.
"Woher kennst du eigentlich Sator, U.W. und Ortfried?" fragteich Daria.
"Vorhin, als sie 'reinkamen, da hat mich der eine, der ... Sator, nach Feuer gefragt", antwortete sie. "Vorher kannte ich sie auch nicht weiter."
Welch ein Zufall ... Sator wollte ein Mädchen ansprechen und spielte mir eine Bekannte von Rafa in die Hände ...
Rafa und die Sängerin zogen mehrmals an uns vorbei, gemeinsam und getrennt. Einmal streckte ich den Arm nach Rafas Schulter aus, als er allein kam; ich erreichte ihn jedoch nicht.
"Zu weit", sagte ich.
Ein Mädchen unterhielt sich kurz mit Daria und mir. Es hat halblanges blondes Haar. Es trug ein Brautkleid. Ich habe es oft in der Hall gesehen.
"War schlecht, nicht?" sagte das Mädchen über das "W.E"-Interview.
"Ganz in alter Tradition", bestätigte ich. "Wie die Musik."
"Die treten nicht mehr auf", erzählte Daria mir etwas später. "Tessa hat mir das gesagt."
"Bleiben die eigentlich noch länger?" wollte ich wissen.
"Ja, ich glaube, die bleiben schon noch länger."
Ich fragte Xentrix, wie es kam, daß nicht er, sondern Cyrus die Diskussionen moderiert hatte.
"He - du hast doch auch gemerkt, ab wann es peinlich wurde?" kam es von ihm.
"Ja, das habe ich."
"Na, siehst du! Und eben da bin ich gegangen!"
Ich wollte von Xentrix auch wissen, weshalb Kappa zu "Dark Zone" kommen konnte, obwohl er in der Nacht im "Elizium" auflegen mußte.
"Am Mittwoch hat Kappa mir das gesagt, daß er hier hinwill, und da konnte ich sehen, wie ich innerhalb von drei Tagen einen Ersatz-DJ auftreibe", klagte Xentrix.
"Ich dachte schon, daß Kappa hierher kommen möchte. Weshalb mußte eigentlich nicht er sich um einen Ersatz-DJ kümmern, sondern du?"
"Weil ich im 'Elizium' Prokurist bin und er nur Angestellter", erklärte Xentrix.
"Na, Xentrix, vom Prokurist-Sein kannst du dir auch soviel kaufen. Für ein Eis reicht's, ne?"
"So ungefähr."
Über Xentrix und Kappa sagte ich nachher zu Daria:
"Es ist nicht so, daß die Gegner sind. Die haben nichts gegeneinander. Das ist nur diese Konkurrenz."
Im Dachgeschoß setzten Daria und ich uns auf einen Tisch neben einem Stand, an dem Kleider verkauft wurden. Ein Mädchen namens Zinnia gesellte sich zu uns.
"Wie heißt du denn nun?" fragte sie mich.
"Hetty."
"Hetty. Ach ... du kennst deinen Spitznamen aber?"
"Ja. 'Elektro-Betty'."
Es soll viel über mich gelästert werden; das bestätigte auch Daria.
"Wie tanzt die denn?" soll einer der häufigsten Sprüche sein.
Doch in nicht geringerem Maße soll ich die Leute begeistern.
"In der Szene wird über alle gelästert", sagte ich.
Das Lästern trifft mich nicht, weil es jeden betrifft.
Er wurde acht Uhr. Vor einer Tür in der Nähe des großen Saals fanden Daria und ich Brinkus, U.W. und Sator. Es war die Tür zum Presseraum. Rafa lief dort ebenfalls herum. Dolf und die Sängerin standen etwas entfernt. Jemand klebte einen Zettel an die Tür, auf dem stand:
"Präsentation W.E"
"Oh", dachte ich, "jetzt schon wieder? Soll das eine Pressekonferenz sein?"
Rafa kam mir zu nahe und wurde gestreichelt. Ich faßte nach seinem Kravattenknoten und strich dann über seine Schultern. Endlich konnte ich das tun, wenn es auch nur für wenige Augenblicke war. Ich nehme an, daß Rafa wünschte, gestreichelt zu werden und deshalb so dicht an mir vorbeiging. Vielleicht wollte er auch herausfinden, was ich vorhatte, als ich vergebens den Arm nach ihm ausstreckte.
Ich sah, daß die Sängerin langsam herankam.
"Dieses Mal hat sie's vielleicht doch gesehen", dachte ich, und ich sagte leise zu Daria und Brinkus:
"Vielleicht zerfleischt sie mich jetzt. Ich meine fast, ich fühle schon das Messer im Rücken. Vielleicht erschießt sie mich auch mit einer Spielzeugpistole."
Daria schien zu begreifen.
"Findest du den Rafa ... gut, ich meine ...", fragte sie.
"Ich liebe ihn", antwortete ich. "Das ist mehr."
"Ja, ja, das sagen auch andere Mädchen."
"Wer denn zum Beispiel?"
"Ach, so eine ... Velvet heißt die, glaube ich."
"Ah, ja. Nun, das mit Rafa und mir ist schon ... etwas mehr."
Ich versuchte, Daria zu beschreiben, was zwischen ihm und mir abläuft.
"Ich kenne ihn seit fast anderthalb Jahren. Die Sache geht immer weiter wie ein Fortsetzungsroman in der Zeitung."
Daria hatte nie etwas davon bemerkt.
"Ich hab' nur manchmal in der 'Halle' gesehen, wie der dir die Hand gegeben hat", sagte sie, "und ich hab' mich schon gewundert ... einmal grüßt er dich und einmal nicht ... aber das macht der ja bei vielen."
"Oh, nein, das ist schon sehr viel mehr. Das ist eine sehr ernste Sache zwischen uns."
"Also ... eine inoffizielle Beziehung."
"Genau. Eine inoffizielle Beziehung. Rafa hält das streng geheim. Der will nicht, daß die Leute das merken, und deshalb merken sie es auch nicht. Wir haben so eine Art Geheimsprache, die außer uns keiner versteht."
"Ja, dann ... kann das auch keiner mitkriegen ... Warum hält er das mit dir eigentlich geheim?" wollte Daria wissen.
"Angst", erklärte ich. "Er hat Angst vor mir."
"Angst vor dir?"
Daria war erstaunt.
"Ja, er fürchtet sich vor keinem Menschen mehr als vor mir. Diese Sängerin ist sehr aggressiv gegen mich", erzählte ich weiter und behielt die Sängerin im Auge, die eine Schrittlänge entfernt stand. "Ich meine, ich kann das auch irgendwo verstehen; es gibt für sie keinen gefährlicheren Menschen als mich."
Ich erzählte Daria den Traum, in dem mich die Sängerin in der Hall anfiel.
"Also, ich will von Rafa nichts", sagte Daria. "Der ist für mich ein Kumpel, weiter nichts."
"Ich nehme an, daß Rafa die Sängerin auch deshalb hat, weil sie ein Schutz vor mir ist. Er hat das zugegeben, als ich ihn danach gefragt habe."
"Na, ob man das so glauben kann, was Rafa erzählt ..."
"Es gibt Sachen, die glaube ich ihm, und es gibt Sachen, die glaube ich ihm nicht."
"Meinst du denn, daß das nochmal was wird mit Rafa und dir?"
"Hoffentlich. Ich bin mir meiner Sache auch deswegen recht sicher, weil ich Träume habe, die nachher wahr werden. Das, was ich träume, passiert nachher fast immer. Ich habe schon seltsame Dinge geträumt, die einige Wochen später tatsächlich wahr wurden. Vieles, was ich geträumt habe, ist schon passiert, aber Einiges steht noch aus."
"Wie machst du das eigentlich mit, daß er immer wieder zu Tessa geht?"
"Das geht ja auch immer wieder kaputt."
"Ich weiß nicht, er ist doch schon so lange mit Tessa zusammen."
"Lange? Der ist achtmal von ihr getrennt gewesen. Außerdem ... ich lasse mir von Rafa nichts bieten, nichts. Der kriegt alles so auf dem Tablett zurück, wie er es mir serviert hat. Ich sage, er hat viel hinter sich ... und noch mehr vor sich."
Daria war erstaunt, als ich ihr sagte, daß ich Rafa schon kannte, bevor er mit der Sängerin Verhältnisse hatte.
"Das mit der Sängerin hat er doch erst angefangen, als das zwischen ihm und mir richtig heftig wurde", erzählte ich.
Ich rechnete nicht damit, daß Daria mir das abkaufte. Ich halte die Geschichte von Rafa und mir im wahrsten Sinne des Wortes für unglaublich.
"Weiß er das?" fragte mich Daria. "Ich meine, daß du ihn gut findest."
"Was glaubst du, wie oft ich ihm das gesagt habe, und auf wieviele verschiedene Arten."
"Wie ist das eigentlich für dich - wie kannst du das so mitmachen, daß nie jemand weiß, daß zwischen Rafa und dir was läuft?"
"Das ist doch gar nicht wichtig, ob die Leute das wissen oder nicht", sagte ich. "Darum geht es mir ja überhaupt nicht. Die brauchen das doch gar nicht zu wissen. Es geht mir ja um ihn und nicht um die Leute."
Daria wollte auch wissen, ob ich es denn für möglich hielte, mich einem anderen Mann zuzuwenden.
"Nein, ganz sicher nicht", antwortete ich ihr. "Ich würde ja sonst gegen meine Gefühle handeln und damit gegen mich."
"Ja, du bleibst ihm eben treu, weil ... du willst eben keinen Freund haben, um einen Freund zu haben."
"Genau. Es geht mir um ihn, nicht darum, irgendeinen Freund zu haben. Ich hatte auch noch nie einen Freund. Rafa ist der Einzige, den ich lieben kann. Es gibt sonst keinen."
Daria sagte, sie habe mit fünfzehn ein paar "unwichtige Sachen" gehabt; sonst hätte es bei ihr ebenfalls nicht viel gegeben. Freilich wird Daria nicht ahnen, was es bedeutet, wenn ich sage, daß ich nie einen Freund hatte.
Ich erzählte Daria, daß ich der Macht meines Willens vertraue. Daria war der Ansicht, daß auch die Sängerin einen starken Willen hat.
"Ihr Wille ist nicht so stark wie der von Rafa", erwiderte ich. "Sie ist ihm unterlegen. Mein Wille ist sozusagen nicht zu brechen - und der von Rafa ebensowenig."
"Bist du denn nicht manchmal traurig?" fragte Daria.
"Na ja, es gehört halt dazu; ich kann halt nicht sagen, ich will ihn und das nicht", meinte ich.
Das Interview mit Project Pitchfork war ins Wasser gefallen ... stattdessen wurde das Publikum mit einer Welle von Rafa überschwemmt ... nur wollte sich keiner von dieser Musik beregnen lassen.
U.W., Sator und Ortfried winkten Leute herbei, damit der Presseraum sich ein wenig mehr füllte. Dann gingen die schon recht angetrunkenen Drei in den Presseraum hinein, und Daria folgte ihnen.
"Was soll ich denn tun ohne meine Leute?" zirpte ich. "Wo soll ich denn hin? Wo soll ich denn nur hin? Jetzt muß ich ja doch ..."
"Du nicht", hielt U.W. mich scherzend auf, als ich den anderen nachtrippelte. "Du nicht."
"Wo soll ich denn hin?" fragte ich entschuldigend. "Wo soll ich denn sonst hin? Ich kann doch nichts machen. Wenn meine Leute da alle 'reingehen, dann muß ich ja auch 'reingehen."
Es gab Holzbänke in dem Raum, und als ich über eine hinwegstieg, zerriß ich mir die Strumpfhose. Behutsam stieg ich wieder zurück und schlüpfte hinaus zur Toilette. Ich wechselte die Strumpfhose rasch. Als ich wiederkam, hatte die Präsentation noch immer nicht begonnen. Dolf stand vor der Tür. Er erblickte mich und klopfte, damit mir aufgetan würde.
U.W. stellte sich anschließend eine Zeitlang in die Tür, um sie offenzuhalten. Er wollte noch mehr Leute herlocken. Wie Brinkus und Sator trank er Bier und vergnügte sich aufs Beste. Ich sah ihn mit Dolf und der Sängerin sprechen. U.W. dürfte an der Sängerin reizen, daß sie meine Widersacherin ist. Ich glaube, U.W. findet es prickelnd, mit Menschen in Verbindung zu stehen, die feindlichen Lagern angehören.
Ich fragte mich, wie Daria es aufnahm, gleichzeitig mit mir und meiner Widersacherin zu tun zu haben.
Ich setzte mich zu Daria, hinter Brinkus und Sator, und ich setzte mich so, daß ich Rafa ungehindert sehen konnte. Die Band hatte sich auf einem kleinen Podest niedergelassen. Rafa saß bei der Gardine, im äußersten Winkel des Raumes. Ein Mischpult und die Spiegelbrille gaben ihm Schutz. Links von ihm saß Dolf, daneben die Sängerin und daneben Kappa.
Der Presseraum ist sehr klein und schäbig. Durch die vielfach unterteilten Fensterchen kann man die Elbe sehen. Das Haus liegt unmittelbar am Fluß. Es war heiß und stickig in dem Zimmer. Einige Fenster standen offen. Das zarte Blau des Himmels verwandelte sich allmählich in Abendröte. Die Umrisse eines Kirchturms wurden zum Schatten.
Ich hatte den Eindruck, daß man die dunstige Hitze allgemein als beklemmend empfand. Das galt freilich besonders für diejenigen, die ohnehin Grund hatten, sich bedrängt zu fühlen. Rafa saß mir mit seinem Gefolge in einer winzigen Kammer gegenüber. Ich meinte, die Spannung zwischen uns anfassen zu können. Rafa war mir so nahe, und er konnte doch kein Wort zu mir sagen.
"Geht's dir gut?" fragte mich U.W.
"Ja", antwortete ich. "Ja."
Ich betrachtete U.W.'s Frage als Zynismus.
Die Zuschauer, etwa fünfzehn an der Zahl, saßen über Eck um das Podest. Kappa richtete das Wort an sie. Zuerst fragte er:
"Ist hier jemand von der Presse da?"
Niemand meldete sich, und es gab Gelächter.
"Mensch!" rief U.W. lärmend-fröhlich. "Uns haben wir es doch zu verdanken, daß die Leute da sind! Wir haben doch die ganzen Leute da 'reingeschleppt!"
Er wollte nicht, daß Kappa sich beklagte.
Als Nächstes versuchte Kappa, herauszufinden, weshalb die Anwesenden überhaupt gekommen seien.
"In welche Richtung geht euer Interesse an dieser Veranstaltung?" fragte er.
Ich kicherte vor mich hin. Ich konnte von allen am wenigsten sagen, was mich hergeführt hatte, weil ich es nicht sagen durfte.
Einer mit Zopf antwortete dem Kappa:
"Ich bin hier, weil du mir gesagt hattest, daß die Musik gut ist. Jetzt bin ich hier."
Er kannte die Musik allerdings noch nicht.
"Wer von euch kennt denn W.E?" wollte Kappa wissen.
Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
"Ich niich' ... ich niich' ... ich hab' nie etwas davon gehört", sagte ich in das Gekichere um mich herum.
"Und wer von euch kennt 'W.E' nicht?" lautete die nächste Frage.
"Ich enthalte mich", wisperte ich.
Es wurde beschlossen, einige Stücke anzuspielen. Rafa regelte "Es ist an der Zeit" herein.
"Ouu, ouu, ouu", stöhnte ich mit gequälter Miene.
Rafa schob den Regler bald wieder zurück.
Vom großen Saal her hörte ich leise "Second Skin" von den Chameleons, das ich sehr schön finde. Ich wollte aber nicht gehen und tanzen; mein Platz war im Presseraum. Ich wollte bei Rafa sein. Ich wollte Rafa sehen, und ich wollte beobachten, wie er sich verhielt.
Er sagte kaum etwas. Die meiste Zeit rauchte und trank er. Kappa schien nur zu reden, um das Schweigen zu durchbrechen. Dabei ist er als Verbindung zum Label allenfalls mittelbar beteiligt an dem, was Rafa macht.
"Entweder man schreibt gar nicht über uns, oder wir werden verrissen", wußte Kappa. "Wir werden überall verrissen, weil wir auf Einfachheit bauen. Trotzdem, die CD's von unserem Label verkaufen sich. Daran sieht man, daß die Meinung der Presse noch lange nicht die Meinung des Publikums wiedergeben muß."
"Entweder man mag uns - oder man haßt uns", sagte Rafa über Presse und Publikum, "und so soll's auch sein."
Vielleicht wollte er vertuschen, daß ihm die Gleichgültigkeit und Ablehnung zu schaffen macht, auf die seine Musik stößt.
"Kennt jemand von euch Paranoid?" fragte Kappa.
Mehrere meldeten sich, auch ich.
"Wenn man kurz in eine CD von Paranoid 'reinhört, klingt das gleich perfekt", meinte Kappa. "So ist das bei W.E nicht. Die Musik von W.E wird mit einfacher Technik gemacht. Wenn man aber länger zuhört, ist W.E um hundert Prozent besser. Das ist die Musik aus dem Untergrund, aus den Kellern. Diese Musik wird im Schlafzimmer aufgenommen."
Ich sah Rafa in seinem Winkel sitzen und versuchte andauernd, in seine Augen zu blicken. Ich konnte nie feststellen, ob ich seine Augen erreichte und ob er meinen Blick erwiderte. Zu gut war der Schutz der Spiegelbrille. Es gab jedoch einen Hinweis darauf, daß Rafa mich ebenfalls ansah: wenn ich meine Augen auf ihn richtete und er sich mir zuwandte, saß nicht nur ich unbewegt wie eine lauernde Spinne, sondern auch er rührte sich nicht.
Die Sängerin konnte sehen, in welche Richtung ich schaute. Ich sah sie nie an; ich tat, als sei sie nicht vorhanden. Ebenso machte ich es mit Dolf.
Was Dolf sagte, war recht allgemein gehalten. Ich vergaß seine Worte fast so schnell, wie er sie aussprach.
Gelegentlich gab es Fragen an Rafa, etwa die, ob er sich vorstellen könne, ein Nebenprojekt zu haben. Er wußte erst nicht, was damit gemeint sei.
"Ein Projekt wie Delerium von Bill Leeb", wurde ihm erklärt. "Ein Projekt, in dem ihr andere Musik macht."
"Ach, daß wir andere Musik machen?" wiederholte Rafa.
Er beantwortete die Frage nicht eindeutig.
Ich glaube, Rafa kann Musik, die neuer als die Neue Welle ist, innerlich nicht zulassen. Für ihn gibt es nichts Neueres, Fortschrittlicheres als das längst Vergangene. Er lebt noch immer mitten in den Achtzigern.
"Ab 1986 ist die Musik tot", behauptete er. "Da kommt nur noch... 'Didelit' und so... Nichts Neues mehr. Deshalb muß das Alte wieder neu belebt werden."
Ich denke, für Rafa war die Musik schon Ende1984 tot; sie starb mit seinem Vater. Rafa muß damals aufgehört haben, nach vorn zu schauen. Die Musik scheint für ihn eine Totenbeschwörung darzustellen, mit der er seinen Vater wieder lebendig machen möchte.
Die herausfordernden Äußerungen von Rafa bescherten ihm Kritik. Sein Kritiker war der Blonde, der sich bei der Podiumsdiskussion erhitzt hatte.
"Eine Frage mal", unterbrach ihn Rafa, "eine Frage mal: Wie alt bist du?"
"Neunundzwanzig."
"Hmm - ja. Ja. Ja."
Rafa verschwieg wohlweislich, daß er sechs Jahre jünger ist. Ich lachte vor mich hin. Schon im letzten Jahr hat Rafa seine Angreifer nach ihrem Alter gefragt, in der Hoffnung, sie bloßstellen zu können. Es ist eine Methode, die leicht zu einer peinlichen Niederlage führt.
U.W. sagte auch etwas über alte und neuere Musik.
"Die Musik heute, die wird ja immer schneller", meinte er.
Rafa sagte daraufhin, nicht alles Neue sei wie Leæther Strip; es gebe schließlich auch Sachen wie Qntal, und die würden das schon widerlegen.
Ich finde, dafür, daß Rafa von der Musik der Neunziger so wenig hält, weiß er recht viel über sie.
Als davon die Rede war, wie gut W.E denn sei, zeigte Rafa Unsicherheit:
"Na ja, 'gut' ... ich weiß nicht ..."
Kappa wurde seinem Kritiker gegenüber fast unterwürfig.
"W.E ist nicht gut", sagte er. "Mozart ist gut. Beethoven ist gut."
Mehrere widersprachen, weil sie Mozart nicht mögen, und auch ich sagte:
"Ich finde Mozart nicht gut."
Die Sängerin blieb fast gänzlich stumm. Einmal sprach ihr der Neunundzwanzigjährige seine Verehrung aus:
"Echt, du paßt voll zur Band. Schöne Haare ..."
"Ja?" sagte die Sängerin lächelnd, und das war alles, was sie beisteuerte.
Kappa schien es als tröstlich zu empfinden, daß viele berühmte Bands in ihrer Anfangszeit geschmäht worden sind. Er redete über Kraftwerk.
"Das erste Bekannte waren doch die 'Roboter'", sagte ich.
"'Autobahn'", berichtigte mich Sator.
"Das Erste, was ich kannte", formte ich meinen Satz zurecht.
Als ich Rafa wieder einmal ins Gesicht sah, wurde ich von Kappa angesprochen:
"Hetty."
Ich wandte mich ihm zu, bemüht, durch die Sängerin hindurchzusehen.
"Du heißt doch Hetty, nicht?" kam es von Kappa.
"Ja, so heiß' ich."
"Ja, wir kennen uns doch auch schon ... soundso lange ..."
"Ja, sicher, wir waren doch auch mal im 'Nachtbarhaus', '92, Februar; das weiß ich noch."
"Erklär' den Leuten das doch mal", bat mich Kappa, "wie das war, mit den Anfängen, damals, in den Achtzigern. Du weißt das doch auch noch, wie das war, als das losging mit der Musik und so weiter, und wie das mit den kleinen Bands war."
"Sicher, das ist immer so, wenn etwas neu ist", sagte ich mit sanftem Lächeln, "daß es das dann auch schwer hat, durchzukommen. Es hängt dann auch immer sehr davon ab im Endeffekt, was das Publikum will und wie auch Werbung gemacht wird dafür. Und ... natürlich kann man auch Trends setzen. Man muß also nicht nur Trends übernehmen, man kann sie auch setzen."
Ich redete mit Kappa wie mit jemandem, dem ich künstlerisch nicht viel zutraue, den ich aber gleichzeitig ermutigen möchte.
Einen kleinen Lichtblick gab es für die Leute von Rafas Label: einer aus dem Publikum warf Rafa einen Zwanzigmarkschein hin und durfte sich eine CD nehmen. Da hatten sie tatsächlich jemanden für sich gewonnen.
Als wir nach der Veranstaltung vor der Tür standen, meinte Daria:
"War gut, nicht? Das jetzt eben?"
"Ja, doch, doch, ja", stimmte ich ihr zu.
"Ja, das ist ja voll schlecht gelaufen für die."
"Ja."
"Deshalb gehen sie jetzt wohl auch."
"Ah, ja."
Daria gefällt die Musik, die Rafa macht. Ich erzählte ihr, daß mir nur "Ganz in Weiß" und "Der strahlende Held" gefallen und dann noch "Ich träum' von dir", was bei diesem Letzteren allerdings damit zusammenhängen könnte, daß Rafa es mir vorgespielt hat, als er mit zu mir gehen wollte.
"Jede Art von Musik wird von irgendwem gemocht", sagte ich zu Daria. "Nur, ich denke, bei Rafa gab es einen Arrest. Er ist auf einer bestimmten Stufe stehengeblieben und entwickelt sich nicht weiter. Da ist etwas passiert in seiner Vergangenheit."
"Vielleicht hatte das mit den Mädchen zu tun, mit denen der ...", vermutete Daria.
"Nein, das war früher", widersprach ich. "Das war in der Kindheit. Sonst wäre der nicht so."
Die Ausrüstung der Band wurde aus dem Presseraum getragen. Rafa ging mehrmals dicht an mir vorbei. Ich konnte ihn nie anfassen, weil die Sängerin ihn stets begleitete. Schließlich standen alle auf einem Haufen, Kappa, Rafa, die Sängerin, Dolf, Sator, Brinkus, U.W., Daria und ich und einige Fremde. Ich sah ein silbernes Jäckchen auf dem Flur liegen, das jemand verloren hatte, und ich löste mich aus dem Haufen und brachte es zur Kasse. Als ich zurückkam, hatte sich Rafa vor meinen Mantel gestellt. Zwischen ihm und einem Fremden war eine Lücke. Ich schob mich in diese Lücke hinein, wobei ich an Rafas Sakko entlangglitt. Mehr konnte ich nicht wagen, wenn ich die Sängerin nicht zum Angriff reizen wollte.
Wenig später gingen Rafa, Dolf und die Sängerin fort.
"Ich glaube, die hauen jetzt auch ab", sagte Daria. "Ja, die hauen ab."
Rafa hatte bei "Dark Zone" seinen Pflichten Genüge getan und konnte davoneilen.
Daria zog nicht einmal in Erwägung, mitzufahren, obwohl sie mit den Dreien hergekommen war. Sie hatte sich dafür entschieden, mit mir den Zug zu nehmen.
"Wir setzen uns dann aber für uns in ein Abteil?" wünschte sie. "Ich weiß nicht, Brinkus und U.W. und der ... wie heißt der?"
"Sator."
"... ich weiß nicht, die sind wohl schon ziemlich voll, und wie die dann sind ..."
Ich nahm an, daß Kappa ebenfalls nach Hause fuhr. Ich sah ihn nicht mehr. Da hatte er sich nun für den Abend freigenommen und war doch nicht auf der Tanzveranstaltung in HH.
Daria war sehr gespannt auf das, was ich über Rafa und mich erzählen konnte.
"Du mußt mir das aber nicht erzählen", bremste sie.
"Nein, ich erzähle dir sowieso nur, was ich erzählen möchte, sonst nichts", sagte ich.
Daria hat sich schon einmal von jemandem etwas nicht erzählen lassen, weil sie befürchtete, von der Sängerin ausgefragt zu werden und das Anvertraute preiszugeben. Was ich aber Daria erzählte, durfte die Sängerin ruhig wissen. Ich wollte es nicht für mich behalten, sondern unter die Menschen streuen.
Ab und zu kamen Leute vorbei, die uns ansprachen; wenn sie wieder fort waren, sagte Daria gleich:
"Weiter! Weiter! Erzähl' weiter!"
Daria war schon bei Rafa zu Besuch.
"Da hat der mir so Fotos gezeigt, unter anderem von so einer Beerdigung. Da sagte der mir, daß sein Vater gestorben wäre, als er wohl so vierzehn war ..."
"Dreizehn ..."
"... und das hat ihn wohl ziemlich mitgenommen."
"Oh, ja", bestätigte ich, "mehr als das. Das ist auch der Grund für den Arrest. Deshalb entwickelt er sich nicht weiter."
"Ja, ich weiß nicht, für Jungen ... Ein Mädchen braucht einen Vater vielleicht nicht so; das braucht vielleicht eher eine Mutter."
"Du ... ich glaube, der hat seinen Vater einfach tief und innig geliebt, das ist es."
"Ich glaub', der will das gar nicht, was wirklich Festes", vermutete Daria. "Ich glaub', Beziehungen sind bei dem immer irgendwie oberflächlich.
'Heiraten - das mach' ich vielleicht, wenn ich fünfzig bin', hat er gesagt.
Und ob der so alt wird ..."
"Der will Kinder. Wußtest du das?"
"Ach, nein", entgegnete Daria lachend. "Über sowas hab' ich mit ihm nicht gesprochen."
"Er hat mir gesagt, daß er Kinder will."
"Wie soll denn das gehen, daß man Kinder will und gar keine feste Beziehung?"
"Ja, das ist genau der Punkt. Das ist der Punkt. Da packe ich ihn jetzt gerade. Da bin ich jetzt gerade bei. Da habe ich schon angefangen, und da mache ich auch noch weiter."
Daria erzählte mir von dem Konzert in HI., das Rafa Ende April gegeben hat:
"Bei 'Ganz in Weiß' liegt ja so eine Braut im Sarg, und das war diesmal ich."
"Was hat denn die Sängerin gemacht?"
"Die hat Keyboard gespielt. Jedenfalls, Rafa hat uns andauernd 'rumgescheucht. Mit dem Kleid, das war auch nervig. Das ist ja so ein Stretchkleid, und ich mußte mich da umziehen ... und dann hatte ich Schuhe mit Absätzen an und Angst, zu kippeln. Ich war so aufgeregt in meinem Sarg ... Rafa hatte voll schlechte Laune."
"Ja, klar, ich war ja nicht da."
"Hattest du ihm das erzählt?"
"Nein, das ging ja nicht. Aber das kann der sich an den Fingern abzählen, daß ich nicht nach HI. fahre, um ein Konzert von ihm zu sehen."
"Ich meine, Rafa ist ja nun schon so lange mit Tessa zusammen", sagte Daria. "Ich weiß nicht, wenn die schon so eine feste Beziehung haben ..."
"Das ist keine dauernde Beziehung", erwiderte ich. "Die bricht alle paar Wochen. Die sind achtmal getrennt gewesen. Die Beziehung ist nicht heile, wenn die sich innerhalb von einem Jahr achtmal trennen."
"Nein, heile ist die dann nicht."
"Immer, wenn er gerade die Freundin nicht hat, dann kommt er an."
"Ach, deshalb weißt du auch so genau, wann immer ... Ich hab' mich schon gewundert, als du so erzählt hast, dann und dann und dann ..."
"Ich kann an bestimmten Zeichen sehen, ob er mit der Sängerin zusammen ist. Wenn sie zum Beispiel das Kleid anhat, ist sie mit ihm zusammen."
"Das Kleid zieht sie ja nur zu Auftritten an."
"Genau. Wenn sie das Kleid anhat, tritt sie auf. Wenn sie auftritt, ist sie mit Rafa zusammen."
"In HI. ist sie in Hosen aufgetreten."
Daria konnte sich nicht genug wundern über mein Verhalten Rafa gegenüber.
"Wie machst du das eigentlich mit?" fragte sie. "Ich meine, weil das ja doch immer wieder aufs Gleiche 'rausläuft."
"Das läuft ja nicht aufs Gleiche 'raus. Es ändert sich ja dauernd was."
"Na, aber er geht doch immer wieder zu Tessa zurück."
"Ja, und er kommt auch immer wieder zu mir."
Ich wollte herausfinden, inwieweit es die Sängerin belastet, was Rafa tut.
"Klagt sie denn nie?" forschte ich. "Sagt sie denn nie:
'Oh, der Rafa, der war wieder so gemein, so link, und der hat das gemacht und das ...'"
"Eigentlich ... nein."
Das fand ich seltsam. Ich sprach mit Daria auch über eine andere Merkwürdigkeit: daß die Sängerin noch immer bei Rafa bleibt und ihn nicht fortstößt.
"Vielleicht macht sie weiter, weil sie weiß, daß er immer wieder zu ihr zurückkommt", überlegte Daria.
"Ja, man kann es ja auch umgekehrt sehen: er kommt immer wieder zu mir zurück", erwiderte ich. "Man könnte sich auch fragen, warum die Sängerin das so lange mitmacht."
"Na, weil sie ihn wohl liebt."
"Liebe ... ich kann dazu nicht viel sagen", meinte ich. "Ich habe die Beziehung von Rafa und der Sängerin noch nicht so analysieren können."
"Ja, weil du ja auch nicht mit Tessa redest."
"Nein, und ich will und werde auch nicht mit ihr sprechen."
"Hat sie denn schon mal etwas zu dir gesagt?"
"Ja. Sie hat mich angeschrien. Dreimal. Das eine Mal war vor einem Jahr. Da habe ich noch nicht gewußt, daß Rafa mit ihr zusammen war, und er hat es mir auch nicht gesagt. Ich habe seine Wange an meine gelegt, und da kam die Sängerin von hinten und hat gesagt:
'Sammal, kannste vielleicht ma' damit aufhör'n, ihn anzupacken?'
Da war natürlich klar, was los war. Rafa ist weggelaufen, und ich habe ihm eine Standpauke gehalten.
Das zweite Mal war im Sommer. Ich bin ins 'Elizium' gekommen, und Rafa saß da, wo ich sonst meine Sachen habe. Er hat mich erwartet und mir entgegengelächelt. Ich wußte ja schon, daß ich Rafa nicht anfassen darf, und ich habe ihn nicht angefaßt. Ich habe ihn nur angeguckt und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Da schreit mir die Sängerin ins Genick:
'Wenn du nicht gleich den Geier machst, mach' ich dich zu Brei!'"
"Das ist seltsam; die ist sonst gar nicht so, wenn Rafa mit anderen Mädchen redet ... daß sie dann so wütend wird und so ..."
"Die anderen Mädchen sind ja auch nicht gefährlich für sie. Sie macht das nur, weil sie weiß, daß ich über Rafa mehr Macht habe als sie. - Jedenfalls, das dritte Mal war ... da hatte Rafa in einer Nacht wieder mit mir reden können, und eine Woche später habe ich wieder mit ihm geredet. Ich habe gedacht, ich kann das. Da schreit die Sängerin:
'Alter Schwede, noch ein Mal!'
Und im Oktober ... da war Rafa von der Sängerin getrennt gewesen, und ich wußte noch nicht, daß er wieder mit ihr zusammen war, und er hat mir das auch nicht gesagt. Ich bin ins 'Elizium' gekommen, da stand er oben an der Treppe, und ich bin zu ihm hochgegangen und habe mit ihm geredet. Da sehe ich auf einmal die Sängerin; die hat hinten auf der Bank gesessen. Sie kommt näher und näher und bläst mir Zigarettenrauch ins Genick. Ich habe etwas geahnt und Rafa gefragt:
'Hast du eine Freundin?'
Er:
'Ja.'
Ich:
'Dann mußt du auf meine Gesellschaft verzichten.'
- und will gehen.
Da hat mich die Sängerin die Treppe 'runtergeschmissen, es zumindest versucht. Rafa kam dann bald nach unten und wollte sich für die Sängerin entschuldigen. Ich habe gemeint, er müßte eigentlich sich entschuldigen. Ich habe ihm wieder eine fürchterliche Predigt gehalten. Ein paar Minuten später war er aus dem 'Elizium' weg."
Daria fand die Eifersucht der Sängerin übertrieben. Ich sagte ihr, daß Eifersucht und Eifersucht für mich nicht das Gleiche sind. Ich erzählte von den beiden Formen der Eifersucht, die ich unterscheide, der Eifersucht des Liebenden, die ich bei Rafa erlebe und der Eifersucht des Besitzenden, die ich bei der Sängerin beobachte. Daria konnte das nachvollziehen. Dennoch blieb sie bei ihrer Ansicht über die Sängerin:
"Na ja, aber ich denke, sie mag ihn schon."
"Sie mag ihn, das kann sein, aber ... ich kann mir vorstellen, daß da auch eine gewisse Form des Fanatismus im Spiel sein könnte."
Ich sagte Daria, daß Rafa eifersüchtig wird, wenn ich mit Männern spreche.
"Er hat immer Angst davor, daß ich noch jemand anderen haben könnte."
"Er kann das wohl nicht begreifen, daß du so auf ihn wartest", meinte Daria. "Das ist auch ungewöhnlich, daß du nur ihn haben willst und nicht zu jemand anderem gehst."
Wir machten uns auf den Weg zum Tanzsaal. Bevor wir in den Lärm und die Dunkelheit tauchten, sagte ich noch:
"Ich merke mir alles, was zwischen mir und Rafa passiert, weil ich es nicht vergessen möchte. Es ist zu wichtig dazu."
Die Musik gefiel mir, und ich tanzte die meiste Zeit. Sogar "King Volcano" von Bauhaus wurde gespielt, ein Stück, das mystisch und rituell klingt und mich an die Zeit vor acht Jahren erinnert, als ich die Szene für mich entdeckt habe.
Meine Wut auf Rafa belastete mich sehr. Auch mein Abscheu vor der Sängerin belastete mich. Ich wußte nicht, ob ich gegen sie Gewalt ausüben wollte, durfte und konnte. Ich wußte nicht, inwieweit die Sängerin überhaupt eine Gegnerin für mich war.
Daria hielt vergebens Ausschau nach Brinkus, Sators und U.W. Auch ich sah die drei nirgendwo.
"Die sind selber schuld, wenn sie weglaufen", sagte ich. "Dann müssen sie auch sehen, wo sie bleiben."
Ich nahm an, daß die Jungen auf Frauensuche waren.
"Weißt du, was ich jetzt vermisse?" meinte Daria zu dem Programm. "Die Sprüche durchs Mikro: 'Rafa! Rafa! Kappa! Kappa!'"
"Ach, ich finde es eigentlich eher nervig, wenn Leute durchs Mikro quatschen", sagte ich. "Natürlich, in der 'Halle' gehört es gewissermaßen zur Atmosphäre."
Ich traf bei "Dark Zone" auch Leon. Ich grüßte ihn auf der Tanzfläche, und er gab sich sehr manieriert. Er war schon einmal an mir vorbeigekommen, als ich in der Eingangshalle mit Daria sprach. Er wollte sich mit mir unterhalten, doch ich vertröstete ihn.
Gegen ein Uhr fragte mich Daria:
"Bist du müde?"
"Ja."
"Ich bin nämlich voll fertig ..."
"Ja, mir geht es auch nicht gut."
"Sie ist ja heute auch wieder bei ihm", sagte Daria. "Bist du da nicht eifersüchtig?"
"Ja, sicher bin ich eifersüchtig. Aber was soll ich machen?"
Ich war sehr eifersüchtig, ebenso eifersüchtig wie wütend. Ich war ratlos, weil ich nicht wußte, was ich mit meiner Wut machen sollte. Der Sängerin konnte diese Wut nicht gelten; sie verdiente sie nicht; die Wut galt Rafa. Ich muß mit einem Menschen streiten, den ich streicheln will, und das verträgt sich schlecht. Rafa befindet sich in einem ähnlichen Zwiespalt. Er will mich nicht verletzen und verletzt mich doch. Etwas in ihm betrachtet mich als gefährlichen Angreifer, dessen er sich zu erwehren hat.
"Er muß leiden", sagte ich schließlich zu mir. "Er muß leiden, um das abzubüßen, was er mir tut."
Wenn er für sein Verhalten bezahlt, erlöst er mich von meiner Wut und sich von seiner Schuld; es wäre also jedem gedient.
Ich führte mir vor Augen, daß ich Rafa bereits leiden lasse, und das beruhigte mich etwas.
"Na? Bist du traurig?" fragte mich Daria.
"Na, ja ... es geht so ..."
"Ja, du siehst nämlich so aus."
"Na, ja ... ich denke nach, und ich habe auch gute Ergebnisse dabei."
"Und, an was denkst du?"
"Ja, ich gehe gerade so meinen Gefühlen hinterher. Das ist wie eine Spurensuche. Man verfolgt dann so seine Empfindungen ..."
"Ich meine, das sollte jeder irgendwann in seinem Leben machen."
"Ich mache es die ganze Zeit."
"Vielleicht ändert sich ja nochmal was in der Sache von dir und ihm", tröstete Daria.
"Da ändert sich dauernd was", sagte ich. "Es ist ja nicht so, daß ich untätig warte, sondern ich tu' ja was, die ganze Zeit."
"Was denn? Rufst du ihn an?"
"Nein! Oh, nein! Das mach' ich nur, wenn er mich drum bittet. Er hat mich auch schon darum gebeten, und ich habe ihn angerufen."
"Und, war er da?"
"Ja, er war da. - Nein, ich ... denke nach, verrechne, überlege ... und werte aus ... und wenn er in meine Nähe kommt, dann handle ich."
"Ja, das war auch da, wo du den angefaßt hast, ne?"
"Ja, das war auch da, wo ich ihn angefaßt habe", bestätigte ich. "Das war auch sowas."
"Einmal hast du ihn ja nicht erwischt."
"Ja, da war er zu weit weg. - Wenn er die Freundin hat, kann ich ja nicht mit ihm sprechen. Dann geht das ja nicht."
"Der hat wohl Angst, daß Tessa dir was antut."
"Ja!" sagte ich mit dem Gefühl, verstanden worden zu sein. "Er will, daß mir nichts geschieht."
"Ich find' Tessa eigentlich immer voll lieb. Ich wußte gar nicht, daß die so böse werden kann."
"Oh, doch. Furcht-er-regend."
Es wurde zwei Uhr, bis Daria und ich "Dark Zone" verließen. Auf der Suche nach einem geöffneten "McGlutamat" gingen wir durch die nächtliche Innenstadt.
"Jetzt ein Auto haben", seufzte Daria. "Ich hätte ja den Führerschein schon machen können. Ich bin ja achtzehn. Wenn ich ein Auto hätte, müßte ich nicht immer diese Streitereien mitkriegen von Rafa und Tessa. Tessa fährt ja immer. Die tut mir dann auch voll leid, darf ja auch nichts trinken, muß immer fahren. Dolf kann nicht fahren, und Rafa fährt auch nie. Der will auch nicht, hat auch kein Interesse daran ..."
"Natürlich; er will trinken."
"Ja, der trinkt auch."
"Ja."
"Ich weiß auch gar nicht, ob der überhaupt noch einen Führerschein hat", sagte Daria, "ob sie ihm den nicht abgenommen haben."
"Ach, wegen dem Alkohol."
"Ja."
Zu dem Hin und Her zwischen Rafa und mir, das mittlerweile anderthalb Jahre währt, fragte Daria:
"Wirst du denn nicht ungeduldig? Wird das dir nicht zu lang?"
"Ich habe ja noch viel länger nach ihm gesucht", entgegnete ich. "Ich habe ja dreizehneinhalb Jahre nach ihm gesucht. Da kommt es mir auf zehn Jahre mehr oder weniger auch nicht mehr an. Da spielt dann Zeit keine Rolle mehr."
"Nein, da spielt Zeit keine Rolle mehr."
"Das ist dann egal. Ich mache mir keine Gedanken darüber. Es geht für mich einfach um das Annehmen der Tatsache, daß er es eben ist und daß ich für ihn diese Gefühle habe."
"Hast du denn eigentlich noch die Hoffnung, daß das mal was wird?"
"Ich denke, wenn man keine Hoffnung mehr hat, dann kann man sich auch erschießen", sagte ich. "Dann braucht man gar nicht erst zu leben."
"Ja, das stimmt."
Ich erzählte Daria, daß nicht nur Rafa schwierig sei, sondern auch ich, und daß er es mit mir nicht leichter hätte als ich mit ihm.
"Eine Zerreißprobe - das ist es, was er mit mir macht", meinte ich. "Ich stelle ihn aber auch auf eine Zerreißprobe. Das, was ich mit ihm mache, ist nicht weniger als das, was er mit mir macht."
Am ZOB fanden wir einen geöffneten "McGlutamat", ein recht neues, rundes Gebäude.
"Einen Vorteil habe ich aber schon von vornherein", sagte ich zu Daria, als wir hineingingen. "Ich bin ehrlich zu mir selber und er nicht."
"Ja, der hat voll die Komplexe. Da habe ich mit Dolf auch mal über ihn geredet. Der hat voll die Komplexe."
Wir setzten uns an einen Tisch, neben dem ein Spiegel hing. So konnte ich mich stets betrachten. Das Schnellrestaurant war fast leer, doch Lästerzungen gab es immer noch.
"Der Tod sei mit dir", sagte jemand, als ich mein Essen holte.
Ein andermal hieß es:
"Edel geht die Welt zugrunde."
Daria empfindet solche Sprüche als belastend. Mich stören sie auch; trotzdem muß ich lächeln, wenn ich die Menschen so reden höre.
Ich fragte Daria, weshalb Rafa krankgeschrieben sei.
"Das ist wohl wegen seinem Rücken", meinte sie. "Das hat der wohl von seiner Arbeit."
"Ja, sicher, das strengt ja voll an."
Mir kam ein Gedanke. Konnte es sein, daß Rafa sich nicht nur wegen seines Rückens krankschreiben ließ? Hat er am Ende Schwierigkeiten auf der Arbeit? Oder will er aus einem anderen Grund nicht mehr zur Arbeit gehen?
Daria dachte ursprünglich, Rafa sei schon seit mehreren Jahren mit der Sängerin zusammen.
"Ich habe bei Rafa Fotos gesehen, von denen hat er gesagt, die wären drei, vier Jahre alt, und da waren Rafa und Tessa drauf. Da habe ich so gefragt:
'Ist das deine Freundin?'
Und er:
'Ja.'"
"Ja, gut, dann wird er sie schon länger kennen", vermutete ich. "Aber der ist nicht so lange mit ihr zusammen. Das hat erst letztes Frühjahr angefangen, als das mit Rafa und mir heftiger wurde."
"Ich verstehe auch nicht, warum Tessa überhaupt ins 'Elizium' gegangen ist", sagte Daria. "Sie hat doch da eigentlich auch so niemanden da."
" Ja, das mag sein. Sie ist mir da früher auch nie aufgefallen."
"Die ist sonst immer in HF. im 'Zone' und im 'Voices of the dead' gewesen."
"Rafa hat sie mit ins 'Elizium' gebracht", meinte ich. "Als ich die gesehen habe da, mit Rafa im 'Elizium', da war ich völlig außer mir. Ich habe gemerkt, da ist was."
"Wie findest du Tessa eigentlich so vom Äußeren?" fragte mich Daria.
"Ja, meinst du jetzt die Anlagen, die dem Menschen von der Natur mitgegeben werden?" wollte ich wissen. "Oder ist es jetzt auch, wie sie sich zurechtmacht?"
"Nee, nee, vor allen Dingen, wie sie so zurechtgemacht ist und so."
Ich zögerte.
"Ich find' die nämlich ... irgendwie ... voll faszinierend", sagte Daria schwärmerisch. "Nicht?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Für mich ... hat sie ... etwas ... von einem ... leichten Mädchen an sich", versuchte ich, meine Meinung über die Sängerin in sachliche Worte zu fassen. "In ihrer Art, einfach wie sie sich auch gibt und bewegt, und ... davon ... wird mir, wenn ich sie so sehe, körperlich übel. Ich kann da nicht hinsehen."
Daria glaubte, ich hätte die Sängerin vor einiger Zeit beobachtet.
"Ich beobachte die Sängerin nicht", sagte ich. "Ich habe wahrscheinlich Rafa beobachtet, der in der Nähe gestanden hat. Wenn ich die Sängerin ansehe, wird mir übel. Sie ist mir widerlich, aber im neutralen Sinne. Sie ist das genaue Gegenteil von mir ..."
"Ja."
"Sie ist mir entgegengesetzt; man kann auch sagen, zuwider. Sie hat etwas in ihrer Art, in ihrer Ausstrahlung, in ihrem Blick, das mir sagt, sie ist aggressiv ..."
"Gefühlskalt ..."
"Ja."
"Stört es dich, daß ich mich mit Tessa so gut verstehe?" fragte Daria.
"Was kannst du denn dafür, daß du dich mit ihr verstehst?" entgegnete ich. "Kannst du doch gar nichts dafür. Ich kann dich doch deswegen nicht aburteilen."
"Ich weiß, die Leute lästern unheimlich viel über Tessa."
"Es wird aber über alle gelästert, über mich auch."
"Ja, über dich ziehen auch viele her."
"Das sind oft Vorurteile."
"Redet die Sängerin eigentlich über mich?" wollte ich wissen.
Daria erzählte:
"Einmal in einer Runde - da habe ich Geburtstag gehabt, und da waren auch Dolf und die Sängerin - und Rafa natürlich. Und da ist das Gespräch auch auf Elektro-Betty gekommen. Und da hat Tessa nur zu mir gesagt:
'Ach, du kennst den Spitznamen auch?'"
"Sonst hat sie sich nicht über mich geäußert?"
"Nein."
"Sie schweigt darüber, weil das für sie vielleicht ein empfindlicher Punkt ist."
"Vorhin habe ich noch mit ihr auf der Treppe gesessen", erzählte Daria. "Hast du uns da gesehen?"
"Nein."
Die Sängerin soll in gedrückter Stimmung gewesen sein.
"Ich habe sie gefragt, was sie hat.
'Ach, nichts.'"
"Sie wollte nicht sagen, was los ist?" fragte ich nach.
"Nein, sie hat nichts gesagt."
Daria und ich sprachen auch davon, daß über Rafa viel gelästert wird. Ich meinte, daß Rafa sich mit Absicht unbeliebt macht, um Aufmerksamkeit zu erregen, und daß er sich deswegen auch verstellt.
"Der kann sich gut verstellen", sagte Daria.
"Der kann sich hervorragend verstellen", bestätigte ich. "Ich habe es aber gelernt, die Maske zu ignorieren und zu zerbröseln. Rafa kann am Telefon unheimlich kalt wirken."
"Ja?" wunderte sich Daria.
"Seine Stimme kann kalt klingen wie ein Kühlschrank", fuhr ich fort. "Damit will er seine Unsicherheit verbergen. Ich habe es schon mehrmals geschafft, dieses Gehabe aufzubrechen."
"Viele Leute haben keine Lust, hinter die Masken zu sehen", meinte Daria, und ich gab ihr recht.
Über Rafas kindlich-provokantes Verhalten sagte ich:
"Innerlich ist der dreizehn."
"So alt?" erwiderte Daria. "Mir kommt der manchmal noch jünger vor."
"Er hängt sehr an seiner Vergangenheit fest."
"'Mit siebzehn', hat er erzählt, 'da war das noch alles so toll, da hatte ich meine erste Freundin ...'"
Wehmütig denkt Rafa zurück an eine scheinbar heile Welt.
"Warst du denn schon mal bei ihm?" erkundigte sich Daria.
"Ja. Im Februar '93."
"Mensch, dann kennst du ja SHG.!"
"Ja, aber nur bei Dunkelheit."
Ich erzählte Daria, wie ich unfreiwillig bei Rafa übernachtete:
"Es ist überhaupt nichts passiert, außer daß ich mich in ihn verliebt habe."
Daria wollte wissen, wie Rafas Mutter auf meinen Besuch reagiert hat.
"Die habe ich gar nicht gesehen", antwortete ich. "Von der habe ich nicht das Geringste gesehen, als ich da war. Ich kenne Rafas Mutter nur als Stimme am Telefon."
"Und?"
"Sie klingt ganz freundlich. Die Mutter hat mich einmal auch gefragt, ob sie Rafa was ausrichten soll."
"Das finde ich nett, wenn sie das anbietet", meinte Daria. "Nicht so, daß man da groß bitten muß ..."
"Ich würde die Mutter schon ganz gerne kennenlernen, einfach um sie zu kennen", sagte ich.
"Klar, wenn dir Rafa so wichtig ist ..."
Ich erzählte Daria auch, daß Rafa schon bei mir war und daß es einige Anstrengung kostete, ihn in meine Wohnung zu bringen. Das Wort "Angst" verwendete ich nicht mehr; Daria sollte selbst darauf kommen, daß Rafa sich davor fürchtete, bei mir zu übernachten. Ich erwähnte aber, daß Rafa und ich um seinen Personalausweis kämpften:
"Wenn ich seinen Perso hatte, wußte ich definitiv, wie alt er ist. Und er wollte ja nicht, daß ich das erfahre. Er hat immer einen riesigen Aufstand um sein Alter gemacht."
"Komisch", meinte Daria, "ich brauchte ihn nur zu fragen:
'Wie alt bist du?'
Und er:
'Dreiundzwanzig.'
Mir hat er ohne Weiteres sein Alter gesagt."
"Ja, eben, mir nicht."
"Stimmt, du bist ja älter!" erinnerte sich Daria.
"Ja, und diese fünf Jahre, mit denen wird der nicht fertig."
"Nun - iß!" sagte Daria mit einem Blick auf meine fast kalten Pommes frites.
"Ich weiß nicht, irgendwie kann ich fast nichts essen", entgegnete ich.
"Wegen dem Gespräch?"
"Ach nein, ich weiß nicht; irgendwie kann ich auch so nichts essen."
Wir sprachen über das Aussehen von Jungen. Ich sagte zu Daria, daß ich sehr auf das Aussehen achten würde.
"Ich muß sagen, Rafa ... ich find' den echt völlig häßlich", meinte sie. "Eine gute Figur hat er ja ... na ja, was heißt 'gut' ... Ich finde, er ist ziemlich dick."
"Ja. Das gefällt mir ja gerade. Er ist genau das, was ich will."
"Das ist gar nicht mein Typ, so mit langen Haaren und so."
"Ich habe früher auch mal kurze Haare besser gefunden", erzählte ich, "aber seit ich in diesen Haaren gewühlt habe, will ich nicht, daß er sie sich jemals abschneidet."
"Er hat sie mal ganz kurz gehabt."
"Ach! Wann war das denn?"
"Das weiß ich nicht mehr."
Daria kann nicht nur mit Rafas Aussehen, sondern auch mit Rafa als Mensch nicht sehr viel anfangen:
"Na, er kommt dann halt und sagt 'Hi, wie geht's?' und 'Guten Tag' und 'Na?' und so, und dann redet man halt über irgendwas, und ... was soll ich mit dem auch groß reden? Ich weiß nicht, über was ich mit dem groß reden soll."
"Ja, genau diese alltäglichen Dinge werden zwischen uns immer ausgeklammert", erzählte ich. "Über die reden wir gar nicht. In der Beziehung zwischen uns gibt es keinen Alltag. Es gibt einfach keinen Alltag, und ... da hat er auch mal gefragt, wie ich mir das denn vorstelle, so eine Beziehung zwischen uns, und da habe ich gemeint, ja eben, daß sich immer etwas bewegt, daß sich ständig etwas verändert. Es gibt eben keinen Trott."
"Es ist so komisch; ich kenne den ganz anders. Der ist mal so völlig locker drauf, so ganz fröhlich, und dann auch wieder total unausstehlich und eklig ..."
"Ja, das sind diese ganzen Seiten, die ich von ihm gar nicht kenne", sagte ich. "Ich kenne ganz andere Seiten von ihm."
Wir sprachen über das Kennenlernen von Menschen. Daria erzählte mir, daß es viele Leute gebe, die sie gern kennenlernen würde.
"Aber die wirken oft so unnahbar, so arrogant, und da traut man sich gar nicht, die anzusprechen", sagte sie. "Findest du nicht auch?"
"Ich weiß von früher, daß es schwierig sein kann, Leute anzusprechen", antwortete ich. "Heute betrifft mich das nicht mehr. Erstens gibt es nur einen, um den es mir geht, und der hat mich bereits angesprochen. Zweitens sprechen die Leute mich an. Sie kommen zu mir, wenn sie mich kennenlernen wollen. Oder ich komme irgendwo dazu, und sie werden mir vorgestellt."
"Was denkst du eigentlich so über die Leute, die mit Rafa zu tun haben?" wollte Daria wissen.
"Na ja, ich denke, die, die so um ihn herumschwirren, sind ... bedeutungslos", erwiderte ich.
"Ja, welche meinst du da jetzt?" fragte sie nach und schien etwas über Dolf hören zu wollen.
Ich erwähnte Dolf aber nicht.
"Na ja, diese 'No Name'-Leute ...", sagte ich.
"Ach, die, die immer so nach irgendwelchen CD's fragen und so."
"Ja. Kappa, das ist der Einzige, wo sich mit den Jahren noch so eine Art Freundschaft herausbilden könnte. Der Rest ist bedeutungslos. Kappa, das ist in Ordnung. Mit dem kann er ruhig spielen. Kappa kenne ich ja auch und habe nichts gegen den und ... Er ist ein bißchen komisch und sehr unsicher. Die beiden ähneln sich auch."
"Ja, die stecken auch viel zusammen."
"Sie haben auch Einiges gemeinsam. Sie sind beide etwas merkwürdig und unsicher und brauchen Anerkennung und Bestätigung. Und Kappa ist eben etwas unbeholfen, und da kann ihm der Rafa ja auch Dienste leisten, weil er eben etwas gewandter ist im Umgang mit Menschen."
Gegen vier Uhr machte "McGlutamat" zu. Daria und ich gingen noch einmal in den "Megamarkt" zu "Dark Zone". Wir suchten Brinkus, Sator und U.W., fanden sie aber nicht. Im Tanzsaal herrschte Stille.
"War doch gut, nicht? War doch gut, nicht?" fragte mich Xentrix.
"War geil", lobte ich.
Der erste Zug nach H. ging um fünf Uhr und war ein ICE. Daria und ich beschlossen, ihn zu nehmen. Wir mußten Aufschlag zahlen, doch es waren nur sieben Mark.
"Kannst du dir eigentlich vorstellen, mit Rafa zusammenzuziehen?" fragte mich Daria zögernd, als wir durch die Bahnhofshalle gingen.
"Unbedingt", antwortete ich. "Unbedingt. Das ist mein Fernziel."
Am Kiosk kauften wir etwas Proviant. Ich überschätzte meinen Hunger und kaufte mehr, als ich essen konnte.
Der ICE war fast leer. Daria und ich suchten uns ein hübsches Plätzchen aus und fuhren in den erwachenden Tag.
Die zermürbenden Streits von Rafa und der Sängerin beschäftigten Daria immer noch sehr. Sie sprach erneut von der Auseinandersetzung an der Tankstelle, als Rafa sich sein Essen nicht selbst holen wollte. Ich sagte noch einmal, daß ich anstelle der Sängerin ohne Federlesens weitergefahren wäre:
"Ich wäre nicht ausgestiegen. Rafa hätte eben auf sein Essen verzichten müssen."
"Ich weiß nicht, du würdest das doch bestimmt auch machen für jemanden, den du liebst", meinte Daria. "Dann tust du ihm vielleicht auch so einen Gefallen."
"Gerade da, gerade in dieser Beziehung ist es sehr wichtig, welche Gefallen man jemandem tut und welche nicht", entgegnete ich. "Es kann mal besser sein, jemandem einen Gefallen nicht zu tun. Ich meine, daß es nicht unbedingt ein Zeichen von Liebe ist, wenn man jemandem alles zu Willen tut. Man muß Grenzen setzen."
"Tessa macht ja auch nicht alles, was er will."
"Ja, aber sie ist ihm trotzdem unterlegen. Ich habe den Eindruck, daß Rafa Grenzen braucht - daß er die nicht nur will oder nicht will, sondern daß er die regelrecht braucht. Das ist jemand, der sehr strenge Grenzen braucht, sehr klare. So - 'bis hierher und nicht weiter'. Man darf ihm nichts durchgehen lassen. Alles muß ganz klar abgesteckt sein."
Über die Art der Beziehung von Rafa und der Sängerin sagte ich:
"Ich glaube, die benutzen sich gegenseitig."
"Inwiefern?"
"Rafas Selbstbild zerbröckelt. Er versucht, das mit Hilfe der Sängerin noch weiter zu erhalten."
"Hat er - Rafa - eigentlich mal was über dein Aussehen und so gesagt?" wollte Daria wissen. "Wie er das findet und so?"
"Ja, das ... also, Komplimente kann ja jeder machen. Aber das, was er mir gesagt hat, das war persönlicher. Das ging irgendwie tiefer."
"Hat er dir denn mal gesagt, was er an Tessa schön findet?"
"Nein. Nie."
"Ach, ja - ihr redet nicht über Tessa."
"Nein, wir reden nur über uns. Ich rede höchstens mal von 'anderen Frauen'."
"Du weißt, was er für einen Ruf hat, nicht?" fragte Daria. "Jetzt in bezug auf Mädchen."
"Ja."
"Ich glaube, Rafa braucht das, mehrere Frauen zu haben", vermutete Daria.
"Das glaube ich nicht", entgegnete ich. "Ich glaube, daß die für ihn nur eine bestimmte Funktion erfüllen. Er fühlt sich durch sie bestätigt."
"Überhaupt sucht der Bestätigung", meinte Daria. "Ich würde das ja nicht machen, auf so einen Notizzettel von einer CD voll meinen Namen und meine Adresse draufschreiben. Da kann ja jeder anrufen."
"Ich glaube, der hat Angst vor Gefühlen. Der sucht eine gefühlsarme Beziehung."
"Irgendwas muß er doch an Tessa finden, wenn er mit ihr zusammen ist."
"Oh, da bin ich nicht so sicher. Wenn jemand sich so verleugnet, wenn jemand einen Teil von sich so sehr verleugnet, sich sein Leben so zurechtlügt, dann denke ich mir, daß er auch eine Beziehung auf so einer Lüge aufbauen kann. Rafa ist so einer, der handelt. Du weißt doch, wie er reden kann. Du weißt doch, wie er verhandeln kann."
"Ja, ja. Oh, ja."
"Das ist einer, der macht Verträge. Der hat auch mit seinen Gefühlen paktiert."
"Wirklich, Rafa ist nur ein guter Kumpel für mich", wiederholte Daria, als wollte sie mich beruhigen. "Ich will nichts von dem."
"Eben, das merkt die Sängerin, und deshalb tut sie dir nichts."
"Ich gefährde ihre Position nicht. Du machst ihr Konkurrenz."
Daria glaubte nach wie vor, daß Gefühle in der Beziehung von Rafa und der Sängerin eine wichtige Rolle spielen.
"Aber sie mag ihn doch", meinte sie.
"Ja, wohl schon, aber ..."
Ich schwieg einen Augenblick.
"Er kann sie nicht leiden", sagte ich schließlich, in mich hineingewandt. "Er kann sie nicht ausstehen. Er braucht sie, er hat einen Handel mit ihr, aber ... er kann sie nicht leiden.
Einer ist dem anderen dienlich. Das bindet sie aneinander. Aber sie haben beide Aggressionen gegeneinander, und die müssen irgendwohin, und die entladen sich dann in solchen Streits. Es geht nicht um die kleinen Dinge, über die sie sich streiten. Es geht darum, daß sie sich streiten wollen, um ihre Aggressionen zu äußern, die in ihnen stecken."
Ich sprach von dem Gefesseltsein an einen ungeliebten Menschen. Ich empfand, daß es nicht weniger heftige Aggressionen zur Folge haben kann, wenn man von einem geliebten Menschen getrennt ist oder sich von ihm getrennt hält.
"Die Wut, die ich habe, richtet sich nicht gegen die Sängerin", sagte ich. "Sie richtet sich gegen Rafa."
"Ja, das ist, was ich sage", meinte Daria. "Das ist nicht Tessa, die das in der Hand hat. Das ist Rafa."
"Rafa macht sich an mir schuldig, nicht die Sängerin. Die Sängerin macht sich nur schuldig, wenn sie mich tätlich angreift."
"Na ja, aber ich verstehe sie auch ..."
"Ja, aber sie ist mündig und volljährig, und daß man einen Menschen nicht einfach zusammenschlägt, das weiß jedes Kind."
Daria stimmte mir zu.
"Dann macht sie sich schuldig", fuhr ich fort, "aber wenn nicht, dann ist es er, der der Schuldige ist, und er muß entscheiden, was er tut und was nicht."
"Ich glaube, der kann sich überhaupt nicht entscheiden", sagte Daria ernst.
"Du meinst, der kann sich nicht entscheiden."
"Nein. Nee. Der kann ... Erst will er das, dann wieder das, dann will er dies ..."
"Das ist es ... er will geführt werden", sagte ich wie zu mir selbst. "Er braucht eine starke Hand. Er braucht Grenzen."
"Auf der Fahrt nach HI. ist der im Zug so aufgeregt gewesen", erinnerte sich Daria. "Immer hat er gerufen:
'Mach' das! Mach' dies! Mach' das!'
Und dabei hatten wir noch soviel Zeit. Der hat nur die Leute durch die Gegend gescheucht."
"In seinem Inneren herrscht Unordnung", erklärte ich dieses Verhalten, "und deshalb möchte er, daß äußerlich alles nach Ordnung aussieht."
Der Applaus soll spärlich gewesen sein; nur bei dem Clubhit und bei "Ganz in Weiß" gab es etwas mehr.
"Dann kam ein Stück, das heißt 'Die deutsche Jugend'."
"Oh, Gott ..."
"Ich bin auch zu Dolf", erzählte Daria, "und der hat gesagt:
'Ich habe damit nichts zu tun. Das war Rafas Idee.'
Rafa hat vorher durchs Mikro gesagt:
'Das ist kein rechtsradikales Lied.'
Aber das war trotzdem sofort so, daß die Leute 'Rechtes Schwein!' und sowas riefen. Das Konzert wurde abgebrochen. Und es sollten noch drei Lieder kommen."
"Ja ... Rafa hat es mit den Führerfiguren", meinte ich, "weil seine eigene Führerpersönlichkeit ja gestorben ist."
"Das war wohl ziemlich schlimm für ihn, als sein Vater gestorben ist."
"Es war für ihn so ... Aus. Da mußte der sein Leben neu ordnen."
Daria kam noch einmal darauf zu sprechen, daß Rafa nicht Auto fährt, sondern trinkt.
"Der trinkt ziemlich viel, nicht?" vermutete ich. Sehr viel?"
"'Sehr viel' ist un-ter-trie-ben", sagte Daria langsam und mit bedeutungsschwerem Blick. "Ich weiß ja nicht, was er in der Woche macht, aber am Wochenende ..."
"Ja, ja, ich hab' das schon mitgekriegt, daß er sehr viel trinkt."
"Ja - er ist nervös", suchte Daria nach einer Erklärung.
"Ja, ich weiß, daß er nervös ist."
"Man merkt das auch voll an seinem Gesicht", hat Daria beobachtet. "Wenn er nicht geschminkt ist, also ... da hab' ich das Grausen gekriegt. So ganz großporige Haut und so ..."
"Du meinst, man sieht das schon?"
"Ja."
"Du meinst, man sieht ihm schon an, daß er trinkt?"
"Ja."
"Das - das ist es, was ich nicht ertragen kann", sagte ich kopfschüttelnd und hielt mir die Hände vor die Augen. "Wenn ein Mensch, dessen Gesicht man so liebt, dieses Gesicht so zerstört ... das ... das kann ich nicht ... das kann ich nicht ertragen. Das ... das lastet auf mir. Das ... das ertrag' ich nicht. Irgendwas muß da geschehen; da muß irgendetwas geschehen; da muß ... irgendetwas muß da geschehen. Das geht so nicht weiter. Das ... das darf nicht sein. Der ist so jung. Ich möchte ihm klarmachen, daß er etwas wert ist. Das ist meine Aufgabe."
Ich erzählte Daria, daß ich ganz allgemein um Rafas Gesundheit besorgt bin:
"Es geht hier ja auch um Zigaretten."
"Cartier light, das ist nichts."
"Ach, das ist nichts?"
"Nein, das ist nichts."
Wir kamen in H. an.
"Was sagt eigentlich die Sängerin dazu, daß er soviel trinkt?" wollte ich wissen. "Sagt die denn da nichts?"
"Ach, glaubst du, der hört dadrauf, wenn die was sagt?"
"Ja, stimmt. Sie ist ihm nicht gewachsen."
Daria und ich verabredeten uns für den kommenden Freitag in der "Halle". Als sich die Zugtüren öffneten, rannte sie, um ihren Anschlußzug nach SHG. zu erreichen.

In einem Traum habe ich Rafa umarmt. Ich stand neben ihm und legte von der Seite meine Arme um seine Schultern. Ich tat das oft und lange.

In einem anderen Traum war Rafa auf einem Auge blind.

Kann das heißen, daß Rafas Wahrnehmung eingeschränkt ist?



In der "Halle" gab es ein Festival, wo eine Performance von Twice a Man zu sehen war. Auf einer schräggestellten Leinwand flimmerten träumerisch-hypnotische Videos. Ein Mädchen tanzte in verschiedenen Kleidern. In einem langen, schmalen, dunklen Kleid bewegte es sich spärlich und langsam. In einem kurzen, weiten, bunten Kleid spielte es mit einem aufblasbaren Ball. In einem weißen Tutu führte es einen Ausdruckstanz vor. Die beiden Männer von Twice a Man arbeiteten sich selbst als Figuren in das bewegte Muster ein. Die elektronische Musik war hypnotisch wie die Performance und wurde unterlegt von einem gleichförmigen, jedoch vielschichtigen Rhythmus.
"Davon ist Rafa weit entfernt", dachte ich, "wenn man von 'Ganz in Weiß' einmal absieht. Twice a Man kann ich ernst nehmen. Rafas Show kann ich nicht ernst nehmen."
Lenni erzählte, daß Rafa da sei, mitSchutzbrille und Freundin. Ich fand ihn aber nicht. In Gedanken sah ich ihn neben der Sängerin sitzen, die unbeteiligt in die Luft guckte und rauchte.
Ace sagte mir, von welcher CD Twice a Man gespielt hatten, und ich kaufte sie gleich am Merchandise-Stand.
Sator hat eine neue Freundin, die er uns vorstellte, als wir freitags bei ihm zu Besuch waren. Sie heißt Janine und hat ein jungenhaftes Äußeres. Sator meinte, seine angebetete Ehemalige - Diandra - würde er attraktiv finden, Janine nicht. Als er sich von Diandra zum fünften Mal trennte, gab sie ihm eine künstliche Rose und sagte zu ihm:
"Ich werde dich so lange lieben, bis diese Rose verblüht ist."
Er trauere Diandra immer noch hinterher und sei mit seinem Verhalten im Grunde selber nicht zufrieden.
"Du darfst nicht ungeduldig sein", sagte ich.
"Ich bin aber ungeduldig, ich bin immer ungeduldig, das ist es ja", entgegnete Sator.
Auf dem Weg zur "Halle" duftete es nach den Blüten des Frühlings. Die Luft war frisch und warm.
"Hier kann ich nicht gemeinsam mit Rafa entlanggehen", dachte ich. "Ich kann das nicht mit ihm teilen."
In der "Halle" sah ich Rafa im "Crystal Palace" mit zwei fremden Mädchen an einem Tisch sitzen. Ich ging dicht an ihm vorbei, doch anfassen konnte ich ihn unter den herrschenden Umständen nicht.
Ich gab Daria ihre CD's. Sie berichtete, daß Rafa und die Sängerin getrennt zur "Halle" gefahren seien.
"Die haben sich wohl gestritten", sagte sie.
"Ach?" staunte ich. "Ich habe Rafa schon im 'Crystal Palace' gesehen; der redet mit zwei fremden Mädchen."
"Tessa redet auch mit einem anderen, so einem mit einem Zopf."
Bald darauf erfuhr ich von Daria Näheres:
"Ich habe Dolf gefragt. Sie haben sich wirklich gestritten. Worüber, weiß ich nicht ..."
"Ach, das wird wieder eine Belanglosigkeit gewesen sein", vermutete ich.
"Na, ich weiß es nicht."
Daria erzählte, Rafa sei heute furchtbar schlecht gelaunt.
"Du freust dich, nicht?" meinte sie.
"Ja", entgegnete ich. "Ich muß mich ja freuen."
Daria trug ein langes Kleid aus schwarzem Pannesamt. Sie schlug mir vor, auch einmal ein langes Kleid anzuziehen. Ich meinte, das müßte aus einem leichten Stoff gemacht sein, damit es mich beim Tanzen nicht behindert.
Ich war häufiger auf der Tanzfläche als sonst. Kappa spielte sogar "War Combattery 2" von :wumpscut:, das zum härteren EBM-Electro-Bereich gehört.
Daria und ich holten uns Stühle und setzten uns auf das Bühnenpodest. Daria schminkte sich die Lippen nach und reichte mir Kaugummi. Rafa stand auf dem DJ-Balkon bei Kappa.
"Er hat seit dem letzten Wochenende nicht mehr mit mir geredet", erzählte Daria. "Er ist nur vorhin kurz an mir vorbeigegangen und hat 'Hallo' gesagt."
Ich richtete Daria Grüße von Sator aus. Sie bat mich, ihn ebenfalls zu grüßen.
"Ich will aber nichts von ihm", setzte sie hinzu, "nicht, daß er das glaubt."
"Auf welchen Typ Mann stehst denn du?" wollte ich wissen.
"Ach ... ich bin doch jetzt mit Dolf zusammen", gestand sie lächelnd.
"Und? Wie kam's?"
"Ach, ich fand den doch schon immer voll süß. Und jetzt sind wir eben zusammen; seit gestern eigentlich erst richtig."
"Ist er dir denn nicht zu klein?"
"Nein, das finde ich ja gerade süß. Ich bin doch selber nicht größer."
"Das stimmt. Na, dann kann ich dir ja nur viel Glück wünschen."
"Ich habe Rafa schon gegrüßt", berichtete Carl. "Ich habe gesagt:
'Hi.'
Er hat 'Guten Morgen' gesagt. Das war's auch."
"Wo war das?"
"Im 'Crystal Palace'."
"Wann war das?"
"Vorhin."
Etwas später erzählte Daria:
"Es geht Rafa nicht gut. Seit drei Wochen ist er krankgeschrieben ..."
"Weshalb genau?"
"Das ist wegen seinem Rücken."
"Sonst ist es nichts?"
"Doch, es geht ihm auch so nicht gut."
"Was ist denn mit ihm?"
"Es geht ihm wohl auch allgemein nicht gut."
"Wenn ich nur wüßte, was es ist ..."
"Du kannst ihn ja fragen", schlug Daria vor.
"Wie denn?" entgegnete ich. "Ich kann ja nicht mit ihm reden ..."
"Stimmt ..."
"Ich fürchte mich ja immer davor, daß er seinen Körper kaputtmacht. Es ist egal, wie, ob durch Alkohol, durch Zigaretten, durch AIDS ... einfach, daß er seinen Körper zerstört ..."
"Ja; darüber hatten wir gesprochen."
"Und ich kann's ihm ja nicht sagen, weil ich nicht mit ihm sprechen kann ..."
"Ich kann es ihm ja sagen", schlug Daria vor, "wenn ich ihn mal gut erwische."
"Ja, aber nur, wenn du ihn wirklich gut erwischst. Sonst hat es keinen Sinn."
"Heute hat er unheimlich schlechte Laune."
"Ich kenne ihn gar nicht mit schlechter Laune", erinnerte ich mich. "Wenn Rafa und ich uns begegnet sind, hat er immer nur entweder gelächelt oder gelitten, aber schlechte Laune hat er nie gehabt."
"Wenn Rafa schlechte Laune hat, ist er völlig ätzend", meinte Daria. "Er nervt alle und jeden."
"Ja, wenn man sich nerven läßt ..."
"Ich will dir nicht raten, ihn mit schlechter Laune zu erleben."
"Ach, der soll nur mal vor mir schlechte Laune haben. Der soll nur mal bei mir so ankommen. Das wird geil, wenn ich den fertigmache."
Ich sah Rafa dabei zu, wie er Platten auflegte. Er hatte seine Sehhilfe aufgesetzt und wirkte sehr geschäftig. Ich weiß nicht, ob er mich ansah. Wenn er tat, machte er es so, daß ich es nicht mitbekam.
Dolf war nicht oft bei Daria. Eine Zeitlang saß er neben ihr auf den Stufen des Bühnenpodests. Die beiden schienen miteinander auszukommen, doch verliebt wirkten sie nicht auf mich.
Schließlich kam Rafa herunter. Er redete vor der Bar unterm DJ-Balkon mit Dolf. Dann verschwand er. Cyrus sagte durchs Mikrophon:
"Und jetzt eine Ansage für Dolf: Deine Jungs und Mädels warten draußen im Auto auf dich."
Daria blieb in der "Halle" zurück. Ich fragte sie:
"Na, wer sind denn die Jungs und Mädels von Dolf?"
"Ach, das sind Rafa und Tessa. Die fahren nach Bad N. zu Tessa, und da können die mich nicht mitnehmen. Sie können nur unterwegs Dolf in Wn. absetzen."
"Dann machen die wohl wieder einen auf Versöhnung."
"Wahrscheinlich."
Ortfried Brinkus hat beobachtet, wie Rafa und die Sängerin sich vor ihrer Heimfahrt gestritten haben, an der Treppe zum DJ-Balkon. Rafa soll voller Zorn auf die Sängerin eingeschrieen haben. Er soll einen Ausdruck im Gesicht gehabt haben, den Ortfried bei ihm schon im Februar gesehen hat, als die Sängerin nicht singen wollte.
"Es gibt Menschen, denen sehe ich das an, wenn die wütend sind", sagt Ortfried. "Die können das vor mir nicht verbergen."
Ortfried erkennt das an einer bestimmten Falte auf der Stirn und einem verspannten Zug um den Mund.
Ich fragte Daria, weshalb sie bei Rafas Auftritt in HI. die Rolle der Braut im Sarg übernehmen sollte.
"Ach, das ... das weiß ich nicht ...", antwortete Daria lächelnd. "Das hat Rafa ... das weiß ich nicht."
"Weil, sonst war nämlich die Sängerin die Braut im Sarg."
Ivo Fechtner war in der "Halle". Inzwischen sind seine Haare so kurz, daß es bis zum "klassisch glatt" der "echten Glatzen" nur noch ein ganz kleiner Schritt ist. Viele Skins haben längere Haare als er.
Valeria war auch in der "Halle". Angeblich soll sie mit Ivo Fechtner nie wirklich zusammengewesen sein. Sie geht jetzt in Lack und trägt einen Pferdeschwanz.
Samstag nacht in HH. erzählte Mal von einer Band namens "Eiskalte Gäste", die in GÖ. beheimatet ist:
"Die wollten einen Sampler mit Coverversionen von deutschen Schlagern herausbringen. Drei habe ich gecovert, unter anderem 'Ganz in Weiß'. Roy Black war damals gerade gestorben. Mit dem Sampler wurde es nichts; ich habe 'Ganz in Weiß' später auf einem Tape veröffentlicht. Dolf hat von dieser Coverversion erfahren ... und daraufhin haben W.E dann dieses Stück auch gecovert und die Idee geklaut. Ich meine, im Grunde ist es mir egal, was Dolf macht."
Mal schien auf Dolf gar nicht gut zu sprechen zu sein.
Vielleicht störte es Mal nicht in erster Linie, daß es noch diese weitere Coverversion von "Ganz in Weiß" gibt. Vielleicht kann Mal Dolf einfach nur nicht leiden.
Mals Coverversion habe ich mir gleich gekauft; es gibt bei "Klangwerk" auch immer ein Merchandise. Die Version ist in Mals gewohntem Stil gehalten, kühl und düster, ohne das Zärtliche, Lyrische in Rafas Version. Mal tritt nicht als Verführer auf; er schmeichelt und umgarnt nicht. Er wirkt zurückhaltend, unaufdringlich, sachlich und scheu.
Als ich in HH. war, soll Rafa im "Elizium" gewesen sein, das erzählte Carl. Rafa soll sich meistens an der Bar aufgehalten haben. Die Sängerin kam gelegentlich zu ihm, doch Carl hatte den Eindruck, daß Rafa bemüht war, sie möglichst schnell abzuwimmeln. Sie unterhielt sich viel mit Talon. Rafa unterhielt sich mit einem farblos wirkenden Mädchen. Er hatte eine neue Jacke an, eine schwarze Kapuzenjacke mit einem weißen Streifenmuster auf dem Ärmel. Damit entfernt er sich von seinem früheren Image.
Als Carl an die Bar kam, schien Rafa gleich unsicher zu werden. Er winkte Carl zu und lächelte verlegen.
Ortfried erfüllte seine Pflicht und brachte in meinem Badezimmer eine neue Waschbeckenablage an, "menschenfarben". Er hat sich dafür durchaus in Unkosten gestürzt; die neue wirkt solider und schöner als die alte.

Mitte Mai habe ich geträumt von einem Kaufhaus, in dem ich als Verkäuferin arbeitete. In meiner Abteilung gab es eine Erstverkäuferin; sie wirkte hölzern und ältlich. Der Personalchef sagte, ich und eine andere junge Verkäuferin dürften nicht verkaufen, sondern wir müßten die Kunden der Erstverkäuferin zuführen, damit sie die Prämie bekam. Wir jungen Kolleginnen dürften allenfalls "mitverkaufen" und größere Kundenströme auffangen. Ich sah einen älteren Kunden, der sichtlich gern bei mir kaufen wollte. Ich mußte ihn aber der Erstverkäuferin hinschieben. Das machte mich wütend. Ich vernachlässigte meine Arbeit und betätigte mich stattdessen künstlerisch.

Solche Zustände wie in dem Kaufhaus will ich in meiner wirklichen Berufswelt nicht hinnehmen. Durch Tricks will ich es so drehen, daß ich meine Kunden doch selbst betreuen kann. Von mir aus könnte die Erstverkäuferin ruhig die Prämie behalten, wenn sie mich nur unbehelligt arbeiten läßt.

In einem anderen Traum war Rafa wieder bei mir zu Besuch. Es war schon hell geworden, und in meiner Wohnung war viel Betrieb. Meine Eltern, der jetzige Ehemann meiner Mutter und Constri waren da und noch mehr Leute. Rafa schien sich sehr zu fürchten. Ich wollte ihm das schönste Herrenhemd aus meiner Sammlung geben, die ich in den Achtziger Jahren angelegt habe. Ich öffnete alle Kleiderschränke und suchte doch vergebens. Schließlich ging ich in mein Zimmer und fand Rafa unter meiner Bettdecke. Er hatte sich versteckt, damit ihn keiner sah. Ich schlüpfte zu ihm unter die Decke. Ich legte mich auf ihn und streichelte und umarmte ihn.
"Ich will ihm unbedingt sagen, daß er sein Leben gefährdet mit Zigaretten und Alkohol", dachte ich, doch ehe ich dazu kam, stand meine Mutter im Zimmer.
Sie schien Rafa gar nicht zu bemerken. Ich fühlte mich von ihr gestört. Rafa flüchtete, und ich suchte ihn. Ins Bad konnte er nicht gelaufen sein, denn die Badewanne hatte mein Vater mit Beschlag belegt. Er hatte sich auch alle meine Handtücher genommen und dann noch den Gürtel von dem alten Bademantel meiner Mutter, und den Bademantel hatte ich an.

"Raus mit den ganzen Verwandten", dachte ich. "Die haben in meiner Wohnung nur dann etwas zu suchen, wenn ich sie einlade."
Ich nahm mir vor, mich nicht zu verzetteln bei der Suche nach dem schönsten Hemd für Rafa. Meine Anwesenheit ist wichtiger für ihn.
Die Hemden stammen aus einer Zeit, als ich insgeheim mit ihnen den Mann anziehen wollte, dem sie passen und stehen. Sie haben alle die Größe XL und würden von ihrer Machart her allesamt Rafa passen und auch stehen. Nur kann ich sie ihm vielleicht niemals geben.



Talis wollte gern ausgehen und schlug vor, in die "Halle" zu fahren. Ich hatte eigentlich nicht hingehen wollen, weil ich nicht möchte, daß Rafa mich zu oft sieht. Doch weil ich es sonst immer bin, die Leute zur Begleitung braucht, stimmte ich zu.
Talis brachte mir CD's mit, unter anderem von Apoptygma Berzerk. Er berichtete, in einem Bäckerladen habe ihn ein Mädchen angesprochen, das regelmäßig in die "Halle" geht. Er fragte es, ob es eine Hetty kenne.
"Nein."
Ob es Elektro-Betty kenne?
Da wußte das Mädchen, wer gemeint war.
Das Mädchen kennt Rafa auch. Es soll über ihn gesagt haben:
"Am letzten Freitag hat er mal wieder so richtig den großen Rafa 'rausgekehrt."
Auf dem Weg zur "Halle" meinte Talis:
"Jetzt können wir uns wieder das große Elend ansehen."
Ich war gerade auf der Tanzfläche angekommen, da erzählte mir Daria atemlos.
"Rafa ist ohne Tessa hier. Tessa ist in L. bei so einem Treffen."
Damit konnte das festlich angelegte "Wave und Gothic"-Treffen gemeint sein, das alljährlich zu Pfingsten in L. stattfindet. Es gibt dort viele Konzerte, weltlich und geistlich, teilweise in historischen Bauwerken, und auch sonst viel Kultur, Mode und Merchandising.
In der "Halle" lief Rafa auf der Bühne herum und richtete etwas am Mikrophon für eine Band, die heute auftreten sollte. Rafa trug ein Spitzenhemd und eine offene schwarze Weste. Sein Pferdeschwanz war wieder etwas länger geworden.
Während des Auftritts stand Rafa hinter der Bühne, und ich betrachtete ihn, nicht die Musiker. Nach dem Konzert ging Rafa ans Mikrophon und bat um Applaus für die Band.
"Da hatte er wieder seinen großen Auftritt", meinte Daria.
Rafa ging ein wenig in der "Halle" herum, ohne mir näherzukommen. Daria wollte wissen, ob er schon mit mir gesprochen hatte. Ich verneinte.
"Mir hat er auch nur gewunken", erzählte Daria.
Sie glaubte, daß Rafa schlechte Laune hatte und sich deshalb in der "Halle" nicht mit ihr unterhielt. Am vergangenen Dienstag hat sie Rafa in SHG. getroffen. Er soll tatsächlich eine Kapuzenjacke haben, mit einem schwarzweiß karierten Streifen auf dem Ärmel.
"Er ist diese Woche auch wieder krankgeschrieben", berichtete Daria. "Wirklich, also ... ist krankgeschrieben und läuft in der Stadt 'rum ..."
"Trinkt er immer noch soviel?"
"Das weiß ich nicht."
Rafa kletterte schließlich zum DJ-Balkon hinauf und blieb dort. Beim zweiten Auftritt der Band sah ich wieder nicht die Musiker an, sondern Rafa. Er lächelte zuweilen und hob die Schultern, eine Geste des Bedauerns.
Dolf kümmerte sich kaum um Daria, und das als ihr angeblicher Freund. Ich stellte Daria und Talis einander vor.
"Na? Hast du das große Elend schon gesehen?" fragte mich Talis. "Ich habe bis jetzt nur das ganz kleine Elend gesehen."
"Wer ist denn das ganz kleine Elend?"
"Na, das Schoßhündchen vom Rafa!"
"Ach, so. Doch, ich habe das riesengroße Elend schon gesehen. Es steht hinterm DJ-Pult."
"Da ist der Aufreißer von Sator wohl nicht sehr erfolgreich gewesen", meinte Talis mit einem Blick auf Daria.
"Sie ist jetzt mit Dolf zusammen", erzählte ich.
Talis verzog das Gesicht.
"Sie ist jung genug. Sie darf sich irren", wisperte ich.
Zu meiner Linken lobte Daria ein Lied aus der NDW-Zeit. Zu meiner Rechten sagte Talis:
"Das habe ich gehört, als ich zwölf war!"
Zu meiner Linken äußerte Daria ihre Freude darüber, daß in der "Halle" Vinylsingles aus dem Jahr 1985 verschenkt wurden. Zu meiner Rechten sagte Talis:
"Die! Die hab' ich doch schon vor zwei Jahren für eine Mark fünfundneunzig auf dem Grabbeltisch gesehen!"
Ich nickte und lächelte links, und ich nickte und lächelte rechts.
Als ich bemerkte, nun würde Rafa doch noch ganz annehmbare Musik spielen, stimmte Talis mir erleichtert zu:
"Meine Faust wollte schon in sein Gesicht!"
Daria fragte mich, ob Talis wüßte, daß ich Rafa "gut finde".
"Sicher", entgegnete ich. "Meine Leute wissen das alle. Die können den Namen schon nicht mehr hören."

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Abends feierte Ortfried Brinkus bei mir seinen Geburtstag nach. Ortfrieds Räumlichkeiten eignen sich nicht für eine Feier.
U.W. konnte mit neuesten Neuigkeiten aufwarten. Er war sichtlich stolz, weil er auf einem noch neueren Stand war als ich.
"Rafa kommt ins 'Elizium'", berichtete er. "Hat er mir vorhin erzählt."
"Hast du mit ihm telefoniert?" fragte ich.
Das hatte U.W. In dem Maße, wie er Rafa einst schmähte, scheint er ihn jetzt zu verehren.
"Also, ich kann nur sagen: Den Rafa kriegst du niemals", wußte U.W.
"Und wenn!" gab ich zurück. "Lieben kann ich ihn doch, solange ich will."
Als Carl und ich gegen ein Uhr in "Elizium" kamen, war es dort noch recht leer. Ich gab Cyrus die "Images" von Dive.
"Das kürzlich mit Industrial in der 'Halle' war ja wohl voll daneben", meinte ich zu der Veranstaltung, wo Industrial angekündigt war, aber kein einziges Stück gespielt wurde.
Cyrus nickte schuldbewußt. Er spielte "Bloodmoney" recht bald. Währenddessen erschien Rafa.
"Er sitzt an der Bar, ganz links", erzählte Carl, als ich von der Tanzfläche kam. "Er ist gerade mit Inya beschäftigt."
"Na, da kann ich lange warten."
Ich konnte Rafa nicht erkennen, weil er im Gegenlicht saß, und ich wollte auch nicht näher herankommen. Er sollte von selbst auf mich zugehen.
Nach einer Weile konnte ich ihn endlich doch noch erkennen. Er saß wirklich ganz links, im äußersten Winkel. Er hatte das Baumwolljäckchen an, von dem mir erzählt worden war. Seine Brille trug er nicht.
Rafa blieb lange in seinem Versteck. Er tanzte nie. Ich warf dann und wann vorsichtig einen Blick zu ihm hinüber. Schließlich ging er mit raschen Schritten zur Treppe, wo ich ihn erwartete.
"Hallo!" grüßte er mich.
Ich legte meine Arme um ihn und streichelte ihn.
"Was 's' los?" fragte er mit Unruhe in der Stimme.
Schweigend zog ich ihn an mich heran und lehnte meine Wange an seine.
"Was 's' los?" fragte Rafa lauter und wich zurück.
Ich streichelte seinen Arm und nahm seine behandschuhte Rechte zwischen meine Hände. Er entwand sich mir mit den Worten:
"Paß' auf, ich muß jetzt nochmal ganz kurz nach oben, Dolf suchen. Ganz kurz. O.k.?"
Und er sprang die Treppe hinauf. Als er wieder zur Bar ging, eilte er hinter mir vorbei, so daß ich ihn nicht mehr packen konnte. Es dauerte eine Stunde, bis Rafa ein zweites Mal auf mich zuging. Ich stand mit Lenni und Lena im Seitengang. Rafa kam wieder mit raschen Schritten heran. Er stellte sich vor mich und sagte:
"Na?"
Auch dieses Mal schloß ich sogleich meine Arme um ihn und begann, ihn zu streicheln.
"He! Nicht klammern!" sagt Rafa leise. "Nicht fummeln! Locker! Locker!"
Doch meine Hände lösen sich nicht von ihm. Er faßt sie und hält sie fest, damit ich ihn nicht weiterstreicheln kann. Ich drücke seine Hände und lehne wieder mein Gesicht an seines.
"Los! Sag' was! Sag' was!" ruft er.
"Ich soll was sagen", wiederhole ich kaum hörbar.
Ich denke an die Sängerin und an die Schuld, die Rafa auf sich geladen hat. Ich vermag ihn nicht darauf anzusprechen. Ich möchte, daß Rafa von sich aus um Vergebung bittet und sühnt.
Ich sehe ihm in die Augen. Er setzt kurz seinen "Beschwörerblick" auf.
"Sag' was!" wird Rafa ungeduldig. "Kannst du nicht reden?"
Ich erkunde sein Jäckchen. Es hat keine Kapuze, sondern einen Halsbund, den ich küsse. Das Jäckchen ist kurz und hat auch unten ein Bündchen.
"He! Faß' mich nicht dauernd an!" beschwert sich Rafa.
Ich spiele mit dem Reißverschluß des Jäckchens, der nur ein kleines Stück weit zugezogen ist. Rafa sieht das und nimmt meine Hand auch dort weg.
"Kann man mit dir denn nicht normal reden?" fragt er. "He! He-e!"
Ich lege meine Hände vorsichtig auf seine Schultern.
"Nun sag' was!" verlangt er. "Du mußt reden! Du mußt kom-munizieren!"
Ich zögere noch immer und streichle den sich wehrenden Rafa.
"Kann man mit dir denn nicht normal reden? - Nein, man kann mit dir nicht normal reden", seufzt er und will entschwinden.
"Doch, doch, man kann schon mit mir reden", entgegne ich und umfasse seine Arme. "Was soll ich denn sagen?"
"Du sollst nur normal mit mir reden."
"Wieviel trinkst du eigentlich pro Woche?" stelle ich ihm die Frage, die mir so drängend ist.
"Die Frage ist falsch gestellt", erwidert Rafa. "Es müßte heißen: Wieviel trinke ich pro Wochenende? In der Woche trinke ich nämlich gar nichts."
"Und wieviel trinkst du am Wochenende?"
"So ... insgesamt ... ziemlich ... viel."
"Wieviel?"
"Oh ... heute ... waren's schon ... sechs Bier mit Cola, zwei Cola, einmal O-Saft und noch einmal Cola", zählt Rafa auf.
"Es ist nur ... es kommt auf die Menge an, die Menge Alkohol", sage ich. "Ich weiß nicht genau, ab welcher Menge es Dauerschäden gibt, ich meine, ab wann Alkohol den Körper zerstört."
"Die Menge spielt überhaupt keine Rolle!" erklärt Rafa. "Alkohol zerstört immer den Körper!"
"Genau das ist es!" mache ich meiner Angst Luft. "Das macht mich wahnsinnig!"
"Hm?"
Ich nicke und wiederhole:
"Das macht mich wahnsinnig! Ich möchte, daß du aufhörst, zu trinken."
"Dann gib' mir 'ne andere Droge!"
"Ich bin deine Droge", sage ich bestimmt. "Ich bin dafür da, deine Droge zu sein. Und ich zerstöre dich auch nicht, oh, nein."
"Doch! Du zerstörst mich!" ruft er anklagend.
"Oh, nein", widerspreche ich leidenschaftlich. "Oh, nein, ich zerstöre dich nicht."
"Wegen dir trink' ich ja!" offenbart mir Rafa. "Die Sache mit dir ist für mich echt seelisch enorm belastend!"
"Wegen mir sollst du doch gerade mit dem Trinken aufhören."
Ich hänge wieder an seiner Schulter. Er befreit sich und drückt meine Hände.
"Echt, kann man sich mit dir denn nicht vernünftig unterhalten?" stöhnt Rafa.
Er scheint sich losreißen zu wollen, doch das gelingt ihm nicht. Ich fühle, daß er meine Zuwendung ebenso ersehnt, wie sie ihm unerträglich ist.
"Ich liebe dich", sage ich, an ihn gekuschelt. "Du mich auch?"
"Hetty!" ruft er gequält und sucht Abstand. "Mach' dich nicht zum Clown hier! Mach' dich hier nicht lächerlich!"
"Das ist nicht lächerlich", entgegne ich ruhig. "Oh, nein, das ist nicht lächerlich."
"So wird das nichts", meint Rafa. "Das wird nur was, wenn wir nochmal ganz von vorne anfangen. Wenn wir uns nochmal ganz von vorne kennenlernen."
"Hörst du dann auf zu trinken?" frage ich sogleich.
"Das kommt darauf an."
"Hör' auf zu trinken!" fordere ich, und in meiner Stimme mischen sich Wut und Furcht.
Rafa weicht aus zum Podest. Ich gehe mit ihm. Er drückt wieder meine Hände, als wolle er sich verabschieden, doch er kann nicht von mir lassen.
"Hetty", sagt Rafa atemlos. "Wir können uns gern unterhalten. Aber nicht auf diesem Niveau."
"Auf welchem Niveau denn?"
"Auf keinen Fall so, daß du mich die ganze Zeit anfaßt, überall, das ist echt ..."
"Darf ich dich denn gar nicht anfassen?" frage ich.
"Nicht hier!" bestimmt Rafa.
"Nicht hier?"
"Nicht hier!"
"Gut, wir können ja auch gerne zu mir nach Hause gehen", schlage ich vor.
"Ha!" ruft er. "Nee, das hatten wir schon. Das war schon."
"Ja, und das war genau zu wenig. Wir müssen das immer wieder machen. Wir müssen das tausendmal machen."
"Nein, das war zuviel", meint Rafa. "Das war zuviel. Danach war ich vollkommen fertig. Nicht, daß ich schlecht drauf war an dem Tag; das war es nicht. Aber es kostet mich so viel Kraft, mich mit dir zu unterhalten; das gibt's nicht nochmal. Das kann ich nicht nochmal. Ich kann jetzt schon nicht mehr."
"Ja, wie sollen wir es denn machen?"
"Auf einem anderen Niveau! Auf einer anderen Ebene!"
"Auf welchem Niveau?"
"Wir müssen nochmal ganz von vorne anfangen", sagt Rafa, und ich entgegne sehr leise:
"Dafür war aber schon etwas zuviel zwischen uns."
"Das wird echt nichts!" meint Rafa. "Das geht nur, wenn wir nochmal ganz von vorne anfangen. Ganz von vorne."
"Wie soll das denn genau gehen?" möchte ich wissen.
"Da gibt's kein Kochrezept für, in dem drinsteht: So geht man mit Rafa um. Das gibt's nicht."
"Das weiß ich, daß es für dich keine Bedienungsanleitung gibt", bestätige ich.
"Hetty! Ich will dich echt gern kennenlernen. Aber nicht auf diesem Niveau."
"Wie sollen wir uns denn nochmal 'ganz von vorne' kennenlernen?"
"Ach - daß wir nur einfach mal einen Abend was zusammen machen, so, uns ganz normal unterhalten ... kennenlernen ..."
"Von mir aus können wir jetzt gleich irgendwohin gehen", sage ich. "Ich gehe mit dir, wohin du möchtest."
"Ha, nee! Ha! Heute nicht! Heute nicht! Heute nicht!"
"Doch, doch, heute. Doch, doch heute."
"Bitte. Bitte. Nicht auf diesem Niveau. Nicht auf diesem Niveau. Nicht auf diesem Niveau."
"Auf welchem Niveau denn?" möchte ich wissen.
"Nicht auf diesem", wehrt Rafa ab. "Sag' ich ja, nicht auf diesem."
"Wir müssen uns das gemeinsam überlegen, wie wir das machen können, daß wir uns kennenlernen. Wir müssen uns das gemeinsam überlegen, wie wir das nochmal anfangen."
"Das müssen wir nicht!" findet Rafa.
"Wir müssen uns das überlegen."
"Nein!" ruft er. "Das müssen wir nicht!"
"Doch!"
"Was für ein Ziel hat das? Was für ein Ziel hat das?" fragt Rafa voller Aufregung, während er sich aufs Neue gegen meine Umarmung wehrt.
Ich sehe ihn schweigend an.
Noch einmal möchte ich von ihm wissen, wie es denn gehen soll, daß wir uns "ganz von vorne kennenlernen".
"Das ... aber nicht so, daß ... daß du mich dauernd in den Arm nimmst und streichelst und ...", sucht Rafa nach Worten. "Ich hab' genug, von denen ich das ... Ich hab' genug Mädchen, die mich umarmen. Da hab' ich genug. Da gibt's hier echt genug."
"Nein", widerspreche ich, "da gibt es nur mich."
"Ha! Hahahaha! Da gibt's echt genug! Haha!"
"Nein, du hast nur mich."
Ich betrachte ihn, wie er vor mir steht mit hängenden Schultern und offenen, traurigen Augen. Ich kann nicht anders; ich muß meine Arme um seinen Hals schlingen und ihn an mich ziehen. Mit einer heftigen Bewegung macht er sich los und ruft:
"Zum Anfassen gehören zwe-ei!"
"Ja", bestätige ich, "dazu gehören zwei."
"Was - was - wie würdest du denn das finden, wenn da - wenn da einer wär', der dich dauernd in den Arm nimmt und ..."
"Ich würde mich freuen", sage ich ehrlich. "Ja, ich würde mich freuen."
Rafa sieht mich lächeln.
"Jetzt grinst du", bemerkt er. "Echt, man kann sich mit dir wirklich nicht normal unterhalten."
Ich streichle seine Wange.
"Genau das mein' ich!" ruft er aufgebracht. "Genau das! Echt - nicht auf diesem Niveau!"
"Warum soll ich dich denn nicht anfassen?" frage ich.
"Weil es keinen Grund dafür gibt!" ist die Antwort. "Das ist grundlos, völlig grundlos!"
"Das ist nicht grundlos."
Rafa weicht zur Treppe aus. Ich folge ihm und halte stets vorsichtig seine Arme.
"Bist du heute in 'Halle1'?" fragt Rafa schnell.
"Fährst du denn hin?" frage ich.
"Bist du heute in 'Halle 1'?" fragt Rafa noch einmal. "Da können wir uns treffen."
"Ich fahre nur mit dir gemeinsam dahin."
"Das geht nicht."
"Warum geht das nicht?"
"Ich fahre schon mit Kappa und Inya und Dolf ..."
"Dann nimm' mich mit."
"Nein", will er sich herauswinden. "Nein. Das geht nicht. Das geht nicht. Wir können ... wir können uns da treffen."
"Ich habe aber keine Gelegenheit, zur 'Halle 1' zu fahren."
"Ich sage ja auch nur, wenn du da sowieso bist, können wir uns da treffen."
"Ich will nicht, daß wir uns in 'Halle 1' treffen. Da läufst du nur wieder vor mir weg; das kenne ich schon. Ich will mich privat mit dir treffen."
"Bist du morgen in der 'Halle'?" fragt Rafa. "Komm' morgen in die 'Halle'!"
"Ich gehe ins 'Elizium'. Ich bin nicht in der 'Halle'."
"Komm' morgen in die 'Halle'", bittet Rafa. "Eine Stunde lang komm' ich 'runter. Eine Stunde lang können wir uns dann in Ruhe unterhalten."
"Dann machen wir das jetzt. Dann nimm' dir jetzt die Stunde."
"Ha!" ruft er und wirft den Kopf zurück. "Ich hab' keine Stunde!"
"Na, du willst keine haben. Du hast wohl schon eine."
Rafa ist ein Stück die Treppe hinaufgegangen. Ich lasse ihn nicht entwischen.
"Ich komme nicht in die 'Halle'", wiederhole ich. "Komm' du doch ins 'Elizium'."
"Ha!" lacht Rafa. "Ich muß doch Musik machen! Wie soll ich da ins 'Elizium' kommen? Ha!"
Er windet sich:
"Ich kann nicht mehr!"
Ich halte seine Hände fest und sage:
"Doch, du kannst."
Rafa wirkt aufgelöst und verzweifelt.
"Du sollst mich nicht dauernd anfassen!" ruft er. "Verstehst du das nicht?"
"Ich muß dich anfassen, weil ich dich so lange nicht anfassen konnte", erkläre ich ihm.
Sein Körper zieht meinen an sich, unabhängig von seinem bewußten Willen. Rafa kann mich nicht so schnell von sich drängen, wie ich nach ihm greife. Ich hauche Küsse auf seine Wange.
"Damit vergrößerst du nur den Abstand zwischen uns", meint Rafa.
Ich muß lächeln.
"Ja, jetzt grinst du wieder", sagt Rafa und schüttelt den Kopf. "Siehst du, du hörst mir überhaupt nicht zu."
"Oh, was glaubst du, wie gut ich dir zuhöre."
"Du verstehst überhaupt nicht, was ich sage."
"Wie sollen wir es denn machen? Wir müssen uns das jetzt gemeinsam überlegen."
"Das müssen wir nicht."
"Doch."
"Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!"
"Doch, du kannst. Du kannst."
"Echt, wenn du willst, daß mir hier noch schlecht wird, dann machst du weiter!" ruft er anklagend. "Dann machst du weiter! Echt!"
"Jetzt versuch' mal, klar zu denken."
Rafa wirft seinen Kopf hin und her wie ein Tier, das an seinem Halsstrick zieht. Seine Augen werden immer umflorter.
"Wenn das nicht aufhört, dann krieg' ich heut' noch 'n Föhn und besauf' mich ohne Ende, echt", kündigt er an.
"Das ist Erpressung", deute ich.
"Ja, das ist Erpressung", stimmt Rafa mir zu.
Er möchte fliehen, hinauf zum DJ-Pult. Ich halte ihn zurück:
"Wir müssen verhandeln."
"Heute nicht! Heute nicht!"
"Doch, heute. Doch, heute", bestimme ich. "Wir müssen das gemeinsam überlegen. Wir müssen gemeinsam etwas planen. Weil, es betrifft uns beide. Weil es uns beide angeht, müssen wir es uns gemeinsam überlegen. Mache einen Vorschlag, wie wir es tun können."
"Nicht so, daß du mich dauernd anfaßt."
"Mach' einen Vorschlag. Mach' einen Vorschlag, wie wir uns miteinander unterhalten können, auf welcher Ebene."
"Das geht nicht, wenn ein Mensch vor mir steht, der Hetty heißt und mich nicht ausreden läßt."
"Nun gut, dann rede."
"Ich sagte schon, es gibt kein Kochrezept dafür."
"Ich bin aber gerade dabei, eins zu entwickeln", verrate ich.
Xentrix kommt die Treppe herauf und fragt:
"Könnt ihr den Dicken mal vorbeilassen?"
Wir machen Platz. Ich lege zart meine Arme um Rafa, damit er mir nicht wegläuft. Er lehnt nun an der Mauer.
"In SHG., da war das alles nett, da war das schick, da haben wir uns ganz normal einfach unterhalten ...", erinnert sich Rafa. "Du wolltest mich kennenlernen, ich wollte dich kennenlernen ... ganz normal ... da war kein Körperkontakt und so ..."
Während der berüchtigte Schürzenjäger Rafa von unserem unschuldigen Treffen in SHG. schwärmt, taste ich den Hüftbund seines Jäckchens ab und streiche über seine Hosennaht. Er ist so mit Reden beschäftigt, daß er sich nicht wehrt. Damit Rafa mich als weniger bedrohlich erlebt, steige ich eine Treppenstufe abwärts und blicke von unten in sein Gesicht. Es durchzuckt ihn, als meine Lippen einmal mehr seine Wange berühren.
"Was ist denn so schlimm daran, wenn ich dich anfasse?" frage ich leise und vorsichtig. "Was ist denn daran so schlimm?"
"Das - das hat keinen Grund!" ruft er. "Weil's keinen Grund hat! Weil's grundlos ist, völlig grundlos ist! Grundlos!"
"Oh, nein", entgegne ich. "Das hat so viele Gründe. Das hat genug, das hat hunderttausend Gründe."
Es kommt noch jemand an uns vorbei, und ich muß noch einmal näher an Rafa heranrücken. Als wir wieder Platz haben, geht Rafa nach unten zum Fuß der Treppe, und ich gehe mit, ihn in den Armen haltend.
"Dann machen wir einen Handel", schlage ich vor. "Ich höre auf, dich anzufassen, und du hörst auf zu trinken."
"So einen Handel kann man nicht machen", erwidert Rafa.
"Doch, man kann", sage ich. "Doch, man kann."
Rafa vermag sich nicht von mir zu lösen, obwohl ich ihn nur sehr locker umfasse. Er versucht nun, besonders boshaft zu sein, wohl in der Hoffnung, daß er dann gehen darf.
"Der Jochen ist genauso angekommen", vergleicht er mich mit dem Sockenschuß. "Der Jochen, der ist ganz genauso angekommen wie du. Dem hab' ich in der 'Halle' was in die Schnauze gehauen, und dann hat der Hausverbot gekriegt für immer!"
"Ach - du hast dem Sockenschuß eins in die Schnauze gehauen?" frage ich erstaunt nach.
"Ja", sagt Rafa.
"Du bist der gewesen, der mich von diesem Schwein erlöst hat", stelle ich fest und kann mir nun endlich erklären, weshalb ich seit dem vergangenen Sommer nicht mehr von dem Sockenschuß angegriffen worden bin. "Dafür bin ich dir ewig dankbar!"
"Mach' dich nicht lächerlich!" ruft Rafa und scheint mit seiner Verlegenheit zu kämpfen. "Du machst dich lächerlich!"
"Was ist denn nun dein Vorschlag?" frage ich unbeirrt weiter.
"Ich sage ja: daß wir nochmal ganz von vorne anfangen", wiederholt Rafa und geht zum Seitengang. "Ganz von vorne. Das ist der einzige Weg. Einen anderen gibt es nicht. In SHG. ... da war das noch alles ... normal ..."
Ich bin nahe daran, ihm anzubieten, daß ich ihn wieder besuche. Doch ich lasse es lieber sein, weil ich möchte, daß Rafa selbst die Vorschläge macht. Er würde sich sonst nicht als Herr der Lage fühlen. Die Furcht würde ihn lähmen.
"Was ist denn nun dein Vorschlag?" möchte ich wissen.
"Hetty! Bit-te! Bit-te!" fleht Rafa. "Heute nicht! Heute nicht!"
Ich greife wieder seine Schultern und sage:
"Doch, heute."
"Morgen in der 'Halle'!" ruft er. "Morgen in der 'Halle'!"
"Nein, ich komme nicht in die 'Halle'."
"Jetzt lauf' mir nicht hinterher!" beschwert sich Rafa. "Lauf' mir nicht hinterher! Damit erreichst du nämlich absolut gar nichts!"
Er flieht zu seinem Schlupfwinkel an der Bar.
Als Rafa kurz darauf mit Inya, Kappa, Dolf und Genna das 'Elizium' verläßt, dreht er sich nicht zu mir um.
In der folgenden Nacht gab Luie seinen Einstand als DJ im "Elizium". Mit Luie habe ich lange, harte Techno-Vormittage im "Trauma" durchlebt. Am Sonntag ging es morgens um sechs los, und Luie brachte mir Wasser von der Bar. Er und ich gehörten zu den Wenigen, die wirklich nur wegen der Musik hingingen und nicht wegen der chemischen Substanzen, die Joël verkaufte. Es wird erzählt, daß ein Junge im "Trauma" überall herumfragte, wo er ein E kaufen könne? Joël, der das mitbekam, legte ein Lied mit einem "Glücksrad"-Sample auf:
"Ich möchte ein 'E' kaufen."
Luie will in sein Programm auch Techno-Stücke aufnehmen, und er meinte, ich solle ruhig "99,9" von Koenig Cylinders mitbringen. Jetzt gibt es nach dem Ende des "Trauma" wieder harten Techno im kleinen Kreis ...
Es war etwa drei Uhr, als ich am Rand der Tanzfläche Dolf entdeckte. Vermutlich war die NDW-Party in der "Halle" zuende. Dolf stand fast immer so, daß er mich im Blickfeld hatte. Carl erwischte ihn einmal dabei, wie er zu mir hersah. Da drehte er sich schnell weg.
"Es ist ein seltsames Gefühl, beschattet zu werden", sagte ich zu Carl.
Dolf redete kaum mit jemandem; er stand viel allein. Das "Elizium" war schon fast leer, und Dolf stand da und stand da und stand da ... Erst als der Morgen heraufzog, gesellte er sich für längere Zeit zu einer Gruppe.
Ich hätte es nicht ertragen, an Dolfs Stelle zu sein und so allein herumzustehen.
"Das ist wohl Hörigkeit", dachte ich. "Dolf tut, was Rafa will, gleich, was es ist."
Wer weiß, was Dolf von mir für ein Bild hat ... jedenfalls wagt er sich nicht an mich heran.
Es war halb sechs, als Carl und ich heimgingen, und Dolf war immer noch da.
Abends um sechs meldete sich U.W.
"Rafa hat angerufen", berichtete er. "Er hat gesagt, heute wäre ganz spontan Party im 'Future', und ich sollte doch mal ein paar Leute anrufen."
"Er will, daß ich komme", meinte ich. "Dann muß ich wohl hingehen."
Rafa ist anscheinend immer noch krankgeschrieben. Wie käme er sonst darauf, mitten in der Woche eine Party steigen zu lassen?
U.W. rief um neun noch einmal an und teilte mit, er wolle doch nicht zu der Party gehen.
"Vielleicht gehst du ja alleine hin?" fragte er.
"Das tu' ich nicht", entgegnete ich. "Das würde ich höchstens tun, wenn Rafa mich selbst angerufen hätte."
Da rückte U.W. damit heraus, daß Rafa meinen Namen genannt hat.
"Kannst ja Hetty auch anrufen", soll er gesagt haben.
Ich wollte aber nicht ohne Begleitung ins "Future" gehen, wo ich noch nie gewesen bin.
Malda hat kürzlich gehört, der Sockenschuß soll behauptet haben, Rafa gehöre zu einer "Nazi-Partei", und das "Elizium" sei in der Hand von Nazis und zahle Schutzgelder an die Nazis. Das hat sich der Sockenschuß wohl zurechtgelegt, um sich mit seinem Rauswurf aus der Szene abzufinden.



Am darauffolgenden Samstag kamen wir gegen ein Uhr ins "Elizium". Dolf lehnte sich in meiner Nähe an die Säule. Rafa war auf der Galerie und kam erst nach einiger Zeit die Treppe herunter. Er war zurechtgemacht wie Kappa, und ich fand, daß das auch bei ihm sehr merkwürdig aussah. Er hatte hochgestellte Haare und trug ein Stirnband und einen Pferdeschwanz. Die Augen waren hinter der Spiegelbrille verborgen. Rafa wirkte auf mich regelrecht gepanzert; "Rühr' mich bloß nicht an!" schien seine Verkleidung zu sagen. Ich scherte mich nicht darum. Ich sah nur kurz nach, ob ein Mädchen in seiner Nähe war, doch es ging nur Ivo Fechtner mit ihm an mir vorbei. Also griff ich zu. Ich faßte unter Rafas Revers.
"Ey, Mensch, ey", sagte er abwehrend, "du kommst mir echt vor, als ... Nimmst du Drogen?"
"Nein", antwortete ich und hatte meine Hände abwechselnd unter seinen Schulterklappen, an seinen Jackenknöpfen und auf seinen Armen. "Zu Befehl - nein."
"Hm?" machte Rafa und strebte fort.
Es verwirrte ihn wohl, daß für einen Augenblick die Musik sehr leise war und das Licht heller wurde.
"Zu Befehl - nein", wiederholte ich. "Was nimmst du denn für Drogen?"
"Na ja, so ... Zigaretten ... Alkohol ..."
"Wieviel trinkst du denn zur Zeit?"
"So ... vier Bier ..."
"Pro Tag oder pro Wochenende?"
"Pro heute."
"Na, dann wollen wir mal hoffen, daß es nicht noch mehr wird", meinte ich.
"Ich muß jetzt ... echt", entschuldigte sich Rafa und flüchtete zur Bar.
Etwas später fand ich Rafa im Vorflur. Er stand mir im Weg und sprach mit einem Mädchen. Als er mich sah, eilte er zurück zum Tanzraum. Im Gedränge hinter der Flügeltür mußten wir langsamer gehen, und der Abstand zwischen uns verringerte sich. Ich konnte mit meinen Fingern an seinem Rücken entlangfahren. Dann ging ich wieder in die Ecke vor die Treppe. Rafa wagte sich nur noch einmal in diesen Bereich. In sicherem Abstand zu mir ging er hinter die Säule, um sich an einem Stehtisch mit einer Gruppe von Leuten zu unterhalten. Er vermied es, in meine Richtung zu sehen. Auch auf seinem Rückweg zur Bar hielt Rafa einen großzügigen Abstand ein; er ging schnell und drehte sich nicht nach mir um. Bald darauf verließ er das "Elizium" mit Kappa und Dolf. Die Sängerin war gar nicht dagewesen.
Laut Carls Berichten sollen die Leute wieder einmal hinter Rafa hergeächzt haben wie dürre Zweige, die er zertreten hat:
"Dieser Rafa ..."
Ein Mädchen sagte über ihn:
"Der ... also, den kann ich ja überhaupt nicht leiden ..."
"Warum?" fragte Carl.
Darauf wußte sie keine rechte Antwort.
Der Gang, die Haltung und die Miene von Rafa haben etwas Herausforderndes an sich. Die Menschen fühlen sich genötigt, über diesen majestätisch einherschreitenden "Szene-Pfau" Bemerkungen zu machen. So verhält es sich auch mit Kappa. Wo er geht und steht, reizt er die Leute, ihre Münder zu öffnen. Das hingestöhnte
"Der schon wieder!"
zieht Kappa mit sich wie einen über den Boden fließenden Hermelinmantel.
Kappa scheint für Rafa immer wichtiger zu werden. Er fährt und beherbergt Rafa, er versorgt ihn und kümmert sich um ihn; also braucht Rafa die Sängerin nicht mehr dazu. Im Gegenzug kann Rafa für Kappa das Amt des DJ's übernehmen, wenn Kappas Gardinen sich im Laufe langer "Hallennächte" langsam zuziehen. Man hört, daß Kappa erheblich mehr und erheblich andere Substanzen zu sich nimmt als Rafa, was das in der Szene gewohnte Ausmaß bei Weitem hinter sich läßt. Das kann auch ein Grund für Kappas Ausweichen auf "Halle 1" sein, wo im Rahmen von Techno-Veranstaltungen ein reger Handel getrieben wird. Kappa soll vor allem über Ace an Kokain geraten sein. Bei Ace im Radiosender soll es häufig zum Einsatz kommen.

In einem Traum ging ich durch das dunkle "Elizium" und kam an einer breiten, dunklen Gestalt vorbei. Ich streichelte die Gestalt am Arm. Eigentlich wollte ich ohne Anhalten weitergehen, doch ich sah, wie der Mann stehenblieb und ruhig verharrte, als wartete er auf etwas. Ich blieb ebenfalls stehen und wandte mich ihm zu. Ich sah ihn in dem schwachen, flackernden Licht nur als Schatten, doch ich war mir sicher, daß es Rafa war. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog ihn an mich. Er wehrte sich heftig.

Nachmittags rief U.W. an, und wir tauschten Neuigkeiten aus. U.W. war am letzten Freitag in der "Halle". Er sprach kurz mit Kappa und Rafa. Die beiden trugen auch in dieser Nacht Partnerlook. Die Sängerin soll nicht dagewesen sein. Rafa gab U.W. ein Bier aus und fragte ihn, weshalb er am Mittwoch nicht ins "Future" gekommen sei. U.W. murmelte etwas, das mit "Oooch ..." anfing. Rafa meinte, es sei im "Future" ohnehin "nicht so besonders" gewesen. Meinen Namen soll er nicht noch einmal erwähnt haben.
U.W. schlug mir vor, Rafa anzurufen und mich mit ihm zu verabreden.
"Ich rufe Rafa nur an, wenn er mich darum gebeten hat", erklärte ich. "Er soll sich nicht von mir bedrängt fühlen. Er soll selbst entscheiden können, wie nahe er mir kommt. Wenn er im Abstand von einem Meter an mir vorbeigeht, fasse ich ihn nicht an. Wenn er aber im Abstand von zwanzig Zentimetern an mir vorbeigeht, dann fasse ich ihn an, und das weiß er. Rafa braucht seine Reviergrenzen, seine Orte, wo er sich vor mir sicher fühlen kann. Dazu gehört der DJ-Balkon in der 'Halle'; den betrete ich nicht. Sein Zuhause gehört auch dazu. Wenn ich ihn anrufe, ohne daß er mich darum gebeten hat, kann er das Gefühl haben, daß ich mich ihm aufdränge. Außerdem ... ich habe ihn dann zwar am Apparat, aber ich habe ihn deswegen noch lange nicht bei mir. Er ist noch nicht so weit, daß er sich mit mir verabreden kann. Er schafft das noch nicht. Er kann nur mit mir kommen, wenn ich ihn führe."
Als ich in einem Musikgeschäft die ersehnte MCD "The Knife" von Autopsia abholte, traf ich Luie, der dort eine Ausbildung macht. Ich erwähnte, daß Ende Juni im "Elizium" wieder eine Independent-Party mit Kappa und Xentrix stattfinden soll.
"Ach?" sagte Luie. "Das glaube ich kaum, daß Kappa da mit auflegt."
"Warum soll Kappa da nicht mit auflegen?"
"Der ist doch geflogen!" verriet Luie hinter vorgehaltener Hand.
"Ach! Das mußt du mir genauer erzählen", verlangte ich. "Wie kam das, daß er aus dem 'Elizium' geflogen ist?"
"Anfang Mai war da doch diese Veranstaltung in HH."
"'Dark Zone', na sicher, da war ich ja auch."
"Und das stand lange fest, daß Xentrix da hinfährt und daß Kappa im 'Elizium' Musik macht. Und einen Nachmittag vorher hat Kappa im 'Elizium' abgesagt."
"War das nicht drei Tage vorher?"
"Also, ich habe gehört, das war am Freitag. Jedenfalls ... soll das der Tropfen gewesen sein, der das Faß zum Überlaufen brachte."
Kappa soll sich in den letzten Monaten im "Elizium" allerlei erlaubt haben; was im Einzelnen, wußte Luie nicht.
"Xentrix hat bei 'Dark Zone' nur über Kappa geklagt", erzählte ich. "Von einem Rauswurf war nicht die Rede."
"Das war wohl auch danach. Das war, als die Chefs davon gehört haben, Kit und der andere, und die haben Kappa dann 'rausgeworfen."
"Ich glaube auch nicht, daß Xentrix Kappa 'rausgeworfen hätte."
Am Ende gab es da jemanden, der Kappa dazu angestiftet hat, kurzfristig im "Elizium" abzusagen. Rafa schließt sich seit einem Jahr immer mehr an Kappa an, und es könnte sein, daß er ihn auch noch zu weiteren Untaten überredet hat, die ihn schließlich seine Stellung im "Elizium" gekostet haben. Rafa macht sich die Leute gerne dienstbar und verführt sie dazu, gegen ihre eigenen Regeln zu verstoßen. Wer das nicht durchschaut, läßt sich leicht in Rafas Spiel einbinden. Im Fall "Dark Zone" war es vielleicht so, daß Rafa nicht ohne Kappas Beistand dorthin fahren wollte und ihn deshalb mitgelockt hat.
Kappa zeigte sich auch nach seinem Rauswurf noch im "Elizium", und ich kann mir vorstellen, daß hier ebenfalls Rafa dahintersteckte, der ihn ohne Erbarmen mitschleifte, weil er sich in seiner Gesellschaft sicherer fühlte.
Ich denke, Rafa hat Kappa durchaus gern, doch er kann nicht anders, er muß sein wüstes Spiel mit ihm treiben. Er macht mit den Menschen, was er mit ihnen machen kann, bis ihm jemand einen Riegel vorschiebt.
Constri hält Rafas Einfluß auf Kappa für weniger bedeutsam. Sie meint, daß Kappa durchaus unabhängig von Rafa seine Entscheidungen trifft und daß er seine Arbeit als DJ im "Elizium" wohl eher deshalb so vernachlässigt hat, weil ihn seine "Regentschaft" über die "Halle" und der damit verbundene Bekanntheitsgrad leichtsinnig gemacht haben.

Ein Traum Anfang Juni handelte von einem Paar, das eine Art Kampfsport ausübte. Die beiden waren schon sehr berühmt. Der Kampfsport ähnelte einem rituellen Tanz und war recht gefährlich. Es kam schließlich zu einem Unfall. Der Mann versetzte der Frau aus Versehen einen Hieb, von dem sie sogleich bewußtlos wurde. In den Nachrichten hieß es, die Frau sei hirntot. Der Unfallhergang wurde noch einmal gezeigt. Ich sah, wie der Mann die Frau unglücklich traf. Sie fiel um, und er fiel auf sie, wie betäubt von dem Schrecken. Sie lag da mit offenen, ins Leere blickenden Augen. Dann erbrach sie klares Wasser. Der Mann kam wieder zu sich und drehte sie auf die Seite, so daß sie das Wasser nicht einatmen und daran ersticken konnte. Ich sah die beiden von oben, als schwebte ich über ihnen.

In einem anderen Traum gab es meinen Kater Bisat gleich fünfmal. Bisat 0 war eine pflegeleichte, unauffällige Katze. Bisat 1 war schon etwas schwieriger, und Bisat 4 gar war regelrecht bösartig und angriffslustig. Er wurde auch von allen Bisats am schlechtesten behandelt. Er sprang mich an und kratzte mich, und ich war wütend auf ihn und warf ihn in die Küche und sperrte ihn da ein.

Ein Lebewesen hat immer mehrere "Gesichter", mehrere Erscheinungsformen. Wenn man ein Lebewesen annehmen will, muß man all diese Formen annehmen und lernen, mit ihnen umzugehen. Auch Rafa hat sehr verschiedene Gesichter, und der Umgang mit ihnen ist nicht einfach.

In einem weiteren Traum machten Rafa und ich gemeinsam Hausmusik. Wir standen nebeneinander an seinen Keyboards. Außer uns waren noch mehr Leute in dem Raum, etwa zwei noch. Rafa programmierte verschiedene Sounds und Melodiefolgen. Die Stimmung war gelöst. Rafa fehlte für seine Neuauflage von "Rosa Zeiten" noch eine Singstimme. Er fragte mich, ob ich singen könne.
"Ja, das kann ich."
Ich ließ mir von Rafa mehrere DIN A 4-Bögen geben, auf denen der Text stand.
"Die Melodie bringe ich zusammen", meinte ich, "aber den Text nicht."
Ich machte zynische Bemerkungen über das Lied:
"An dem ist nichts mehr zu verderben."
Eine ausdruckslosere Stimme als die der Sängerin kann ich mir kaum vorstellen. Ich übernahm gerne ihren Part, weil ich das Gefühl hatte, sie damit "auszulöschen".

Ich bin erstaunt darüber, daß ich in dem Traum nichts dabei fand, mit Rafa ein Stück zu singen, das ich gar nicht mag. Anscheinend war es viel wichtiger für mich, mit Rafa gemeinsam zu musizieren, als die Stücke selbst gut zu finden. Und es ging mir auch nicht um irgendein Publikum, sondern um die Zusammenarbeit mit Rafa. Das Musizieren war für mich in dem Traum etwas Harmloses, das Spaß machte. Constri meinte, wenn es die Sängerin nie gegeben hätte, würde ich das wohl auch in der Wirklichkeit so empfinden.
Eines Mittags lud der Professor mich und zwei Mitarbeiterinnen vom Institut, Antoinette und Kira, in ein edles Restaurant ein. Es gab Spargel mit Lachsforelle und Salat aus dem hauseigenen Garten.
"Ich bin der Einzige, der das von der Steuer absetzen kann", erklärte er dies.
Als ich wieder einmal von der erforderlichen Speichererweiterung für den Rechner anfing, meinte er:
"Die wird immer teurer, die Frau. Sollte man sie nicht abschaffen und gegen eine billigere eintauschen?"
"Man könnte mich ja auf Diskette laden und versuchen, damit den Rechner neu zu starten", schlug ich vor.
"Nein, wir brauchen die Frau", meinte Antoinette. "Wir lassen es lieber so, wie es ist."
"Die Frauen denken immer nur ans Geld", seufzte der Professor.
"Und woran denken die Männer?" fragte Kira.
"An die Frauen", meinte ich.
Daria rief mich an und erkundigte sich, wie es mir gegangen sei in den Wochen, in denen wir uns nicht gesehen haben.
"Nächsten Freitag kommst du doch in die 'Halle'?" fragte sie. "Da ist EBM."
"EBM? Dann komme ich!"
Daria wußte bereits, daß Rafa am Pfingstsamstag mit mir gesprochen hat. Sie ist mit Rafa im Zug nach H. gefahren, und da hat er es ihr gesagt. Über Tessa soll Rafa gesagt haben, das sei nichts mehr mit ihr; er habe keine Lust mehr.
"Und nun?" wollte Daria von ihm wissen. "Wie ist es mit einer neuen Freundin? Es gibt doch viele Mädchen, die dich gut finden ..."
"Welche meinst du jetzt?" fragte Rafa.
Daria wollte nicht gleich mit der Sprache heraus, doch Rafa forschte weiter, bis sie meinen Namen nannte:
"Du weißt doch, daß Hetty dich gut findet?"
"Ja, das weiß ich."
Rafa gestand Daria, Angst vor mir zu haben.
"Warum er Angst vor dir hat, hat er aber nicht gesagt", erzählte mir Daria.
Rafa will immer von Daria wissen, wie hoch er bei den Mädchen im Kurs steht. Viele Mädchen sollen ihn begehrenswert finden.
"Das ist aber oberflächlich", meint Daria. "Die finden den nur toll, weil er der Sänger von W.E ist und viele Leute kennt. Ich meine, Rafa ist ja ziemlich schwierig ... Bisher hat er meistens Mädchen gehabt, mit denen er machen konnte, was er wollte. Vielleicht braucht er ein Mädchen, bei dem das umgekehrt ist - das ihn in den Griff kriegt."
"Was glaubst du, weshalb der Angst vor mir hat?" fragte ich.
"Ach - weil das bei dir so ist?" lachte Daria.
"Genau!"
"Dann mußt du dich ja mal beeilen", riet Daria. "Eine Freundin hat er gerade nicht ..."
"Na ... im Moment ist er auf der Fluchtschiene. Ich muß sehen, was er tut."
Rafa soll enttäuscht gewesen sein, weil zu der Mittwochsparty im "Future" so wenig Leute kamen:
"Ich habe so viele angerufen, und so wenige sind gekommen."
Ich sagte Daria, daß ich gekommen wäre, wenn Rafa mich selbst angerufen hätte, anstatt sich nur bei U.W. zu melden.
"Rafa hat es gut", seufzte Daria. "Der kann sonntags weggehen, der kann in der Woche weggehen ... der muß morgens nicht aus dem Bett ..."
"Ja, ist der denn immer noch krankgeschrieben?"
"Ja, der ist noch krankgeschrieben. Er meinte, das mit seinem Rücken sei voll chronisch. Er will auch mit dem Job aufhören. Er will das nicht mehr machen."
Allerhand ...

.






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Als Carl und ich am ersten Junisamstag ins "Elizium" kamen, sah ich beim Podest gleich Daria, die Sängerin und Dolf. Außerdem sah ich Kappa und Cyrus. Rafa sah ich nicht.
Laut Xentrix soll Kappa nicht im Streit aus dem "Elizium" "gegangen worden" sein, letztendlich kommt es aber doch einem Rauswurf gleich.
"Im Moment schmollt er, weil er seine Getränke bezahlen muß", sagte Xentrix.
Daria grüßte mich und bedeutete mir, daß sie noch nicht mit mir sprechen könne. Die Sängerin wird Daria wohl unter Druck gesetzt haben.
"Wir können nachher noch miteinander erzählen", sagte Daria.
Ivo Fechtner trug eine Tarnjacke. Wenn er vorher noch kein "ganz richtiger" Skinhead war - jetzt ist er einer.
Als das Industrial-Stück "Answers for you" von Blackhouse kam, waren auch Dolf und die Sängerin auf der Tanzfläche. Die Sängerin klimperte wieder einmal laut mit ihren Armreifen.
Erst nach längerer Zeit berichtete Carl, er habe Rafa endlich gefunden:
"Er hat zu mir schon 'Morgen!' gesagt."
Ich konnte Rafa noch immer nirgends entdecken. Ich glaube, daß er sich mit Absicht versteckt hielt. Ich tanzte gerade zu "No Hope" von Dive und war mit dem Gesicht zum Gang gewandt, als ich Rafa in den Tanzraum kommen sah. Er trug eine schwarze Uniformjacke mit Metallknöpfen. Er war ungeschminkt und hatte seine Haare zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden. Am Rand der Tanzfläche sprach er mit einem Jungen. Ich blickte zu Rafa hinüber, und er blickte mich auch an und lächelte. Ich erwiderte das Lächeln. Er hatte mir Zeichen gegeben, und ich entschloß mich, auf ihn zuzugehen. Als "No Hope" zuende war, stellte ich mich von hinten zwischen Rafa und seinen Gesprächspartner. Mein Arm berührte den von Rafa. Der Gesprächspartner entfernte sich schließlich. Rafa drehte sich zu mir und lächelte ein Lächeln, das ich nicht zu beschreiben vermag. Wenn ich es nicht dauernd sehe, vergesse ich, wie es aussieht. Ich konnte gar nicht so viel lächeln und lachen, wie ich mußte.
"Na?" grüßte Rafa. "Warum lächelst du so?"
Ich schwieg und tastete nach seiner Manschette.
"He!" rief er. "Nicht fummeln! Ganz locker! Ruhig!"
Ich strahlte und lachte ihn weiter an.
"Was 's' los? Warum lächelst du so?" fragte Rafa ungeduldig.
Ich antwortete immer noch nicht.
"Stehst du unter Drogen?" wollte Rafa wissen.
"Nein!" erwiderte ich.
"Bist du betrunken?"
"Nein!"
"Warum lächelst du dann so?"
"Weil du mich so lieb anguckst!"
"Ich gucke dich nicht lieb an!" rief er aufgebracht.
"Doch!" rief ich.
Mir fiel auf, daß Rafa ein Bierglas in der Hand trug. Sein Gesicht wirkte krank.
"Wieviel hast du heute schon getrunken?" fragte ich.
"Das ist jetzt mein dreißigstes Bier", antwortete Rafa.
Ich denke nicht, daß es sein dreißigstes war, doch es war sicher mehr als eines zuviel.
"Du sollst doch nicht soviel trinken", mahnte ich.
"Ich trinke, weil ich Probleme habe", gab Rafa zurück.
"Ich will aber nicht, daß du trinkst!"
"Ich will's aber", entgegnete Rafa lächelnd. "Kann ich ja nichts für."
"Na, warte!"
"Hm?"
"Na, warte!"
"He, willst du mir etwa vorschreiben, wieviel ich zu trinken habe?"
"Ja!" sagte ich, und das war ihm wohl zuviel.
Er suchte augenblicklich das Weite. Eine Zeitlang stand er noch an der Bar; er sang ein Stück aus den Achtzigern mit, das gerade lief.
Zweimal ging er noch an mir vorbei, doch so rasch, daß ich ihn nicht berühren konnte. Er vermied es, mich anzusehen. Schon bald war er verschwunden. Sein "Gefolge" ließ er zurück.
Als ich in der Toilette hinter der Eingangstür stand und mich nachschminkte, wurde die Tür mit Schwung geöffnet und stieß gegen mich. Die Sängerin guckte hinter der Tür hervor.
"Oh!" machte sie und wollte entschuldigend lächeln.
Da sah sie, wen sie angestoßen hatte. Eilig ging sie weiter und murmelte:
"Ungünstig."
Sie verließ das "Elizium" mit Dolf. Gleich danach kam Daria zu mir und sagte:
"So, jetzt können wir miteinander erzählen. Du bist doch nicht böse, weil ich vorhin gesagt habe, wir können erst später erzählen?"
"Nein, das bin ich nicht."
Daria wollte, daß wir gegenüber tanzten.
"Wenn du Rafa suchst - der ist nicht mehr da", berichtete sie auf der Tanzfläche. "Der ist ins 'Future' gegangen. Kannst ja auch hingehen ..."
"Meinst du, der wartet auf mich?"
"Ich weiß es nicht."
"Er ist heute so empfindlich", erzählte ich. "Ich darf ihn überhaupt nicht anfassen."
"Ach ... laß' ihn."
"Ich denke auch, das ist besser für heute."
Ein Mädchen namens Eve soll Rafa nachstellen.
"Ich glaube, der hat was mit der", sagte Daria. "Das merkt man daran, wie die sich benimmt. Die hat vorhin auch voll geheult. Überallhin hat sie Rafa verfolgt und hat immer gesagt:
'Ich muß mit dir reden!'
Und er immer:
'Laß' mich in Ruhe.'
Ich habe das Gefühl, daß Rafa das mit seinen Frauengeschichten langsam nicht mehr geregelt kriegt. Ich meine, ich will dir das jetzt nur sagen ..."
"Ja, das ist gut, daß du mir das sagst."
"Bist sauer, nicht?" erkundigte sich Daria.
"Nun, ja ... er versucht halt, zu retten, was zu retten ist von seinem Selbstbild."
Ich hatte Eves Verfolgungen nicht bemerkt. Ich konnte mich nicht einmal entsinnen, ein Mädchen in Rafas Nähe gesehen zu haben.
Daria berichtete, Rafa sei fest entschlossen, nie mehr in seinem erlernten Beruf zu arbeiten.
"Das geht auch nicht mehr mit seinem Rücken", meinte sie. "Das ist zu chronisch."
"Was will er denn machen?"
"Das weiß ich nicht. Das mußt du Rafa fragen, nicht mich."
Daria zeigte mir Eve, als sie auf die Tanzfläche kam. Ins "Future" war sie Rafa nicht gefolgt. Eve hat für mein Empfinden kein erhebendes Äußeres. Sie trägt Hosen und hat lange dunkle Haare. Sie ist sehr kräftig gebaut und hartgesichtig; sie könnte fast ein Mann sein. Sie wirkt auf mich nicht ungepflegt, jedoch grob und aggressiv.
"Wenn sie dich fragt, habe ich dir nichts erzählt", verlangte Daria. "Das wird sonst übel. Die hat mich auch schon ziemlich angeschrien, weil ich mit Rafa geredet habe."
Daria wunderte es, daß Rafa sich ein Mädchen wie Eve aussuchen konnte. Mich wunderte es nicht; schließlich war er schon mit einem Mädchen wie der Sängerin zusammen.
"Ich weiß nicht, das ist doch gar nicht sein Typ", sagte Daria über Eve.
"Das ist dem doch egal", meinte ich. "Ihm geht es doch nur darum, daß er sie für einen bestimmten Zweck nutzen kann. Wenn er sie nicht mehr braucht - scht ..."
Bevor Daria ins "Elizium" kam, war sie noch in der "Halle". Sie berichtete mir, was in der "Halle" abgelaufen war:
Zuerst fand ein Konzert von Oomph! statt. Schon während dieser Veranstaltung wurde Rafa von Eve verfolgt.
"Die geht mir voll auf den Keks", sagte Rafa zu Daria.
Eve weinte und schimpfte über Rafa. Sie erzählte Daria, Rafa habe sich mit ihr im Eingangsbereich der "Halle" verabredet, und nun würde er nicht kommen.
"Vielleicht hat er es vergessen", vermutete Daria. "Oder er hat keine Lust."
"Der muß kommen, wenn er es mir versprochen hat!" rief Eve zornig.
Sie schrie Daria an:
"Ich weiß, du erzählst ihm alles, was ich sage! Du erzählst ihm alles, das weiß ich jetzt schon!"
Den ganzen Abend rannte Eve hinter Rafa her, im buchstäblichen Sinn.
"Laß' mich in Ruhe!" wehrte sich Rafa.
Später fuhren alle ins "Elizium", und das Spiel setzte sich fort, wie Daria es mir schon beschrieben hatte. Als Rafa schließlich ins "Future" verschwand, sollen mehrere Mädchen ihn begleitet haben, nur eben nicht Eve.
Daria schlug vor, daß ich uns etwas wünschte. Xentrix spielte für uns "Dead and buried" von Alien Sex Fiend und später auch den Klassiker "Spirit" von Bauhaus in der Single-Version.
"Was ist los?" fragte mich Daria in einer "Tanzpause". "Bist du traurig?"
"'Was 's' los?' fragt auch Rafa immer", erzählte ich. "Das ist seine Standardfrage."
"Ich weiß ja im Grunde auch, was los ist."
"Ja, und er weiß es auch."
Daria wollte mir eben ein Getränk ausgeben, da brach der Junge auf, der sie nach SHG. mitnahm, und sie mußte fort. Sie ließ mir ihre Getränkemarke da.
Kappa und Cyrus stellten sich zu mir neben das Podest. Dort stehen sie fast nie. Ich hatte das Gefühl, daß sie mit mir sprechen wollten. Ich stellte mich also vor sie, mit dem Rücken zu ihnen und dem Gesicht zur Tanzfläche, und wartete. Nach kurzer Zeit klopfte Kappa mir auf die Schulter und fragte mit seiner heiseren Stimme:
"Fährst du noch zur 'Halle 1'?"
Das kam mir wie gerufen. Ich wollte zur 'Halle1', weil Joël heute dort auflegte, doch ich war nahe daran, es sein zu lassen. Es macht mich müde, wenn ich allein irgendwo hingehen muß. Brinkus wollte auch in "Halle1" kommen, doch ich war mir nicht sicher, ob er sich so spät in der Nacht noch dort aufhielt.
Kappa erkundigte sich, ob ich mit dem Auto zu "Halle 1" fuhr, weil ich Cyrus und ihn dann hätte mitnehmen können. Kappa durfte sein Auto nicht fahren, weil er betrunken war.
Ich schlug vor, daß wir alle uns ein Taxi teilten, und der Vorschlag wurde angenommen. Insgesamt vergingen nur wenige Minuten, bis wir das "Elizium" verlassen hatten.
Ich hatte den Verdacht, daß Rafa Kappa und Cyrus zu mir "geschickt" hatte, damit sie mich irgendwohin mitnahmen. Ich fühlte mich daran erinnert, daß vor einem Jahr Dolf ohne ersichtlichen Grund auf mich zukam und mit mir irgendwo hingehen wollte, und das, unmittelbar nachdem Rafa und ich uns geküßt hatten. Ich kann mir vorstellen, wie das in aller Heimlichkeit abgelaufen ist:
Rafa will auf Trebe, um mich zu vergessen. Er hat schon etwas angeplant und sucht jemanden, der mich beschäftigt, während er mit irgendeiner anderen ins Bett steigt. Für solche Aufgaben ist sein Gefolge zuständig, und dieses Mal waren Kappa und Cyrus an der Reihe. Rafa betreibt seine Frauengeschichten ungefähr so, wie andere ein Geschäft betreiben. Es wird verhandelt, delegiert, geworben und verführt, und es wird mit Menschen gespielt.
Dank Kappa mußte in "Halle 1" niemand Eintritt bezahlen. Kappa bezahlte sogar für mich das Taxi mit.
"Du hast bei mir was gut", sagte ich. "Wenn du in Not bist, gebe ich dir ein Bier aus."
In "Halle 1" führte der erste Weg zur Bar auf der Empore, von der aus die ganze Halle überblickt werden kann. Ich legte meinen Mantel ab und ging für eine Weile auf die Tanzfläche. Ortfried begrüßte mich. Er war tatsächlich noch da. Die Technomusik war schnell, doch ich fand sie nicht besonders einfallsreich. Sie war mir auch oft zu schnell und nicht hart genug. Ich tanzte nicht sehr lange. Die meiste Zeit war ich an der Bar bei Cyrus und Kappa. Cyrus erzählte mir, zu den Techno-Veranstaltungen in "Halle 1" würden er und seine Leute nur gehen, weil dort bis weit in den Morgen etwas los sei:
"Hier kann man hingehen, wenn man noch nicht nach Hause will."
"Tanzt ihr gelegentlich auch?" erkundigte ich mich.
"Das eher nicht", antwortete Cyrus. "Wir trinken meistens nur."
Da wird bei Kappa, Cyrus und Rafa ein nicht unerheblicher Alkoholverbrauch zusammenkommen.
Ich erzählte, daß ich beim Ausgehen in der Regel gar keinen Alkohol trinke. Kappa reichte mir einen Becher Sekt. Er und Cyrus hielten Bierflaschen. Wir stießen an. Kappa nahm mir danach den Sekt weg und gab mir seine Bierflasche.
"Das da schmeckt aber besser", sagte ich und zeigte auf den Sekt.
"Dann tauschen wir das doch einfach aus", meinte Kappa, und es wurde wieder getauscht.
Kappa wirkte reichlich abgefüllt. Er wollte von mir wissen, was ich denn noch gerne so zu trinken hätte.
"Wenn, dann Bitter Lemon", sagte ich.
"Da gibt's aber Besseres als Bitter Lemon", raunte Kappa mir zu.
"Was denn?"
"Das kann ich hier nicht sagen."
Später ließ mir Kappa doch noch ein Bitter Lemon hinstellen.
Ich sprach mit dem noch etwas nüchterneren Cyrus über "Dark Zone". Ich fragte ihn, wann er heimgefahren sei.
"Gegen acht, neun Uhr", antwortete er. "Da war doch dann auch alles vorbei."
"Aber da ging das doch erst so richtig los mit Tanz und so weiter."
"Ach, wenn man den ganzen Tag über da ist, wird das auch ein bißchen lang ..."
Kein Wort verlor Cyrus über die "Pressekonferenz ohne Presse" von Rafa und Kappa. Er erwähnte nicht einmal Rafas Namen. Kappa sprach ebensowenig von Rafa. Ich fragte Kappa, wann wieder eine neue Ausgabe von der "Autodafé" erscheint. Er antwortete etwas ausweichend, im Augenblick würde ihn die Labelarbeit zu sehr fordern, als daß er sich um die "Autodafé" kümmern könne. Mehr Einzelheiten bekam ich nicht zu hören. Immerhin berichtete Kappa, er werde wahrscheinlich bald regelmäßig im "Future" auflegen.
"Was soll da laufen?" fragte ich. "Sag' bloß nicht: Depeche Mode."
"Nein, dafür ist die 'Halle' da."
Cyrus, Kappa, Ortfried Brinkus und ich verließen "Halle 1" gemeinsam gegen halb sieben. Es war hell und goß in Strömen. Ich spannte meinen Schirm auf, und Kappa bat:
"Halt' mal höher."
Also hielt ich meinen Schirm über ihn und mich, als wir über das morastige Fabrikgelände gingen. In den dunklen Eingeweiden der "Halle" tasteten wir uns vor bis zu einem Fernsprecher und riefen Taxis.
"Fahren wir jetzt doch getrennt?" fragte Ortfried.
"Nein", sagte ich. "Du, Kappa und ich fahren in dem einen Taxi und Cyrus in dem anderen. Der muß nämlich in eine andere Richtung."
Kappa erzählte davon, daß ein Bekannter von ihm seinen Porsche zu Schrott gefahren habe:
"War nicht vollkaskoversichert."
"Ist deiner denn vollkaskoversichert?" erkundigte ich mich.
"Nein."
"Und wenn du einen Unfall baust?"
"Pech. Ist halt auch eine Frage des Geldes."
Kappa beschloß, vor dem "Elizium" in seinen Porsche umzusteigen und Ortfried und mich mitzunehmen. Das Taxi zum "Elizium" bezahlte diesmal ich; Kappa war nach der durchzechten Nacht blank wie die regennasse Straße. Er versprach, mir das Geld am kommenden Wochenende zu geben. Ich schickte Ortfried auf die Rückbank des Porsche, weil mir die zu unbequem war. Kappa meinte, nüchtern sei er noch nicht, aber das Fahren ginge schon wieder. Er bot an, Ortfried und mich zu meiner Wohnung zu bringen. Ich achtete sorgsam darauf, daß Kappa vorsichtig fuhr. Er sollte keinen Unfall haben oder von einer Streife angehalten werden, nur weil er mir einen Gefallen tat.
Wir waren fast angekommen, da beschleunigte Kappa auf der vom Regen überfluteten Fahrbahn noch einmal ordentlich. Ich hob meine Hände und sagte, er solle bloß ...
"Na ja", meinte er lächelnd, "man will doch ..."
Sicher - wer einen Porsche hat, möchte seinen Mitfahrern ganz gerne zeigen, was der Wagen kann, und wenn die Verhältnisse noch so schlecht sind.
Heil kamen wir bei mir an.
"Schlaf' gut", wünschte ich Kappa, "und fahr' vorsichtig."
Ortfried machte mir und sich Kaffee. Er schlief im Gästezimmer. Dort schläft er öfters; er ist wirklich fast ein Familienmitglied.
Und in wessen Bett schlief Rafa ...? Hat er im "Future" ein neues Icon angeklickt, nachdem er das Icon "Hetty" weggeklickt hatte?
Leon meldete sich, und wir unterhielten uns längere Zeit. Leon berichtete, er habe immer wieder in Eintags-Bettgeschichten Bestätigung gesucht. Er glaubt, wenn man eine notwendige Weiterentwicklung nicht zuläßt, wird man irgendwann dazu gezwungen.
Carl berichtete, daß Rikka sich in einen Neunzehnjährigen verliebt hat und mit Talis Schluß gemacht hat. Talis klagt nun Derek sein Leid, und Rikka klagt Constri ihr Leid. Sie wollte Talis nicht verletzen und macht sich Vorwürfe. Talis will mit mir in die "Halle" gehen.



Talis kam gegen halb acht, und wir unterhielten uns vier Stunden lang. Er hat sich krankschreiben lassen (von irgendwoher kenne ich das doch?). Seit Rikka zu ihm sagte, es sei aus, hat er kaum noch geschlafen und gegessen. Er wollte auch jetzt nichts essen, nur etwas trinken. Wir tranken eine merkwürdige rote Limonade, die ich zum Testen gekauft hatte. Ich erzählte Talis, wie sich für mich so oft eine scheinbar hoffnungslose Lage zum Besseren wandte, wenn ich Geduld aufbrachte, die Sache im Auge behielt und meinen Gefühlen treu blieb. Ich empfahl Talis, sich vor allem um sich selbst zu kümmern und die Krise als Möglichkeit zu sinnvoller Veränderung und Entwicklung zu betrachten.
"Jedesmal mußte ich weinen, wenn ich von Rikka erzählt habe", sagte er, "bei meinem Arzt, bei meiner Mutter ... nur bei dir muß ich das komischerweise nicht. Du kannst einen voll aufbauen."
In der "Halle" kam Daria von hinten auf mich zu und schlang zur Begrüßung ihre Arme um mich. Sie überbrachte mir sogleich eine Neuigkeit:
"Tessa hat einen neuen Freund. Die ist jetzt auch nicht in der 'Halle'; die ist in BO. Ich wollte dir das nur sagen ..."
"Ja, das ist gut, daß du mir das sagst."
In der "Halle" liefen viele tausendmal gehörte, "totgespielte" Synthi-Pop- und Wave-Stücke, eines davon sogar zweimal. Rafa lief meistens auf dem DJ-Balkon umher. Wenn er nach unten kam, suchte er sich Plätze außerhalb meines Blickfeldes. Ich konnte ihm nur aus der Ferne bei seiner Tätigkeit als Hilfs-DJ zusehen. Er war in rotes Licht getaucht, von Stroboskopblitzen umzuckt und vom Kunstnebel eingehüllt. Mir fiel auf, daß wenig Durchsagen gemacht wurden. Rafa machte überhaupt keine. Er zeigte nicht die künstliche, überdrehte Heiterkeit, die ich so oft bei ihm sehe, wenn er auf dem DJ-Balkon ist.
Talis wurde müder und müder. Er meinte, es ginge ihm nicht einmal besonders schlecht; er würde von seiner Umgebung kaum noch etwas mitbekommen. Er holte Cola für uns und setzte sich dicht bei mir auf einen Stuhl. Ich hatte meinen Mantel übergehängt. Ich friere, wenn mir die Musik nicht gefällt und ich nicht tanzen kann.
Ich erzählte Daria, daß ich in der folgenden Nacht nicht im "Elizium" sein würde, sondern auf Constris und Rikkas Geburtstagsparty. Rafa sollte durch Daria erfahren können, wo ich war, falls er mich im "Elizium" vermißte.
Talis ging schließlich. Er fuhr geradewegs heim, und das war mir recht. Er sollte heil nach Hause kommen.
Ich blieb, weil Daria noch da war und weil ich hoffte, daß Rafa noch den Mut fand, mit mir zu sprechen. Ich setzte mich mit Daria aufs Bühnenpodest.
"Ich habe vorhin schon mit Rafa erzählt", berichtete sie. "Ich habe ihn gefragt, wie das ist mit einer neuen Freundin. Da hat er gesagt, er hat in der 'Halle' eine Freundin. Ich habe dann gefragt, wer das ist. Er:
'Ja, wieso willst'n das wissen?'
Da habe ich gemeint:
'Na ja, man kann doch mal so fragen.'
Da hat er gefragt:
'Ja, ja - wer will das denn wissen?'
Und ich:
'Ja, ich frag' das ja nicht für mich.'
Und dann er:
"Für wen denn?"
Und ich:
'Na, ja ...'
Da hat er nur so gelacht und gesagt:
'Ah, ich versteh' schon.'
Wer seine Freundin ist, hat er aber nicht gesagt. Ich glaube auch, daß das mit der Freundin nur eine Ausrede ist. Ich glaube nicht, daß der eine hat. Ich habe den heute noch mit keinem Mädchen erzählen sehen."
Mit Eve soll Rafa nur wenige Worte gewechselt haben. Ich sah Eve gar nicht.
Ich fragte Daria, wie es denn mit ihr und Dolf sei. Sie meinte, es liefe bestens.
In der "Halle" wurden zwei Stücke von Rafa gespielt, der Clubhit gegen Videospiele und das Lied über virtuelle Realität. Es heißt "Cyberspace". Getreu dem Titel muß die Sängerin in bestimmten Abständen "Cyberspace" sagen. Ich frage mich, ob die Naivität, die ich in vielen von Rafas Stücken finde, beabsichtigt ist.
Gegen drei Uhr lief wenigstens ein Stück von Klinik, "Someone somewhere". Cyrus kam gleich herunter auf die Tanzfläche, drückte mich und fragte:
"Na, wie geht's? Bist du gut nach Hause gekommen?"
"Ja, klar. Und, hast du gut deinen Rausch ausgeschlafen?"
"Ja."
Nach "Someone somewhere" folgte das melancholische "Seeing out the Angels" von den Simple Minds. Cyrus mochte das Stück nicht und ging wieder; dafür kam Kappa herunter. Er rief mir ein "Hi!" zu, das ich erwiderte. Kappa war flankiert von zwei Mädchen. Er tanzte noch zu dem tausendfach gespielten "Threshold" von Front Line Assembly, und ich tanzte mit, weil ich ihm die Gelegenheit geben wollte, mit mir zu sprechen. Er lief aber fort, sobald das Stück zuende war. Nun fehlte nur noch einer von den drei DJ's, und auch der kam auf die Tanzfläche: Rafa. Er blieb in "seinem" Bereich und grüßte mich nicht. Das Stück, zu dem er tanzte, gefiel mir nicht sehr. Den anderen Gästen schien es auch nicht zu gefallen. Rafa tanzte allein. Ich blieb schräg vor ihm auf der Tanzfläche stehen und sah ihm aufmerksam zu. Ich fand ihn einfach niedlich. Eine Brille hatte er nicht auf, und er war kaum geschminkt. Er trug eine Spange im Pferdeschwanz und in den Ohren kleine silberne Creolen. Eine Strähne hing ihm ins Gesicht. Er hatte ein schwarzes Hemd an, das über die Hose fiel. Es war doppelreihig geknöpft und hatte einen Stehkragen. Über dem Hemd trug Rafa eine schwarze Baumwolljacke mit weißem Futter. Die Jacke hatte keine Bündchen. Auf den Rücken war ein großes weißes Y gedruckt, und vorne links leuchtete ein kleines weißes X. Die Hose war schlicht und schwarz. Rafa hatte die vorne spitz zulaufenden Schnallenstiefel an, die er meistens trägt.
Rafa ließ sich nicht aus dem Takt bringen, wenn er auch einen kurzen Blick zu mir herüberwarf. Nach dem Stück brachte er sich erst einmal in Sicherheit. Ich setzte mich wieder zu Daria und wickelte mich in meinen Mantel. Wir waren gerade in ein Gespräch vertieft, als ich Rafa über das Bühnenpodest gehen sah. Er strich von hinten an uns vorbei. Am Ende des Podests blieb er stehen und redete mit einem Jungen.
"Ouu, da hat sich aber jemand ganz böse verirrt", sagte ich zu Daria. "Da hat sich jemand ganz übel verlaufen."
Ich lachte Rafa ins Gesicht. Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er sich nicht getraut hatte, uns anzusprechen.
"Wir bleiben doch bis Ende?" fragte mich Daria.
"Ja, wir bleiben bis Ende."
Sie erzählte, daß ihr Zug erst in über zwei Stunden fuhr. Ich bot ihr an, mit mir zu kommen, damit sie nicht allein auf ihren Zug warten mußte. Ihr war das recht.
"Severance" von Dead can dance begann, und das war für mich der musikalische Lichtblick der Nacht. In dem Lied finden sich Klangbilder aus dem Mittelalter. Es ist getragen und ernst.
Ich war eben aufgestanden, um zur Tanzfläche zu gehen, da sprang Rafa gleich herzu, als hätte er nur auf solch ein Ereignis gewartet. Mit den Worten "Wie kommst'n du nach Hause?" beugte er sich zu Daria. Geschwind streichelte ich Rafa über die Haare, griff in seinem Pferdeschwanz, schlang die Arme um ihn und biß ihn in die Schulter. Ich konnte nicht richtig zubeißen, weil ihn die kräftige Baumwolljacke schützte.
"He!" rief er. "Was'n jetzt schon wieder los?"
Ich rannte auf die Tanzfläche und tanzte zu "Severance". Ich versuchte, kühl und unbeteiligt zu wirken. Als das Stück zuende war, ging ich zum Bühnenpodest zurück und sah nach Rafa. Er stand noch auf dem Podest, ganz hinten links, allein zwischen leeren Stühlen. Dies war mein Zeichen. Ich raffte den Rock und stolzierte auf Rafa zu. Mit koketter Gebärde fragte ich:
"Nun? Man ist also wieder zu zweit?"
"Wieso?"
"Ja, du hast doch Daria erzählt, du hättest eine Freundin."
"Ja."
"Ja, da ist man doch wieder zu zweit."
"Nein", widersprach Rafa sich selbst. "Sag' mal, warum willst'n das wissen?"
"Ich will sowas wissen."
"Ja, warum willst du das wissen?"
"Das ist doch klar", meinte ich.
"Ist nicht klar", gab Rafa zurück.
"Oh, doch", beharrte ich.
Ich sah mir Rafa sorgfältig an. Sein Gesicht hatte einen grauen Schimmer. Es konnte an der Morgenfrühe liegen. Auch mein Gesicht verändert im Lauf der Nacht seine Farbe; aus dem Weiß wird ein bläuliches, graustichiges Weiß.
Rafa machte große, böse Telleraugen. Es hat ihn wohl sehr gestört, als ich vor einer Woche zu ihm sagte, er würde mich so lieb angucken. Vielleicht wollte er nun absichtlich so böse gucken, wie er konnte.
"Was 's' los?" fragte Rafa ungeduldig.
Ich lächelte.
"Hetty, was 's' los?" fragt er noch einmal und beugt sich über meine Schulter, aber nur ganz wenig.
"Das weißt du, was los ist", erwidere ich, immer noch lächelnd.
"Das weiß ich nicht", behauptet er.
"Das weißt du", wiederhole ich.
"Das weiß ich nicht", wiederholt Rafa und ist nahe daran, zu flüchten. "Also: Was - ist - los?"
Zögernd stelle ich ihm eine schwierige Frage:
"Ich denke schon seit Monaten darüber nach, ob du bei deinen durchaus leidenschaftlichen Liebhabereien wohl auch mal ... an das russische Roulette denkst."
Rafa scheint nicht zu verstehen, wovon ich rede, und ich werde deutlicher:
"Ich meine ... ob du daran denkst, daß, wenn du mit irgendeiner Frau schläfst, daß die ... auch mal ... AIDS haben könnte. Dann wärst du ja in zehn Jahren tot. Und das ertrag' ich nicht."
"Ich bin nicht in zehn Jahren tot", entgegnet Rafa.
"Du weißt, daß du nicht in zehn Jahren tot bist?" zweifle ich.
"Ja", versichert Rafa.
Mir genügt das nicht. Ich möchte es genau wissen.
"Das geht nicht", sage ich bestimmend, "daß du mit irgendwelchen Frauen schläfst, ohne dich zu schützen."
"Na klar schütz' ich mich!" ruft er sogleich und wirkt stolz auf seine Vorsicht und Disziplin. "Ich hab' immer ein Kondom dabei; das ist doch selbstverständlich!"
Ich seufze ein Bühnenseufzen und sage:
"Jetzt bin ich aber erleichtert. Das ist mir so lange im Kopf herumgegangen. Nur das mit der Sauferei, das gefällt mir noch nicht. Hast du denn heute auch wieder was getrunken?"
"Ja."
"Wieviel?"
"Oh ... genug."
"Glaubst du, daß du mit dem Alkohol deine Probleme lösen kannst?"
"Ja", meint Rafa. "Ich kann meine Probleme damit lösen."
"Ja, aber du vergiftest dich doch dabei. Du zerstörst dich dabei, beim Trinken."
"Du zerstörst dich doch auch mit mir", gibt er zurück.
"Ich zerstöre mich nicht", widerspreche ich. "Das paßt mir nicht, daß du trinkst."
"Mir paßt's aber."
"Und mir paßt es nicht."
"Was 's' los?" fragt Rafa immer unruhiger.
Ich bleibe ihm die Antwort schuldig; ich hasche nur nach ihm. Rafa wehrt sich gegen jede Berührung. Ich versuche, seine Hände zu fassen, doch auch dies erlaubt er nicht. Ich bekomme ein ärgerliches "Hey, Mensch, laß' doch mal!" zu hören.
"Und macht dir das denn gar nichts aus, daß du deinen Körper mit dem Alkohol kaputtmachst?" will ich wissen. "Daß du deinen Körper damit zerstörst?"
"Jeder zerstört sich doch mit irgendwas", glaubt Rafa, "ob das nun Alkohol ist ..."
"Ja, aber man muß es doch nicht noch extra beschleunigen."
"Jeder macht sich doch mit irgendwas kaputt. Was es ist, die Menge - das ist doch relativ."
"Ja, mir paßt das aber nicht", beschwere ich mich. "Mir paßt das nicht, daß du deinen Körper ruinierst."
Rafa erwidert nichts darauf.
"Stört dich das denn gar nicht, daß du dich damit kaputtmachst?" frage ich.
"Na ja", kommt es von Rafa, "da ich ja sowieso an ein Leben nach dem Tode glaube ..."
Er lächelt aufmunternd und fügt hinzu:
"Vielleicht sehen wir uns ja in meinem nächsten Leben wieder."
"Ich will dich aber nicht erst in deinem nächsten Leben wiedersehen", sage ich fordernd, ernst und eindringlich.
Fluchtbereit und äußerst angespannt steht Rafa vor mir. Er macht fast dauernd seine drohenden, beschwörenden Telleraugen. Ich will möglichst viel mit ihm besprechen, bevor er davonläuft, doch es fällt mir schwer, meine Gedanken zu ordnen.
"Was machst du denn jetzt beruflich?" erkundige ich mich.
"Friseur."
"Und das macht dir jetzt mehr Spaß."
"Als was?"
"Na ja, vorher warst du doch Maler."
"Ja."
Ich stehe eine Weile schweigend vor ihm und fahre fort, ihn aufmerksam zu betrachten.
"Het-ty! Was - ist - los?" ruft er laut und drängend.
Statt einer Antwort taste ich wieder nach seiner Hand, was er heftig abwehrt.
"Ey, echt - was hast du für Gedanken bei dem, was du machst?" fragt er kopfschüttelnd. "Was hast du da für Gedanken dabei?"
"Das sind weniger Gedanken", erkläre ich. "Ich habe Gefühle."
"Gefühle!" ruft er und lacht.
"Gefühle sind nichts Lächerliches", erwidere ich. "Gefühle sind was Ernstes."
Ich suche in Rafas Gesicht nach einer Botschaft an mich. Er scheint auf mich abweisend wirken zu wollen. Ich habe den Eindruck, daß er sich als langweilig, nichtsnutzig und unhübsch darstellen möchte. Er scheint mich glauben machen zu wollen, daß ich ihn nicht lieben könne. Er scheint insgesamt an dem Sinn von Gefühlen zu zweifeln. Die Furcht scheint alle übrigen Empfindungen in ihm zu lähmen, so daß er nicht mehr weiß, wie Sehnsucht und Zuneigung sich "anfühlen".
"Heute mauerst du wieder ganz schön, hm?" vermute ich.
"Ja, was soll ich sonst machen?" erwidert Rafa. "Ich muß ja mauern, wenn du mich angreifst."
"Ich greife dich nicht an."
"Ha! Das muß ich ja wohl wissen, ob ich mich angegriffen fühle!" ruft er wütend. "Was willst du wissen, ob du mich angreifst? Das muß ja wohl ich selber wissen, ob ich mich angegriffen fühle!"
Im Stillen bin ich seiner Meinung. Ich hatte ihm nur widersprochen, weil ich ihm vermitteln wollte, daß meine "Angriffe" ihm nicht schaden, sondern helfen sollen.
"Was willst du tun?" fragt Rafa mich nach meiner Vorgehensweise.
"Ich beobachte dich, ich gucke, was du machst und sehe einfach, was ich tun kann", gebe ich zur Antwort.
"Du willst, daß es mir schlecht geht", wirft er mir vor.
"Das will ich nicht", entgegne ich. "Ich will nicht, daß es dir schlecht geht."
"Mir geht's immer schlecht, wenn ich beobachtet werde."
Ich betrachte ihn und vermute:
"Du willst mich am liebsten loswerden, hm?"
"Hetty", seufzt er, "ich habe dir hundertmal gesagt, was ich will."
"Und was?"
"Na, daß wir nochmal ganz von vorne anfangen."
"Dann müssen wir uns überlegen, wie wir das machen."
"Ich sagte ja schon, wie", erinnert mich Rafa. "Nicht auf diesem Niveau. Nicht auf diesem Niveau."
"Ja, wie können wir es denn machen?"
"Paß' auf", sagt er da, "ich mach' dir'n Vorschlag: Du denkst dir was aus und führst das durch. O.k.?"
Er umschließt meine Hände mit seinen, so daß ich nicht mehr nach ihm greifen kann. Dann drückt er mir die Hände und sieht mich an mit einem Blick, der sagen will:
"So, jetzt gehe ich aber."
Ich schaue hilflos; ich möchte ihn nicht fortlassen.
"Also", prägt Rafa mir ein, "du denkst dir was aus und führst das durch. Aber nicht heute! Nicht heute!"
Er läßt mich los und will sich entfernen.
"Doch, heute", sage ich leise und fasse noch einmal vorsichtig nach seinen Armen und Händen.
"Nicht heute!" wiederholt Rafa im Gehen.
Ich weiß, daß ich ihm nicht folgen darf.
Nach kurzer Zeit sehe ich ihn wieder auf dem DJ-Balkon. Er hatte mir erzählt, es würde ihm schlecht gehen, wenn er beobachtet wird. Als ich nun darüber nachdenke, bekomme ich mehr als je den Eindruck, daß Rafa mich seinerseits sehr aufmerksam und engmaschig beobachtet.
Lange hält es ihn nicht mehr in der "Halle". Ganz allein geht er hinterm Bühnenpodest zum Ausgang. Er dreht sich nicht zu mir um. Es ist das erste Mal, daß ich Rafa ohne Begleitung fortgehen sehe.
"Er übernachtet bei Kappa", wußte Daria.
Kappa hat ihm also seinen Schlüssel gegeben.
Ich bin mir wahrhaftig nicht sicher, ob Rafa eine Freundin hat. Wenn er eine hätte, wäre er wohl eher mit ihr weggegangen. Daria nimmt an, daß Rafa mit der "Freundin" Eve meinte. Die soll er aber unausstehlich finden. Er soll Daria erzählt haben, daß er es nicht mag, wenn Mädchen Jeans und schwere Stiefel tragen. Er hat es lieber, wenn sie Kleider anziehen und spitze Schuhe. Anscheinend findet Rafa das schön, was ich auch schön finde.
Daria und ich verließen die "Halle" gegen vier Uhr. Wir teilten uns die Taxifahrt zu meiner Wohnung.
Ich erfuhr von Daria, daß Rafa ebenso nach Neuigkeiten über mich hungert, wie ich auf Neuigkeiten über ihn aus bin. Kurz nach "Dark Zone" ließ sich Rafa von Daria erzählen, was ich ihr über ihn gesagt hatte. Ganz genau wollte er es wissen. Nun wollte ich ganz genau wissen, was Daria dem Rafa erzählt hatte von dem, was ich ihr über ihn erzählt hatte. Daria blieb eher undeutlich:
"Na, was du halt so gesagt hast ... daß du den halt voll gut findest ..."
Die Vermittlerrolle scheint Daria zu gefallen. Durch diese Rolle wird sie wichtig. Sie wird gebraucht. Und von Rafa wird Daria auch deshalb gebraucht, weil er in SHG. abends recht allein ist.
Daria zog im letzten Herbst nach SHG. Kurz nach ihrem Umzug sprach Rafa sie in der "Halle" an:
"Ich habe dich in SHG. gesehen. Das ist ja toll, daß du da auch wohnst. Da können wir uns ja auch mal abends treffen und was trinken gehen. Sonst wohnt nämlich keiner in SHG."
Seitdem treffen sie sich hin und wieder. Daria hatte erst den Eindruck, daß Rafa etwas von ihr wollte. Doch das sieht inzwischen gar nicht mehr so aus. Ihr Verhältnis zu Rafa beschreibt Daria als "locker und entspannt".
"So wie ich wirst du Rafa nie kennenlernen", meinte sie. "Wenn er mit mir redet, kann er auch mal ausgelassen sein. Er kann auch mal Sch... labern; das ist egal, weil nicht jedes Wort gleich eine schwerwiegende Bedeutung hat."
Ich gab ihr recht. Mit mir zu reden ist für Rafa ungleich anstrengender, als mit Daria zu reden. Zwischen Rafa und mir wiegt jedes Wort schwer, weil wir füreinander sehr wichtig sind.
Ich finde es ungewöhnlich, daß Rafa zu einem Mädchen nur ein freundschaftliches oder nachbarschaftliches Verhältnis hat. Ein Mädchen scheint für Rafa gleichbedeutend mit einer Herausforderung zu sein:
"Schaff' ich's bei dieser?"
Bei mir hat er es noch nicht geschafft. Mich konnte er noch nicht dahin bringen, wohin er mich haben wollte. Stattdessen scheine ich ihn auf irgendeine Art "geschafft" zu haben.
Rafa soll ganz verwirrt gewesen sein, als ich ihn überfiel und in die Schulter biß.
"Der hat vielleicht geguckt, als du ihn geküßt hast", erzählte Daria.
Er soll gefragt haben:
"Wo's Hetty? Wo's Hetty?"
"Die tanzt da vorne", antwortete Daria.
"Ach ...", kam es von Rafa.
Dann wollte er wissen:
"Was hat Hetty eben über mich gesagt?"
"Daß du sie beobachtet hast, während du am Tanzen warst", erzählte ihm Daria.
"Nein!" rief er schnell. "Ich hab' die nicht beobachtet! Ich hab' keinen einzigen Blick zu ihr 'rübergeworfen! Keinen einzigen Blick! Nicht einen Blick!"
Er wird sich sehr schämen dafür, daß seine Augen dauernd zu mir wandern.
"Wie kommst'n du nach Hause?" stellte er Daria noch einmal seine erste Frage.
"Ach, ich fahr' mit Hetty mit", antwortete sie.
"Ja, fahr' mal mit Hetty mit", riet er ihr zu. "Das wird echt bestimmt ganz lustig."
"Der Zyniker", bemerkte ich, als Daria mir das erzählte. "Für ihn war es alles andere als lustig, bei mir zu sein."
Während ich zu "Severance" tanzte, "tigerte" Rafa auf dem Bühnenpodest herum, wie Daria es ausdrückte. Er wartete und suchte nach einem geeigneten Platz, an dem ich ihn ansprechen sollte.
Daria konnte nun die Wohnung sehen, in die sich Rafa von mir hatte bringen lassen.
"Du hast ein schönes Zimmer", meinte sie.
Wie alle meine Gäste wunderte sie sich über die Barbiepuppen auf dem Stahlschrank. Ansonsten fielen ihr der Computer und die Fotos von Rafa ins Auge. Auf die gezeichneten Bilder schien sie nicht so sehr zu achten.
Daria nahm auf meinem Sofa Platz. Ich schnitt etwas von dem Schokoladenkuchen ab, den Carl gekauft hatte, und stellte es uns hin. Als Tisch verwendete ich den Kalksand-Schalstein, den Sator im letzten Winter für mich von einer Baustelle geholt hat.
Rafa soll noch immer von SHG. schwärmen. Dennoch scheint er nach dem Abschied von seinem Beruf auch den Abschied von seiner Heimat zu planen.
"Ich lebe schon mehr in H. als in SHG.", soll er zu Daria gesagt haben. "H. ist für mich schon sowas wie eine zweite Heimat."
Er wolle nicht mehr bei seiner Mutter wohnen; das sei ihm "zu nervig". Er habe vor, mit jemandem in eine WG zu ziehen. Vielleicht hater vor, zu Kappa zu ziehen.
"Bei seiner Mutter hat er ein gemachtes Nest", meinte Daria. "Er braucht nur die Füße unter den Tisch zu stellen. Er muß nicht einkaufen, er muß nicht die Wäsche waschen ... Das ändert sich dann alles."
Rafa soll laut Daria die Sängerin nicht mehr anrufen.
"Tessa kommt auch nicht mehr in die 'Halle'", erzählte Daria. "Sonst ist sie immer noch gekommen, wenn Schluß war, weil sie gehofft hat, daß Rafa mit ihr redet und daß es wieder klappt. Sie sagt jetzt, sie will erstmal nicht mehr in die 'Halle' kommen. Das ist wohl, damit sie Rafa nicht sehen muß. Sie mag ihn wohl noch."
Der neue Freund der Sängerin soll in BS. leben.
"Kann auch sein, daß das nicht hält", vermutete Daria. "Ich glaube, sie hängt noch sehr an Rafa."
"Ich nehme an, daß sie deshalb so auf Rafa aus ist, weil sie glaubt, daß sie durch die Beziehung mit ihm etwas von seiner Ausstrahlung abbekommt", meinte ich. "Sie ist vom Wesen her recht blaß, nicht sehr ausdrucksvoll. Sie gehört zu den Menschen, die dann Neid entwickeln und Gier und unbedingt haben wollen, was sie nicht haben können. Sie will Rafa haben, weil sie glaubt, dann mehr zu sein. Ich glaube auch, den Freund hat sie nur, um einen Freund zu haben. Ich glaube, ohne Freund denkt sie, sie ist nichts. Sie braucht immer einen Freund, um das Gefühl zu haben, etwas zu sein. Sie definiert sich über den Freund. - Was macht sie eigentlich beruflich?"
"Nichts", antwortete Daria. "Die ist arbeitslos."
"Das ist ja auch ... für Depressionen förderlich. Hat sie denn eine Ausbildung?"
"Das weiß ich nicht."
"Ich hatte schon gehört, daß die nichts macht. Die zehrt von dem Vermögen ihrer Mutter. Ihr Vater soll doch nicht mehr leben."
"Der soll eine Disco gehabt haben."
"Sie zehrt immer von anderen", beschrieb ich das Verhalten der Sängerin. "Sie saugt andere Menschen aus. Von Rafa wollte sie sich die persönliche Ausstrahlung holen. Von ihrer Mutter holt sie sich das Geld. Wie soll sie sonst in der Lage sein, Rafa die ganzen Keyboards zu bezahlen?"
"Stimmt, sie fährt auch einen BMW. Wie sie sich das leisten kann als Arbeitslose ..."
"Und denk' mal an das Benzingeld für die ganzen Fahrten nach BO. und so weiter."
Daria glaubt, daß die Sängerin H. auf Dauer meiden wird. Sie glaubt sogar, daß die Sängerin ihren Wohnort wechseln wird.
"Das glaube ich nicht", meinte ich. "Ich glaube, sie würde allenfalls dann in eine andere Wohnung einziehen, wenn die von ihrer Mutter bezahlt wird."
Die Sängerin soll mittwochs immer in HF. sein, wahrscheinlich im "Zone". Ich erinnere mich daran, daß Rafa im April letzten Jahres von Timo im "Zone" gesehen worden ist, auch an einem Mittwoch. Ich glaube, daß sich Rafa dort die Sängerin genommen hat, um an seine Verabredung mit mir nicht mehr denken zu müssen.
"Rafa und die Sängerin sind wohl noch einige Male zusammen", vermutete ich.
"Ja, vielleicht klappt es irgendwann doch noch mit den beiden", sagte Daria.
"Das klappt nicht", war ich sicher. "Die werden sich wieder streiten, und jedesmal heftiger. Sie wird doch nicht mit ihm fertig."
"Ach, mit Rafa wird wohl sowieso niemand fertig."
"Doch. Ich werde mit ihm fertig."
"Dann mußt du dich ja nun beeilen", riet Daria, "wo er gerade kein Mädchen hat - bis er eben wieder eins findet, das sich vielleicht auch um ihn kümmert."
"Das findet er nicht", sagte ich bestimmt. "Es gibt niemanden außer mir, der sich so viel um ihn kümmert wie ich."
Daria glaubt, daß Rafas Mutter nicht mitbekommt, wieviel er trinkt. Sie glaubt, daß die Mutter sich nicht sehr viel um ihn kümmert. Rafas Bruder soll Einzelgänger sein.
"Der ist älter als Rafa, achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre alt", erzählte Daria.
Rafa soll über seinen Bruder sagen, er sei wie ein Fremder für ihn. Angeblich will der Bruder immer nur allein sein, allein sein, allein sein. Er soll so gut wie nie ausgehen.
In einer solchen Familie ist für Rafa kein Halt zu finden. Ich bezweifle immer mehr, daß diese zerbrochene Familie jemals heile war.
Ebensowenig scheint die wieder und wieder zerbrechende Beziehung zwischen Rafa und der Sängerin je heile gewesen zu sein.
"Sie beobachtet dich immer noch", sagte Daria über die Sängerin.
Sie blieb zuversichtlich, was Rafa und die Sängerin betrifft:
"Ach, ich denke, das klappt schon wieder - vielleicht beim nächsten Konzert ..."
"Ja, Rafa will das Bild aufrechterhalten, daß die Band aus drei Leuten besteht."
"Aber in den CD-Heftchen ist nie davon die Rede, daß Tessa dabei ist", wandte Daria ein. "Sie ist immer auf dem Bild drauf, aber ihr Name steht da nie. - Na, es kommt vielleicht auch darauf an, wer die Begleittexte schreibt ... Wenn Cyrus die schreibt, erwähnt er Tessa nicht."
"Na, im letzten Herbst ist Rafa auch schon mal mit Dolf zu zweit aufgetreten."
Daria und ich überlegten, inwiefern Rafa die Sängerin überhaupt braucht.
"Es gibt ja nur drei Lieder, in denen sie singt", sagte Daria, "einmal 'Rosa Zeiten', und in 'Cyberspace', da sagt sie ja nur 'Cyberspace'. Und 'Teile von Gott', das ist ja gar nicht auf der CD mit drauf, das ist nur auf der Kassette."
"Außerdem, ich meine, es gibt genug Mädchen, die besser singen als sie."
"Na ja, mal egal, wie gut sie nun singen kann - daß sie in der Band ist, liegt wohl mehr daran, daß sie mit Rafa zusammen war. Jetzt ist sie wohl auch nicht mehr in der Band."
"Nein. Die haben sich neunmal getrennt, und neunmal ist sie auch aus der Band geflogen."
"Na, dann würde ich aber sagen, das wäre besser, wenn Rafa eine Sängerin hätte, mit der nichts läuft. Sonst muß er ja bei jeder Trennung die Band umbesetzen."
Ich fand es seltsam, daß Daria viel über Rafa und die Sängerin, jedoch gar nicht über Dolf sprach. Dabei mußte er doch von den dreien der Wichtigste für sie sein.
"Du und Dolf, ihr habt doch sicher auch so ein inniges, persönliches Verhältnis?" erkundigte ich mich.
"Ja, wir telefonieren jeden Tag", bekam ich zur Antwort, "und am Wochenende sehen wir uns. In der Woche ist das ja immer schlecht."
Über die eigentliche Beziehung erfuhr ich nichts, außer daß Dolf Angst um Daria hat, wenn sie nachts allein am Bahnsteig wartet.
Dolf sehe ich kaum noch mit Rafa, außer auf der Bühne.

In einem Traum am Morgen spielte Rafa klassikähnliche Musik auf einem Streichinstrument.

Die Melodie habe ich auf einen Zettel geschrieben, um sie nicht zu vergessen. Sollte Rafa wirklich einmal so etwas spielen?

In einem anderen Traum war ich in SHG. bei Rafa, doch nichts sah so aus, wie ich es kannte. Mein Bett stand in einem hellen Zimmer und war seins. Fremde Leute waren zu Besuch. Ich hatte mein Nachthemd an und lag in dem Bett. Rafas Mutter kam ins Zimmer. Sie war dunkelhaarig, nicht sehr groß und etwas rundlich. Sie stieg auf einen Schemel, um an der Wand etwas zu befestigen. Rafa kam, und ich umarmte ihn mehrmals.

In dem Traum vermischten sich Rafas Umgebung und meine. Die fremden Leute und die Mutter störten unsere Zweisamkeit.
Durch die Trennung von Rikka und Talis herrschte auf der gemeinsamen Geburtstagsfeier von Constri und Rikka eine seltsame Stimmung. Rikka sorgte mit etwas Alkohol für Ausgelassenheit. Sie trug einen kurzen ärmellosen Overall und offenes Haar. Sie freute sich über den sprechenden Batman-Wecker, den Constri und ich ihr schenkten. Er sagt "Ruf Batman! Gotham City ist in Not!", und ein Scheinwerfer läßt das Fledermaus-Symbol an der Decke leuchten.
Ihren neuen Freund hatte Rikka nicht mitgebracht.
Talis ging es von Stunde zu Stunde schlechter. Er verschwand schließlich nach draußen. Ortfried kam nach oben und sagte zu mir, man dürfe Talis nicht stören. Ich war ganz anderer Ansicht. Ich ging hinunter und fand Talis draußen auf einer Stufe sitzen. Er schluchzte vor sich hin. Ich ließ mich hinter ihm nieder und legte die Arme um ihn. Nach einiger Zeit sagte er:
"Sch..."
Dann fragte er:
"Warum macht sie das nur?"
"Das ist eine gute Frage", meinte ich.
Ich setzte mich neben ihn und gab im ein Taschentuch.
"Ich wollte echt nicht so abstürzen", sagte Talis.
Als wir wieder oben waren, fragte Rikka mich in einem Eckchen:
"Und? Wie geht's ihm?"
"Schlecht", antwortete ich.
Rikka stöhnte und erzählte mir, nicht nur Talis, auch sie könne kaum noch schlafen und essen.
Constri hatte die Wohnung eigenwillig geschmückt; sie hatte weiße Pappteller und Plastikbesteck auf dem Fußboden verteilt und an die Decke gehängt. Kantinenfee Merle glaubte beim Hereinkommen zuerst, die Sachen aufräumen zu müssen. Wir erklärten ihr, daß es nur Deko war.
Immer mehr wird Merle zu dem, was sie als ihre Bestimmung empfindet: zur Mutter. Sie sah etwas durchsichtig aus, hatte sich aber beim Schminken besondere Mühe gegeben.
Steini schenkte Constri ein Straßenbau-Warnschild. Derek trank eine ganze Flasche Bailey's und gab sie anschließend wieder von sich. Ich zweifelte daran, daß wir ihn an solchen Feiern überhaupt teilnehmen lassen sollten. Sie scheinen ihn zu überfordern.
Gegen Morgen legten Rikka und Talis sich in Constris Zimmer schlafen. Dort war es ruhig und gut geheizt. Rikka lag von Stofftieren umringt in Constris Bett. Talis lag in eine Decke gehüllt auf dem neuen dunkelgrauen Teppichboden. Die Verkehrsampel strahlte sie aus drei Augen an. Steini hat Constri die Ampel zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt und sie an der Zimmerwand befestigt.
Draußen war es schon hell. Dichter Nebel lag über den Gärten.
"Es sieht so romantisch aus, wenn man sie da liegen sieht, das zerbrochene Pärchen", betrachtete Constri sinnend die Szene.
Ich fotografierte die beiden.
Was aus Constris Kleiderschrank wird, ist noch nicht sicher.
"Der ist so schief, wenn du den zu lange anguckst, wirst du betrunken", meinte Constri.
Als der Schrank vorübergehend auf den Balkon mußte, weil der Teppichboden verlegt wurde, soll er durchs Küchenfenster geschaut haben, als wollte er sagen:
"Hallo, ich bin der Geist von dem Schrank, laß' mich 'rein!"
Ted will am Freitag in die "Halle" kommen. Ich will deshalb auch hingehen. Rafas Namen finde ich auf dem Handzettel zum ersten Mal in der Liste der DJ's.
"Musik der neuen Zeit" lautet das Motto.
Mit der "neuen Zeit" meint Rafa wohl das, was vor zehn Jahren gewesen ist, als es "nicht mehr weiterging".
Rafa möchte, daß ich mir etwas einfallen lasse ... aber was nur? Und wie soll ich ihn erreichen, wenn er sich hinter einer Freundin verschanzt?

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