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Am Freitag wollte ich zu Ivcos Geburtstagsfeier und danach ins "Mute". Für Ivco hatte ich Mandel- und Kokossirup und Kokosmilch besorgt, wie er es sich gewünscht hatte. Ivco feierte im Partykeller seines Hauses. Der Partyraum ist länglich und enthält eine Bar mit Barhockern und eine Bank gegenüber davon. Einige Verwandte und Freunde von Ivco waren schon da, unter ihnen sein Bruder und seine Schwester. Carole trug die zweijährige Dina auf dem Arm. Das Kind mußte ins Bett, es war schon halb zehn.
Ivco machte für mich einen alkoholfreien Caipirinha, den ich lieber trinke als den mit Alkohol.
Hinter der Theke hängt ein Bild an der Wand, das zeigt Carole, wie sie mit Rafa tanzt. Das Bild stammt von dem Booklet zu Rafas Album "Tanzpalast 2000". Rafa verwendete Carole für das Cover und das Booklet, weil er sie dekorativer fand als seine damalige Sängerin Zinnia.
Gegen viertel vor zehn betrat Rafa den Partykeller, begleitet von Darienne und Herrn Lehmann. Rafa trug eine schwarze Uniformjacke mit Goldknöpfen und roten Einfassungen. Darunter hatte er ein weißes Rüschenhemd an. Er trug seine enge schwarze Hose mit den weißen Kreuzen darauf.
Ich hatte mich fürs "Mute" angezogen, mit der Nadelstreifen-Corsage, die vorne einen Einsatz aus Netzstoff hat, meinem Domina-Halsband und dem weiten silbrigen Rock, der mit Raffungen verziert ist.
Zur Begrüßung umarmte ich Darienne und Herrn Lehmann. Darienne wirkte etwas pikiert und nicht eben herzlich. Darüber ging ich bewußt hinweg. Die Konflikte zwischen Rafa und mir sollten die einzigen Konflikte sein, um die ich mich kümmerte.
Rafa stand dicht vor mir und schaute mich freundlich an, wirkte aber sehr hektisch und redete unentwegt. Ich legte die Hände um seine Schultern und bemerkte:
"Du bist heute mal wieder scheu, hm?"
"He, wirk' nicht so aufgesetzt", beschwert er sich. "Ich wollte dir gerade die Hand geben, aber wenn du nicht willst - bitte. Kann ich's auch lassen."
"Doch, natürlich, klar."
Rafa schüttelt mir ausführlich die Hand.
Ich schließe die Arme um ihn, und er beschwert sich abermals:
"He! Nicht so aufgesetzt!"
"Ich bin nicht aufgesetzt", erwidere ich. "Das ist echt."
"Na gut, dann sei eben aufgesetzt", sagt Rafa wegwerfend.
Er macht sich los, mustert mich, blickt in die Runde und ruft:
"Mensch, hier sind ja nur die schönsten Frauen und Männer versammelt!"
"Stimmt", nicke ich.
Rafa geht hinter die Theke, um Ivco zum Geburtstag zu gratulieren. Ivco und Rafa umarmen sich. Rafa dehnt diese Zärtlichkeiten theatralisch aus und gebärdet sich, als sei er in Ivco verliebt. Schließlich kommt Rafa wieder hinter der Theke hervor und fragt in die Runde:
"Raucht hier jemand? Wer raucht hier? Raucht hier keiner? Na, ich gehe jetzt nach hinten in die Raucherecke. Das ist jetzt die Raucherecke."
Rafa geht ans hintere Ende der Theke, unters Kellerfensterchen, und setzt sich auf einen Barhocker. Er raucht, ebenso wie Darienne, Herr Lehmann und einige andere.
Rafa bittet Ivco:
"Gib mir auch 'mal so ein Halbliter-Glas! Dann ist der Rafa glücklich für den Rest des Abends!"
Rafa hält die gewohnten Volksreden und ergeht sich in Betrachtungen wie:
"Ich fände das so toll, die Atmosphäre, wenn die Zimmer weiß gekachelt wären, und im Schrank würde die Tollkirsche stehen."
Als ich näher an Rafa herankomme und betrachte, wie er sich in der Gruppe darstellt, unterbricht er sich und schaut mich an, eine Zigarette in der Hand, die er eben aus seiner Schachtel gezogen hat.
"Soll ich mir die auch noch anstecken?" fragt er mich. "Oder soll ich's lassen?"
"Das mußt du selbst entscheiden", entgegne ich. "Das ist ganz deine eigene Entscheidung. Das ist immer so bei Suchtkranken, daß es der eigene Wille sein muß, sonst ändern die Betroffenen nichts."
"Nun los, nun komm' schon her", winkt Rafa.
Ich gehe auf ihn zu und lege die Arme um ihn, lächle ihn an, lehne mich an ihn und kuschle meine Wange an seine Schulter.
"Es hat keinen Sinn, einem Suchtkranken die Zigaretten wegzumehmen oder kaputtzumachen", erkläre ich, "weil man dadurch an der Suchtkrankheit nichts verändert. Der Suchtkranke selber muß den Wunsch haben, damit aufzuhören, sonst erreicht man nichts. Deshalb kann ich nichts erreichen, wenn ich dir sage, du sollst dir keine anstecken. Du muß selbst den Wunsch entwickeln, mit dem Rauchen aufzuhören."
"Das hörte sich im 'Nachtbarhaus' aber ganz anders an."
"Natürlich will ich, daß du mit dem Rauchen aufhörst, aber nicht, weil mich der Zigarettenrauch stören würde. Ich bin so viel in verräucherten Discotheken unterwegs, daß ich das gewohnt bin. Ich will aus einem ganz anderen Grund, daß du mit dem Rauchen aufhörst."
"Damit ich länger lebe", weiß Rafa.
"Ja, ganz genau", nicke ich. "Genau, genau, genau, genau, genau. So ist es, ganz genau so."
"Was ist aber nun, wenn ich gar nicht lange leben will? Was dann?"
"Warum willst du denn so früh sterben?"
"Ich will mein Leben genießen, genießen, und deshalb rauche ich, weil ich mein Leben genieße."
"Rafa, wenn du dreimal am Tag gemütlich eine schmöken würdest, dann würde ich auch sagen, daß es Genuß ist."
"Aber ich will das zwanzigmal am Tag. Ich will das zwanzigmal am Tag genießen."
"Das ist dann kein Genuß mehr, das ist Sucht."
Rafa betrachtet mich, wie ich ihn anstrahle, und fragt:
"Sag' mal - nimmst du irgendwelche Drogen?"
"Nein."
"Na ja, so zum Beispiel ... Essen."
"Na ja, ich esse gerne ... Dany + Sahne Mokka ..."
"Aha."
"Und ich esse gerne Tiramisu."
"Aha."
"Und ich esse gerne Hühnersuppe, aber die klassische mit Nudeln und Eierstich."
"Ist das nicht was mit toten Tieren drin?"
"Ja, ich habe mal gesagt:
'Wenn es mir wieder richtig gut gehen soll, muß ein Huhn sterben.'"
"Was?"
"Hühnersuppe ist für mich etwas, das etwas heile macht, was kaputt ist. Und dafür muß ein Huhn sterben. Ja, und dann mag ich außer Tiramisu auch noch Cappuccino-Mousse, Rotwein-Mousse, Weißwein-Mousse ..."
"Mousse."
"Ja. Und das Tiramisu von Zott."
"Dany + Sahne, das ist doch von Danone."
"Ja. Drogen nehme ich aber nicht."
Ich halte Rafa unentwegt in den Armen, streichle ihn und kuschle mich an ihn.
"Du bist immer so aufgesetzt", klagt er.
"Das ist nicht aufgesetzt", erwidere ich, "das ist echt."
"Nein, da ist immer diese Mauer um dich 'rum, der Stacheldrahtverhau. Sei endlich mal du! Sei du!"
"Das bin ich doch."
"Ich will mir dir reden."
"Du redest ja mit mir."
"Nein, das bist nicht du", meint Rafa. "Du wirkst so gestellt."
"Ich bin wirklich echt, das ist absolut echt."
"Du hast immer diese Mauer um dich 'rum. Und die will ich durchbrechen."
"Aber ich bin wirklich ich."
"Los, jetzt werd' mal richtig besoffen", verlangt Rafa. "Betrink' dich mal richtig."
"Du kannst auch mit mir reden, wenn ich nüchtern bin."
"Nein, dann rede ich ja nicht mit dir."
"Ich möchte aber noch Auto fahren."
"He, los, nun trink' endlich mal richtig ... damit ich mich mit deiner Seele unterhalten kann."
"Du unterhältst dich schon mit mir."
"Nein, das bist nicht wirklich du."
"Doch, doch, das bin ich und nur ich."
"Nur wenn du betrunken bist, kann ich deine Seele erreichen. Ich möchte deiner Seele so richtig eine in die Fresse hauen."
"Du willst mir in die Fresse hauen?"
"Nein, ich will deiner Seele in die Fresse hauen", erklärt Rafa. "Und die erreiche ich nur, wenn du betrunken bist. Dann würde ich deiner Seele mal so richtig den Hintern versohlen und ihr sagen:
'Sch... auf Rafa.'
Damit du endlich so richtig drauf sch... kannst."
"Das wird nie geschehen."
"Sch... auf deine Gefühle", fordert Rafa. "Gefühle sind nichts, der Kopf ist alles."
"Gefühle sind wichtig."
"Gefühle sind gar nichts, der Kopf ist alles. Sch... auf Gefühle."
"Meine Gefühle sind ein Teil von mir. Die sind mir sehr wichtig, die nehme ich sehr ernst."
"Ich richte mich immer nur nach meinem Verstand."
"Und ich richte mich nach meinen Gefühlen."
"Sch... auf deine Gefühle."
"Das wird ganz sicher nie geschehen."
"Natürlich ist es schön für mein Ego, wenn da jemand ist, der so ... präsent ist und der mich irgendwie ein bißchen mag", meint Rafa, "und ich glaube, du magst mich schon ein bißchen."
"Ich liebe dich."
"Du weißt gar nicht, wer ich bin."
"Ich weiß, wer du bist."
"Wir reden aber von Rafa?"
"Ja."
"Wir reden von mir, wir reden von demselben?" fragt er. "Wir reden von dem Rafa?"
"Ja."
"Wie kannst du mich denn kennen? Wir sind uns vielleicht viermal begegnet."
"Das war öfter."
"Laß es achtmal, laß es vielleicht achtzehnmal sein, daß wir mehr als zehn Minuten miteinander geredet haben ... und daher willst du mich kennen?"
"Es kommt darauf an, wie man redet und worüber man redet, welche Intensität das Gespräch hat."
"Ich benutze aber unheimlich gerne Wörter wie ... 'Tittenf...'."
"Ich weiß, daß du viele unanständige Wörter verwendest."
"Das sind keine unanständigen Wörter", widerspricht Rafa und zählt noch mehr Wörter aus der Vulgär-, Gossen- und Fäkalsprache auf.
Er erinnert mich an einen Schuljungen, der versucht, möglichst schockierend zu wirken, weil er sich dann besonders wichtig und überlegen vorkommt.
"Das stört mich nicht weiter", erkläre ich, "von mir aus kannst du so viele dieser Wörter sagen, wie du willst. Ich drücke mich ja auch nicht übermäßig gewählt aus."
"Du?" staunt Rafa. "Du und nicht gewählt?"
"Ja, ich gebe mir immer Mühe, wenigstens auf der Arbeit die Hochsprache zu verwenden und nicht in der Umgangssprache zu reden."
"Du? Du drückst dich doch bestimmt nie anders als gewählt aus."
Immer wieder kuschle ich mich an Rafa und umarme ihn.
"Mensch, Hetty, tu'dir doch mal etwas Gutes", fleht er.
"Das mache ich ja gerade", betone ich. "Indem ich dich umarme, tue ich mir etwas Gutes."
"Ich bin nämlich so einer", warnt Rafa mich vor sich, "der muß immer mehrere Sachen noch laufen haben, weißt du? Ich muß immer noch andere mitlaufen haben. Ich bin so einer, der das immer muß. Ich bin da nämlich so."
"Das ist mir vollständig egal, es geht mir nur um dich. Um dich selbst geht es mir."
"Hetty", fleht Rafa, "tu' dir doch endlich mal was Gutes."
"Ich tu' mir doch was Gutes", erkläre ich, an seine Jacke gelehnt, "ich tu' mir doch jetzt gerade was Gutes."
"Sei endlich mal du."
"Ich bin ja ich, genauso bin ich."
"Sei doch endlich mal nicht aufgesetzt."
"Ich bin nicht aufgesetzt. Ich bin wirklich ehrlich."
"Ich habe Angst", klagt Rafa. "Hetty, du machst mir Angst."
"Wovor hast du denn Angst?"
"Du machst mir Angst. Deine Geschichte im Internet macht mir Angst. Bitte mache mir doch nicht immer Angst."
Ich streichle langsam über seine Schulter. Da bekommt Rafa wieder diesen Blick, den ich von früher kenne, einen abgründigen, verlorenen Blick. Er scheint von innen zu kommen, ohne Zensur, ohne Filter, und ich kann durch Rafas Augen sehen wie durch Fenster. Ich sehe Verlassenheit und Traurigkeit.
Rafa zeigt solche Regungen sonst nicht, und ich vermute, daß er unbedingt vermeiden will, daß jemand menschliche Gefühle in ihm findet. Man soll nichts in ihm entdecken können außer Oberflächlichkeit, Arroganz und Verantwortungslosigkeit.
"Dein Blick, das ist ... ein Beil, schön geschliffen, das gerade auf mein Hirn einschlägt", beschreibt Rafa.
"Ich zerstöre dich nicht, Rafa. Dein Hirn ist noch heile."
"Mein Gehirn ist kaputt!" klagt Rafa. "Mein Gehirn geht kaputt!"
"Nein, dein Gehirn ist ganz heile."
"Mein Gehirn ist kaputt!"
Als ich sein Haar streichle, fragt Rafa unwillig:
"He, was willst du mit meinen Haaren?"
Dann klagt er aufs Neue:
"Du machst mir Angst. Warum machst du mir immer Angst?"
"Wo die Angst ist, ist der Weg."
"Da ist kein Weg", ist Rafa sicher. "Da gehen nur alle Türen zu."
"Das stimmt nicht", widerspreche ich.
"Genieß' doch mal dein Leben!" bittet Rafa, der ein Leben ohne Gefühle mit Genuß gleichzusetzen scheint.
"Das kann ich nur mit dir genießen", entgegne ich.
"Sei endlich mal glücklich!"
"Ich bin nur glücklich mit dir."
"Genieß doch mal dein Leben!"
"Ich genieße es so sehr, dich im Arm zu haben und dich anzuschauen."
"Aber in meinem Gesicht ist doch gar nichts."
"Darin ist so viel", erwidere ich. "Und in dir und an dir ist so viel. Außerdem geht es nicht um dein Gesicht allein. Daß ich dich liebe, das weiß ich durch ein Gefühl. Wie sich das anfühlt, habe ich durch einen Traum erfahren. Ich habe dich an diesem Gefühl erkannt. Ich habe dich nach meinem Gefühl gesucht und gefunden. 1979 hatte ich einen Traum, in dem ich erfahren habe, wie es sich anfühlt, wenn einen jemand liebt. Ich habe dann den Menschen gesucht, durch den dieses Gefühl in mir ausgelöst wird. Und dann habe ich dich gefunden. Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt."
"Irgendwann ... irgendwann kommt der Tag, da glaube ich es dir", kündigt Rafa an. "Und da werde ich mich dir sooo hingeben ..."
"Und darauf freue ich mich."
"Und dann bin ich nach drei Minuten tot."
"Nein, Rafa", versichere ich und ziehe ihn an mich, "du stirbst nicht. Daran nicht."
"Three minutes left."
"Was heißt 'three minutes left'?"
"Genieße es. Genieße die drei Minuten."
"Du stirbst dann nicht. Du stirbst nicht."
"Doch, drei Minuten, bevor ich sowieso sterben muß, da glaube ich es dir."
"Wie willst du das denn so genau feststellen, wann du genau stirbst?"
"Ich kann das feststellen."
"Ich freue mich darauf. Ich freue mich auf diese drei Minuten."
"Soll ich dir meinen A... zeigen?"
"Ich möchte alles sehen."
"Alles?"
"Ja, ich möchte dich, wenn, dann ganz ausziehen."
"Und was machen wir dann?" fragt Rafa. "Was machen wir dann?"
"Esrtmal gehen wir zu mir nach Hause."
"Ach, zu dir nach Hause?" wundert sich Rafa, der sich wohl nichts anderes vorstellen kann, als daß alle Frauen danach gieren, mit ihm ein Schäferstündchen in dem Keller seiner Mutter zu erleben, wo es nicht einmal ein Bad gibt - oder gar in seinem Kinderzimmer, das nur durch eine dünne Holztür von der Küche seiner Mutter getrennt ist.
"Ich will dich bei mir zu Hause ausziehen", bestätige ich, "und zwar ganz."
"Bei mir?"
"Nein, bei mir", berichtige ich. "Bei mir zu Hause."
"Wohnst du denn immer noch in dieser Wohnung da?"
Ich verneine das und nenne ihm meine jetzige Adresse, die er eigentlich wissen müßte, weil er mir schon die Videokassetten dorthin geschickt hat, die er sich von mir ausgeliehen hatte.
"In der Wohnung, wo ich vorher gewohnt habe", setze ich hinzu, "da wohnt jetzt meine Schwester mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Also ... wir ziehen uns gegenseitig aus, dann duschen wir ..."
"Warum duschen? Du duschst doch andauernd."
"Ja."
"Ach - du meinst - zum Einstimmen."
"Ja."
"Und was würden wir dann machen?"
"Dann legen wir uns ins Bett."
"Und dann?"
"Dann wird's romantisch."
"Ach, und dann machen wir eine Kerze an, ne?"
"Ja, machen wir, das wäre schön."
"Nicht schlecht", findet Rafa. "Nicht schlecht."
"Ja, und dann legen wir uns ins Bett ... mit rotem Seidennachthemd ..."
"Habe ich dann ein Seidennachthemd an?"
"Nein, ich habe ein Seidennachthemd an."
"Und was habe ich an?"
"Du hast gar nichts an."
"Und warum hast du ein Seidennachthemd an?"
"Damit du es mir ausziehen kannst."
"Ach, du ziehst das Seidennachthemd an, nur damit ich es dir ausziehen kann?"
"Ja."
"Aber warum ziehst du das dann erst an?"
"Damit du mich ausziehen kannst, weil, Geschenke packt man ja auch ein, um sie nachher auszuwickeln."
"Bist du ein Geschenk?" fragt Rafa.
"Ja, das bin ich", bestätige ich. "Genau das bin ich. Du hast es absolut auf den Punkt getroffen."
"Wie alt bist du denn nochmal?"
"Ich bin neununddreißig."
"Wie alt ist denn der Sockenschuß? Lebt der noch?"
"Der ist jetzt Anfang vierzig, und der lebt wohl schon noch."
"Der hat doch auch auf dich gestanden."
"Ja, der hat einen Liebeswahn entwickelt. Deshalb hat der mich ja verfolgt."
"Und der hat dir auch nachts vor der Haustür aufgelauert?"
"Ja."
"Ach, wie ich das immer mache, ne?"
"Das machst du nicht, das machst du höchstens in deinen Träumen. Aber du willst mir ja nie erzählen, was du von mir träumst."
"Und du hast noch nie Sex gehabt?"
"Nein."
"Warum hast du noch nie Sex gehabt?"
"Weil wir immer noch nicht zusammen sind."
"Ach Mensch, das geht doch gar nicht", wehrt Rafa ab. "Ich will keinen, dem ich alles beibringen muß."
"Darauf kommt es doch gar nicht an."
"Ich kann es nicht leiden, wenn ich Frauen alles beibringen muß."
"Es kommt doch nur darauf an, daß das Gefühl stimmt. Man muß nicht tausend Leute durchgevögelt haben."
"Aber so einer bin ich. Genauso einer bin ich."
"Darauf kommt es letztlich aber gar nicht an."
"Oh doch, darauf kommt es an", betont Rafa. "Geh' endlich in die Welt hinaus und hab' mit ganz vielen Leuten Sex."
"Das will ich aber gar nicht. Und das werde ich auch nicht tun."
"He, ich will nicht jemanden, dem ich alles beibringen muß."
"Darum geht es hier überhaupt nicht. Es geht um das richtige Gefühl."
"Gefühle? Du hast doch gar keine."
"Aber sicher habe ich Gefühle."
"Warum hattest du bloß noch nie Sex?"
"Weil nur du mich verführen könntest. Das schafft sonst keiner."
"Das schaffe ich nicht", meint Rafa. "Das kann ich nicht."
"Doch, außer dir kann es niemand. Du bist der Einzige, der das kann. Ich bin mir ganz sicher, daß du es kannst."
"Ich schaffe das nicht."
"Doch, du schaffst das, da bin ich mir ganz sicher."
"Ich schaffe das nicht."
"Du schaffst das schon. Mich zu verführen ist eine Sache der Phantasie und der Kreativität."
"Na, phantasievoll bin ich ja."
"Ja, du bist sehr phantasievoll."
"Aber das schaffe ich trotzdem nicht."
"Doch, da bin ich mir ganz sicher."
"Hetty, mach' das doch mal", verlangt Rafa. "Vögel' mit lauter Kerlen 'rum. Sch... auf mich."
"Das werde ich nie, ich liebe dich."
"Das stimmt nicht."
"Doch."
"Du kennst mich doch gar nicht", meint Rafa. "Du liebst doch jemanden, den du gar nicht kennst."
"Doch, ich kenne dich."
"Du kennst mich? Du sagst, du kennst mich? Für was würde ich denn sterben?"
"Für deinen Vater."
"Nein, der ist ja schon tot. Das ist es nicht. Was ist denn mein absolutes Lieblingsgericht?"
"Das weiß ich nicht, aber darauf kommt es doch auch gar nicht an."
"Das kommt auf solche Sachen an", widerspricht Rafa. "An was glaube ich?"
"An Gott."
"Ha!" ruft er. "Gott! Ha! Ich kenn' den persönlich, alles klar!"
Er fragt weiter:
"Welches Lied soll bei meiner Beerdigung gespielt werden?"
Rafa zählt noch mehr Vordergründigkeiten und Oberflächlichkeiten auf, die allesamt nichts mit seiner Wesensart und seinem Innenleben zu tun haben.
"Siehst du, das alles weißt du nicht", wirft er mir vor.
"Darauf kommt es doch gar nicht an", halte ich dagegen. "Es kommt doch auf ganz andere Dinge an."
"Ja, aber wenn du das noch nicht mal weißt, dann kannst du mich ja auch gar nicht kennen."
"Ich kenne dich auf jeden Fall."
"Ach, übrigens - Ivco hat mir ja nun netterweise diese URL gegeben von Kapitel 1", spricht Rafa mich auf meinen Online-Roman "Im Netz" an, "und ich habe jetzt tatsächlich mal einen Absatz deiner Geschichte gelesen."
"Das ist ja schön."
"Einen Absatz habe ich geschafft, dann habe ich einen Kotzanfall gekriegt und mußte aufhören."
"Du mußt weiterlesen", rate ich. "Du mußt nur weiterlesen, dann wird es dir gefallen."
"Nein, das gefällt mir nicht."
"Wenn du es weiterliest, wird es dir gefallen."
"Meinst du denn, daß das alles so in die Öffentlichkeit gehört, was du über dich erzählst?"
"Das ist ja mein Wunsch, daß wir, du und ich, uns mal wieder so richtig privat verabreden. Aber ich habe kaum noch die Hoffnung, daß dir das gelingt."
"Stell' dir vor, dir ist etwas wichtig, und du erzählst es jemandem, und der erzählt das überall herum. Wie ist das denn für dich?"
"Ich setze dir ein Denkmal."
"Denk' mal, ein Denkmal."
Mich erstaunt, daß Rafa trotz aller Klagen kein einziges Mal mehr verlangt, daß ich meine Internetseite löschen soll.
Darienne macht viele Fotos mit ihrer kleinen Digitalkamera. Sie will auch Rafa und mich fotografieren, wie wir am Ende der Theke beieinanderstehen. Rafa sieht das und wehrt den Versuch mit einem Wink ab, und Darienne fügt sich sogleich. Rafa scheint alle Daten, die auf eine Verbindung zwischen ihm und mir hindeuten, löschen zu wollen, als wenn er sich dafür schämte.
"Du hast mal gesagt, daß ich ein gutes und ein böses Auge hätte", erinnere ich mich. "Welches Auge ist denn nun gut und welches böse?"
Rafa blickt mich an und fragt:
"Das habe ich mal gesagt?"
"Ja."
"Das ist es immer wieder, daß du immer besser über mich bescheid weißt als ich, daß du mich immer besser kennst als ich mich selber."
"Und, welches ist das gute und welches ist das böse Auge?"
"Hör' auf zu lächeln, damit ich deine Augen besser beurteilen kann."
"Wenn ich dich angucke, dann kann ich nicht anders, ich muß einfach lächeln, ich muß immer lächeln, wenn ich dich sehe. Ich kann nicht anders."
"Du kannst nicht anders? Dann guck' doch mal weg."
"Aber dann kannst du meine Augen ja nicht mehr beurteilen, weil du sie nicht mehr sehen kannst."
"Da hast du auch recht."
Im Gegensatz zu damals findet Rafa jetzt, daß ich kein böses Auge habe. "Böses Auge", das sei Unsinn.
Rafa geht zu Ivco hinter die Theke, wo sich die Anlage befindet. Gemeinsam mit Ivco sucht er die Musik aus, die gespielt wird. Über die Theke hinweg schaut Rafa mich an. Wir umklammern uns mit Blicken. Es erinnert an einen Datenaustausch, ein Gespräch ohne Worte, ein Gespräch jenseits des Gesprächs. Rafa wendet sich mir immer wieder zu, wie gebannt, und so setzt sich das wortlose Gespräch immer fort. Mal lächelt Rafa, mal versucht er, geheimnisvoll zu blicken, mal setzt er eine finstere Miene auf. In der Begegnung wird mehr transportiert, als Fotos, Filme oder Briefe zu transportieren vermögen. Kein Medium könnte die Daten tragen, die Rafa und ich in wortlosen Unterhaltungen austauschen.
Rafa lächelt, ich lächle, er zieht Grimassen, dann versucht er einen tiefgründigen Blick; immer wieder sucht er seinen Gesichtsausdruck zu verändern.
"Was guckst du mich immer so an?" fragt er.
"Es ist so schön, dich anzugucken", erkläre ich. "Ich gucke dich so gerne an."
Rafa kann seinen Blick kaum von mir lösen, selbst wenn er sich mit anderen Leuten im Gespräch befindet. Immer wieder wandern seine Augen zu mir.
Es erstaunt mich einmal mehr, wie innig Rafa und ich uns allein mit Blicken und Gesten unterhalten können, als hätten wir einen eigenen Kanal, der jenseits sonstiger Gespräche und Kontakte verläuft. Es entsteht eine dichte Atmosphäre, eine Atmosphäre der Nähe und Kommunikation. Es ist ähnlich wie bei Rechnern, die miteinander vernetzt sind.
"Du bist immer so präsent", bemerkt Rafa.
"Was heißt denn 'präsent'?"
"Du bist irgendwie immer da."
"Ja, ich bin immer für dich da."
"Hetty, mach' mir doch nicht solche Angst", bittet Rafa mit gequältem Gesichtsausdruck. "Warum habe ich solche Angst? Echt, wenn mich jemand fragt, wovor ich Angst habe, dann würde ich antworten:
'Vorm Fliegen, vorm Fliegen, vorm Fliegen, vorm Fliegen und vor Hetty.'"
"Was macht dir an mir denn Angst?"
"Daß du so präsent bist."
"Aber was macht dir daran Angst?"
Rafa gibt keine klare Antwort; er scheint es selbst nicht zu wissen.
"Such' dir endlich jemand anderen", fleht er. "Vergiß mich."
"Das haben ihr viele andere auch schon gesagt", schaltet Ivco sich dazwischen. "Das bringt eh nichts."
"Richtig, das bringt nichts", bestätige ich.
Rafa blickt in meine Augen und sagt in Gedanken:
"Böse. Böse. Also, wenn ich einen Sohnemann hätte, dann würde der dir schon so eins in die Fresse hauen."
"Sohnemann, das ist es ja gerade, das will ich ja mit dir haben, das will ich ja mit dir herstellen."
"Was?"
"Mit dir Kinder haben, das ist doch mein ganz großer Wunsch, daran denke ich ja Tag und Nacht."
"He, das schnürt mir ja die Kehle zusammen!" ruft er. "Mach' mir nicht so eine Angst! Hetty, warum machst du mir solche Angst?"
Ich schaue ihm in die Augen und frage:
"Wovor hast du denn genau Angst?"
"Das weiß ich nicht, ich hab' einfach Angst."
Rafa kommt näher an mich heran und sagt:
"Manchmal will ich einfach nur sterben. Manchmal fühle ich so einsam, da denke ich, ich will einfach nur sterben. Was ist das?"
"Das ist eine Depression."
"Ach, du meinst, ich habe Depressionen?"
"Ja. Auf jeden Fall."
"Ach so."
Er nimmt es zur Kenntnis, schluckt es in sich hinein.
"Ich habe Angst, ich habe solche Angst vor dir", klagt er wieder.
"Und ich habe Angst um dich", erkläre ich. "Das ist auch einer der Gründe, warum ich mir Sorgen um dich mache, weil ich immer Angst habe, daß du dir etwas antun könntest."
"Ich will mir doch nichts antun."
"Schatz, du bringst dich ja auch mit den Zigaretten langsam um."
"Schatz, ich genieße den Augenblick. Hetty, du mußt die Gegenwart genießen."
"Ich genieße den Augenblick. Ich genieße es, dir jetzt in die Augen zu schauen. Ich genieße es, dich anzuschauen. Du hast aber mal zu mir gesagt, daß ich nicht den Augenblick genießen soll."
"Das habe ich dir mal erzählt?"
"Ja", erinnere ich ihn. "Da hast du mich in den Armen gehalten und hast gesagt, ich soll nicht immer den Augenblick genießen. Und dann habe ich gesagt:
'Ich genieße aber den Augenblick.'"
"Siehst du, das ist es wieder", beschwert sich Rafa, "ich finde das so schrecklich, wenn jemand über mich Sachen weiß, die ich selbst nicht weiß. Du kennst mich besser, als ich mich selbst kenne."
"Das ist eben auch meine Sorge, daß du dir etwas antun könntest", komme ich wieder auf das vorherige Thema. "Denn du hast ja auch schon mal mit dem Schweizer Messer 'rumgespielt."
"Weißt du, wie lange das her ist? Das ist vielleicht zehn Jahre her. Wir kennen uns doch vielleicht seit fünfzehn Jahren ..."
"Seit zwölf. Und das ist zehn Jahre her."
"Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, daß ich mich auch mal evolutionär verändern könnte. Ich bin nicht mehr so wie damals. Ich bin nicht mehr der Rafa von damals."
"Du bist immer noch der Rafa von damals. Du bist immer noch genau derselbe Mensch."
"Das kannst du nicht wissen! Du kannst mich gar nicht mehr kennen!"
"Ich kenne dich."
"Nein, du weißt noch nicht mal, welches Lied bei meiner Beerdigung laufen soll. Du kannst mich überhaupt nicht kennen. Das Allerelementarste und Wichtigste weißt du nicht."
"Es kommt nicht darauf an, welches Lieblingsgericht man hat. Es kommt auf ganz andere Sachen an."
"Wer kennt mich denn besser, als ich mich kenne?"
"Der Mensch, der dich liebt."
"Da gehören zwei dazu, zwei. Die Liebe entwickelt sich zwischen zwei Menschen."
"Das ist ja auch der Grund, warum ich mir so sicher bin, daß ich dir nicht vollkommen egal bin."
"Mir ist niemand egal", säuselt Rafa in einem salbungsvoll-arroganten Tonfall. "Natürlich ist es schön für mein Ego, wenn da jemand ist, der so präsent ist und der mich irgendwie ein bißchen mag, und ich glaube, du magst mich schon ein bißchen."
"Ich liebe dich."
"Du weißt gar nicht, wer ich bin."
"Ich weiß, wer du bist."
"Es gibt nichts, was uns verbindet."
"Kinder", entgegne ich. "Ich will mit dir Kinder."
"Ich will gar keine Kinder."
"Doch, du willst Kinder. Das weiß ich genau."
"Woher weißt du denn, daß ich Kinder will?"
"Ich weiß das."
"Das weißt du. Du weißt 'mal wieder mehr über mich, als ich über mich weiß. Wie geht denn das, wenn ich sage, ich weiß etwas, und du sagst, nein, ich weiß etwas anderes, und du denkst nur, daß du etwas weißt, und in Wirklichkeit weiß ich das."
Rafa und ich schauen uns wieder und wieder tief in die Augen. Rafa mahnt:
"Das ist echt die falsche Baustelle, echt."
"Nein, das ist genau die richtige Baustelle."
"Bist du ein Loser?"
"Nein."
"Da gehören doch zwei zu. Da gehören zwei zu."
"Wenn du mich nicht willst, kann ich daran nichts ändern. Aber daß ich dich liebe, da bin ich mir sicher."
"Du liebst mich nicht."
"Doch, ich liebe dich."
"Hetty, da gehören zwei zu, zwei."
Er hält zwei Finger in die Höhe.
"Ich weiß, daß ich dich liebe", entgegne ich. "Und wenn du dich für mich nicht entscheidest, dann ist das deine Sache."
"Es geht nicht um Entscheidungen. Es geht um Gefühle, die ich nicht habe."
"Ich habe sie aber."
"Das kann ich dir nicht glauben."
"Doch, ich liebe dich."
"Du kannst gar nicht wissen, was Liebe ist", behauptet Rafa. "Du hattest noch nie Sex, und mit Sex fängt die Liebe erst an."
"Das stimmt nicht. Die fängt ganz woanders an."
"Du kannst nicht wissen, was Liebe ist, weil du nicht weißt, was Sex ist."
"Das kann ich trotzdem wissen."
"Aber du hast doch noch nie Sex gehabt. Du kannst doch noch gar nichts über Liebe wissen."
"Ich weiß ziemlich viel darüber, auch ohne daß ich mit tausend Leuten im Bett war."
Im Grunde kann man durch wahllose Promiskuität, wie Rafa sie betreibt, eher Liebe verhindern, als sie zu erfahren. Das dauernde Betrügen der Freundinnen und der schnelle Wechsel von einer belangslosen Affäre zur nächsten macht tiefere Beziehungen gar nicht erst möglich. Angesichts von Rafas Lebensweise kann man eher davon ausgehen, daß es Rafas Ziel ist, um das Lieben herumzukommen. Rafas Lebensführung hat in meinen Augen weit mehr mit Sucht als mit Genuß zu tun.
"Sex ist das Wichtigste", behauptet Rafa.
"Sex ist nicht das Wichtigste", halte ich dagegen.
Immerhin hat Rafa selbst schon gesagt, es gebe etwas Wichtigeres als Sex - das ist zwar einige Jahre her, doch zu jener Zeit war Rafas Lebensstil nicht wesentlich anders als heutzutage.
"Echt, ich mag dich echt voll gern, aber das ist echt die falsche Baustelle", sagt Rafa.
Er will mich überreden, etwas zu trinken:
"Echt, ich will mich mit dir besaufen. Ich kann nur frei sprechen, wenn ich besoffen bin."
"Dann kannst du dir ja die Kante geben, und ich schaue dir dabei zu."
"Du denkst so weit", beschwert sich Rafa. "Das ist nicht gut, so weit zu denken. Wir leben jetzt, in der Gegenwart."
"Wenn einem etwas wichtig ist, dann denkt man weit", erwidere ich. "Dann denkt man an die Zukunft."
Bei Ivco bestelle ich einen zweiten alkoholfreien Caipirinha.
Rafa gibt sich laut und lärmend, leutselig und bierselig. Mit saalfüllender Stimme reißt er die Aufmerksamkeit an sich. Er ernennt die Sucht zur Wissenschaft und will erklären, wie man Kringel raucht.
Darienne raucht ebenfalls sehr viel. Sie hat verschiedene Utensilien in Rosa und Schwarz auf der Theke liegen, darunter ein rosafarbenes Feuerzeug. Sie scheint darauf zu achten, daß sie selbst und ihr Umfeld in Rosa und Schwarz gehalten sind, was auch für ihre Lunge gelten mag.
Heute spreche ich Herrn Lehmann auf den seltsamen Flyer an, den Rafa im Februar gemeinsam mit Darienne und ihm in der Innenstadt von SHG. verteilt hat:
"Herr Lehmann, ich habe gehört, daß ihr kürzlich so ein lustiges Flugblatt auf dem Marktplatz verteilt habt. Was hatte denn das für eine besondere Bedeutung?"
"Das war absolut ernst gemeint", behauptet Herr Lehmann.
"Unglücklicherweise habe ich Ivcos Mutter eins in die Hand gedrückt", erzählt Darienne zerknirscht.
Rafa legt ein Stück von Die Ärzte auf, in dem die Zeile vorkommt:
"Ich will dich nur ein bißchen küssen."
Rafa singt über diese Zeile:
"Ich will dich nur ein bißchen f..."
Wahrscheinlich hat er dadurch auf den Punkt gebracht, was Die Ärzte mit der Textzeile wirklich sagen wollten.
Rafa knutscht mit Ivco herum, tut zumindest so. Er verlangt, daß Ivco vor ihm auf die Knie fällt und derlei Spielchen. Schließlich wendet Rafa sich wieder an mich mit der Frage:
"Und du willst mich wirklich, obwohl ich ... bisexuell bin?"
"Du bist nicht bisexuell", entgegne ich. "Du bist heterosexuell."
"Ich finde es schrecklich, wenn jemand Sachen über mich weiß, die ich selbst über mich noch nicht einmal weiß."
"Ivco, wie lange kennen wir uns?" fragt Rafa.
"Seit zwanzig Jahren", sage ich.
"Ivco, seit zwanzig Jahren kennen wir uns?" fragt Rafa. "Und du warst nie mit auf unserem Ausflug?"
Rafa erzählt, wie er mit zwei Kumpanen Ausflüge gemacht hat, mit Mopeds seien sie in den Wald gefahren und hätten gezeltet.
In seinen Schilderungen unterbricht Rafa sich und schaut mir in die Augen.
"Mensch, was ist los?" fragt er mich. "Warum mußt du mich immer angucken?"
"Weil es schön ist, dich anzugucken."
"Das ist mir echt ... zu androgyn."
"Androgyn? Du bist ein Mann, und ich bin eine Frau, das paßt doch?"
"Das war auch nicht das Wort, ich meinte ein anderes Wort. Ich meine, du bist doch asexuell."
"Ich bin nicht asexuell, auf keinen Fall."
"Du bist doch eine Frau."
"Ja."
"Warum hattest du dann noch nie Sex?"
"Weil wir immer noch nicht zusammen sind."
"Hetty, warum machst du mir immer solche Angst?" klagt Rafa. "Mach' mir doch nicht immer Angst."
Über der Theke hängt ein Prügel. Rafa nimmt den Prügel weg und meint:
"Das sieht blöd aus, du mit dem Prügel daneben. Das kommt irgendwie nicht so gut."
Über der Theke hängt auch eine Disco-Kugel. Rafa strahlt die Kugel mit einer Taschenlampe an und sagt:
"Das heißt doch 'Mirror Ball'. Wie heißt das denn auf Deutsch?"
"Das heißt 'Disco-Kugel'", erkläre ich.
"Du hast so viel auf dem Kopf, daß man deine Haare gar nicht mehr erreichen kann", spielt Rafa auf meine Hochsteckfrisur mit den schwarzen Organzastreifen und den langen Kunsthaarzöpfchen an.
Er zupfte an meiner Frisur herum.
"Das da vorne ist echt", erkläre ich. "Und das da hinten ist Plastik."
"Und das da?" fragt Rafa und nimmt eines der Kordelzöpfchen zwischen zwei Finger. "Kann man da 'reinpusten?"
Er lutscht an dem Kunsthaarzopf.
"Probier's aus", gestatte ich. "Das ist auch Plastik."
"Dafür, daß es Plastik ist, ist es aber ganz schön echt."
"Ja, das sind echte Kunsthaare aus dem Kaufhaus."
"Was hast du denn für eine Frisur, wenn du das Haarteil nicht drinhast?"
"Na ja ... kurz."
"Hast du dann total kurze Haare?"
"Nein, eine Pagenkopf-Frisur."
Rafa bespricht mit Ivco, daß es nun Zeit sei, Zigarren zu rauchen. Ivco bringt eine Zigarrenkiste und öffnet sie. Es gibt ein großes Gelächter, denn in der Zigarrenkiste befinden sich nicht die erhofften Zigarren, sondern Buntstifte.
"Oh, jetzt habe ich aus Versehen die Schachtel mit den Buntstiften genommen", stöhnt Ivco.
Rafa nimmt einen der Buntstifte und steckt ihn in den Mund. Er versucht, den Stift anzuzünden. Ivco tut es Rafa nach. Die Stife lassen sich nicht ohne Weiteres in Brand setzen. Schließlich legen Rafa und Ivco die Stifte in die Schachtel zurück, und Ivco holt eine andere, in der sich wirklich Zigarren befinden. Sie nehmen Zigarren heraus, auch Herr Lehmann, und stecken sie an.
"Mit Zigarren kann man noch viel besser Kringel rauchen", weiß Rafa und führt das ausgiebig vor.
Er lutscht an seiner Zigarre, hält sie mir hin und fragt:
"Willst du nicht auch rauchen?"
"Nein, das will ich nicht."
"Mensch, da habe ich dran geleckt, willst du das nicht in den Mund nehmen?"
"Nein, ich küsse dich lieber richtig."
"Also, wenn ich du wäre, würde ich das Ding voll ablecken", sagt Darienne hämisch.
"Ih", sage ich, ohne Darienne anzugucken, und schüttle mich. "Igitt."
"In irgendso'ner Discothek im Ruhrpott", gibt Rafa zum Besten, "da ging so'n Rolli-Fahrer auf der Tanzfläche voll ab. Und da ist der mir so voll gegen die Beine gefahren. Der hat mich umgefahren."
Rafa umzufahren dürfte nicht schwer sein, angesichts des Pegels, den er in langen Nächten erreicht.
Ivco schenkt Tequila aus. Ich lasse mir auch einen geben, aber keinen ganzen, nur Boden bedeckt.
Zitronenscheiben und Salz werden verteilt.
"Ich habe noch keine Zitrone, ich habe noch kein Salz", melde ich mich, als schon alle anstoßen.
"Sch... auf Zitrone und Salz", sagt Rafa, der ebenfalls weder Zitrone noch Salz bekommen hat, "'runter damit."
"Na ja, schmeckt ja auch", meine ich, als Rafa und ich die Tequilas getrunken haben.
Ivco macht Sambuca zurecht, mit Kaffeebohnen darin.
"Ich will extra viele Kaffeebohnen drin haben", bestelle ich, "und das anzünden."
Herr Lehmann schafft es nicht, den Sambuca in Brand zu setzen. Ich nehme ein Feuerzeug, das auf der Theke liegt, und zünde den Sambuca an.
Als es auf Mitternacht zugeht, kommt das Gespräch auf das "Mute" und ob man da heute noch hinfahren will.
"Eigentlich schon", sagt Ivco.
"Im 'Mute' ist mir zuviel Trubel", meint Rafa. "Das vertrage ich jetzt nicht mehr."
Letztlich bleibt die ganze Gesellschaft bei Ivco.
"Ich habe eine Idee, das will ich mit Herrn Lehmann jetzt machen", kündigt Rafa an.
"Das müssen wir jetzt machen", sagt ein Gast namens Ferris. "Wir müssen Ivco damit überraschen. Das ist so toll, das hat er noch nie erlebt."
Die Gesellschaft geht vor die Haustür in die eisige Kälte. Rafa nimmt einen Hocker mit, Darienne ihre Digitalkamera. Rafa stellt den Hocker auf den Waschbetonweg und sagt mit lauter Kommandostimme an, was nun zu singen wäre: erstmal "Hoch soll er leben, dreimal hoch!", dann soll dreimal "Hoch!" gerufen werden, und jedesmal soll der auf dem Hocker sitzende Ivco von den Umstehenden in die Höhe gehoben werden. Danach soll gesungen werden:
"Du sollst noch viele Jahre bei uns sein."
"Du, willst du auch mit anfassen?" fragt Rafa mich.
"Ja."
"Dann mußt du vorne anfassen", bestimmt Rafa. "Du mußt Ivco zwischen die Beine fassen."
Ich fasse den Hocker vorne an, allerdings vermeide ich die von Rafa erwarteten Intimitäten. Ansonsten wird alles so ausgeführt, wie Rafa das vorschreibt. Darienne steht oben auf der Treppe vor der Haustür und fotografiert.
Als wir wieder nach drinnen gehen, sagt Ivco zu Rafa:
"Das war echt ein irres Gefühl."
"Nicht?" feixt Rafa. "Kein Wunder, mit Hetty zwischen den Beinen."
Als wir wieder unten im Partykeller sind, versucht Rafa, mich für Herrn Lehmann zu begeistern, und Herr Lehmann versucht gleichfalls, mich für sich zu begeistern. Als Herr Lehmann zur Toilette will, fordert Rafa ihn auf:
"Nimm' sie dir, mach' sie geil!"
Herr Lehmann, schon etwas angesäuselt, will mich zur Toilette mitschleifen. Mir gelingt es jedoch, mich zu befreien.
"Wo ist eigentlich meine Unterhose?" fragt mich Rafa. "So eine schwarze. Die müßte bei dir noch 'rumliegen."
"Nein, die hast du damals mitgenommen."
"Ach so."
Schließlich, als die Runde im Partykeller wieder vollzählig ist, verlangt Rafa, daß alle ihren bloßen Hintern zeigen sollen, auch ich:
"Du bist jetzt dran, du mußt das jetzt machen."
"Das mache ich aber nicht", entgegne ich.
"Ich will Titten und Ärsche sehen", lärmt Rafa.
Rafa zieht sich schließlich selbst die Hosen herunter und zeigt sein Hinterteil. Ich sitze vor ihm auf der Bank und lege meine Hand auf seine linke Hüfte. Rafa scheint das nicht zu stören. Ich kann meine Hand dort lassen, bis er sich die Hosen wieder hochzieht. Rafa geht mit mir wieder ans Ende der Theke in die Ecke unterm Fenster. Ich schließe meine Arme um ihn.
"Oh, Mensch, Mensch, nein", sagt Rafa gequält. "Mensch, Mensch. Mensch, jetzt ..."
Er läßt es aber doch zu.
"Ich kann es nicht leiden, wenn ich einer Frau alles beibringen muß", wiederholt Rafa.
"Darum geht es gar nicht", halte ich dagegen. "Es geht um etwas ganz anderes."
"Aber du hast doch noch nicht 'mal Fingernägel."
Er meint damit: keine langen Fingernägel.
"Ich habe Hände", gebe ich zurück.
"Ja, aber die sind eiskalt."
Rafa legt seine Wange an meine und klagt:
"Hetty, ich habe Angst vor dir."
"Und ich habe Angst um dich."
"Ich habe Angst vor dir."
"Ich habe Angst um dich."
"Echt, ich mag dich echt voll gern, aber ich bin nicht der Richtige für dich. Ich schätze Professionalität. Ich will alles - Faustf..., Brustwarzen abknabbern ..."
Mir fällt dazu ein, daß die Leute, die besonders laut herumprahlen, meistens am wenigsten zu bieten haben. Wer große Reden über abstruse Praktiken schwingt, dessen Liebesleben dürfte - unabhängig davon, ob diese Praktiken wirklich stattfinden - ungefähr den emotionalen Gehalt einer Steuererklärung haben.
"Uns verbindet doch nichts", meint Rafa.
"Kinder", entgegne ich. "Ich will mit dir Kinder."
"Ich will aber keine Kinder."
"Doch, du willst Kinder. Ich weiß das."
"Woher willst'n das wissen?"
"Das hast du selber schon gesagt."
"Und warum willst du mit mir Kinder?"
"Ich liebe dich."
"Du kannst mich gar nicht lieben, du kennst mich nicht."
"Ich liebe dich. Ich bin einfach nur ehrlich."
"Ehrlichkeit ist nichts", findet Rafa. "Ich gebe nichts auf Ehrlichkeit. Ich brauche Mystik."
"Von mir kriegst du Ehrlichkeit."
"Ich brauche neue Räume, neue Dimensionen."
"Die findest du auf meiner Internetseite. Du mußt sie nur lesen. Und zwar gibt es da ja nicht nur die wahre Geschichte zu lesen, sondern auch erfundene. Die mußt du lesen, dann hast du deine neuen Dimensionen."
"Die will ich aber nicht lesen."
Rafa sucht Feuer für seine Zigarette.
"Das da ist out of order", sagt er über das Feuerzeug, das auf der Theke liegt und mit dem ich den Sambuca angezündet hatte.
"Was könnten wir denn mal spielen?" fragt Rafa in die Runde, als er endlich Feuer hat.
"Was mit Ausziehen!" ruft jemand.
"Flasche drehen", schlägt Darienne vor.
"Das ist Quatsch", winkt Rafa ab. "Nach dem ersten Kleidungsstück hört Hetty sowieso auf."
Rafa läuft wieder zu Ivco hinter die Theke und zeigt Finger-Figuren. Er hält die Hand so, daß jeweils die beiden vorderen und hinteren Finger sich berühren.
"Kannst du das?" fragt er mich über die Theke hinweg.
"Das kann ich nicht", stelle ich fest.
"So, aber jetzt nochmal das - wenn du das nicht kannst, dann kann es für uns auch keine gemeinsame Zukunft geben."
Rafa streckt die beiden mittleren Finger, während er alle anderen beugt.
"Das kann ich auch nicht."
"Nein, aber das, wenigstens das."
Rafa zeigt noch einmal die vorherige Übung.
"Das kann ich auch nicht."
Rafa, Herr Lehmann und Ivco stoßen mit Whiskygläsern an. Ich gieße mir Cola ein. Als Rafa sein leeres Whiskyglas abstellt, gieße ich dort auch Cola hinein.
"Was ist denn das?" fragt Rafa.
"Das ist Cola."
"Und du bist ein Geschenk?"
"Ja, genau das bin ich."
Rafa nimmt einen Eiswürfel und läßt ihn vorne in meine Corsage fallen. Der Eiswürfel fällt unten wieder heraus.
"Bei dir fällt ja alles durch", bemerkt Rafa. "Los, einer muß noch."
Er nimmt einen weiteren Eiswürfel und schiebt ihn mir sorgsam in die Corsage, wo er steckenbleibt. Ich nehme den Eiswürfel heraus und lege ihn in Rafas Glas. Rafa probiert die Cola mit dem Eiswürfel und sagt:
"Bäh."
Er trinkt Cola aus der Flasche.
"Warum rülpst du nicht?" will Rafa mir schlechtes Benehmen beibringen.
"Weil mir das keinen Spaß macht."
"Mensch, rülps' doch mal so richtig frei 'raus."
"Das macht mir aber keinen Spaß."
Das könnte ein Test sein. Wenn jemand genau das macht, was Rafa vorgibt, nur weil Rafa es vorgibt, ist das ein Hinweis auf Manipulierbarkeit. Lara hat sich von Rafa bereitwillig manipulieren lassen, sie hat "My bonnie is over the ocean" gesungen, nur weil Rafa das wollte. Ich hingegen ziehe die Bremse, wenn ich mich manipuliert fühle. Rafa bevorzugt manipulierbare Frauen. Das ändert an meiner Haltung erst recht nichts.
Rafa, Ivco und Herr Lehmann wetteifern im Zungenbrecher-Sprechen. Rafa nimmt eine Art Dirigenten-Rolle ein. Am häufigsten üben die Herren den Zungenbrecher mit dem Blaukraut:
"Blaukraut bleibt Blaukraut, und Brautkleid bleibt Brautkleid."
Schließlich sind sie bei "Fischers Fritze ..." angekommen. Ich erzähle von dem Zungenbrecher, den Constri und Giulietta sich ausgedacht haben:
"Fischers Nietzsche frittiert niedliche Flitzefische."
"Nicht schlecht", findet Rafa.
Auf CD läuft ein Stück, das Rafa besonders gefällt.
"Ist das ein Geschenk Gottes?" sagte Rafa schwärmerisch zu Ivco.
Dann kommt Rafa hinter der Theke hervor und stellt sich zu mir, und ich sage zu ihm:
"Du bist ein Geschenk Gottes."
In der Runde wird besprochen, wie der weitere Verlauf der Nacht gestaltet werden soll und wo man an den nächsten Wochenenden hingeht. Am Ostersonntag soll ein W.E-Konzert im "Reentry" in BS. stattfinden.
"Rafa, ich bin Ostern auch da", erzähle ich, "in BS. im 'Reentry'."
"Ja?" fragt Rafa erfreut. "In der ersten Reihe?"
"Ja, in der ersten Reihe."
"Und du himmelst mich dann an?" fragt er erwartungsvoll.
"Rafa, ich himmele dich nicht an", antworte ich. "Ich liebe dich. Das ist etwas völlig anderes."
"Ach, ist das nicht das Gleiche?"
"Nein, das ist etwas völlig anderes. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun."
Darienne scheint immer mehr in sich zusammenzusinken, beteiligt sich fast nicht mehr an den Gesprächen, sitzt schließlich beinahe so bewegungslos da wie ein Möbelstück.
Zwischendurch tritt Rafa immer häufiger an Darienne heran und wispert ihr Schmeicheleien zu. Er will wohl sichergehen, daß sie ihm gewogen bleibt. Er legt den Arm um sie, gibt ihr Küßchen, umschlingt sie und kippt dabei mit ihr und dem Barhocker, auf dem sie sitzt, etwas zurück, eine theatralische Inszenierung, die geeignet ist, Teenager zu beeindrucken.
Vor allem wenn Rafa und ich uns nahekommen, scheint er das ausgleichen zu wollen, indem er anschließend zu Darienne geht und sie umgarnt und umsäuselt. Es ist, als wollte er alle Gefühle, die zwischen ihm und mir hochkochen, durch den Kontakt zu der passiven, ergebenen Darienne wieder einfrieren. Darienne hört sich schweigend, ausdrucks- und bewegungslos Rafas routinierte Schmeicheleien an.
"Gegenhandeln" heißt es in der Neurosenlehre, wenn jemand, der für sein Handeln Scham empfindet, dieses durch eine gegenläufige Handlung ungeschehen machen will. Rafa scheint sich nicht verzeihen zu können, wenn er für jemanden Gefühle entwickelt und diese auch noch zeigt. Er scheint sich jede ernsthafte Gefühlsregung strikt zu verbieten. So kann es kommen, daß er sich jeder Gefühlsäußerung schämt und versucht, das Getane wieder auszulöschen.
Rafas Aktionen mit Darienne dauern nur wenige Minuten; das scheint vorerst auszureichen, um sein Weltbild wieder geradezurücken. Allerdings werden diese Aktionen im Laufe der Nacht häufiger.
Rafa verabredet sich mit Herrn Lehmann zum Musikmachen. Er scheint ein Ersatzprojekt für Das P. aufstellen zu wollen. Mit Darius scheint es für Rafa keine Zusammenarbeit mehr geben zu können.
Kurz vor ein Uhr verläßt Herr Lehmann die Party. Er hat sich während des Abends überwiegend um Darienne gekümmert. Nachdem er fort ist, sitzt Darienne meistens allein. Zu der restlichen Partygesellschaft nimmt sie kaum Kontakt auf.
Darienne läßt sich von Ivco Cocktails mischen, die sie als "Orange Juice und Blue Curaçao" bezeichnet.
"Bei uns heißt das 'Apfelsinensaft', nicht 'Orange Juice'", korrigiert Ivco.
Rafa läuft hinter die Theke, kommt wieder hervor, immer hin und her. Als er hinter der Theke eine CD wechselt, schauen Rafa und ich uns an, und er beschwert sich:
"Echt, du hast mich schon wieder so mit deinem Mantel zugedeckt ..."
Rafa wird und wird seine Gefühle einfach nicht los, das ist es wohl, was ihn stört. Vielleicht ist er wütend auf sich selber, weil seine Techniken der Gefühlsvermeidung und Gefühlsbeseitigung nicht immer zuverlässig funktionieren. Vielleicht ist er auch wütend auf sich selber, weil er Gefühle manchmal ganz schön und erhebend findet. Vielleicht will er sich gerade dafür abstrafen. Wer weiß, vielleicht kommt morgen früh sein Zensor nach Hause, und dem sieht er furchtsam entgegen ...
Es wird geplant, wie der Rest der Nacht verlaufen soll. Eine Mehrheit ist dafür, in die Kneipe "That's life" zu gehen. Ein Uhr ist vorbei, da erscheint Minette; sie will mitkommen ins "That's life".
Von der Partygesellschaft übriggeblieben sind jetzt noch Rafa, Darienne, Ferris, Minette, Ivco und ich.
Kurz bevor wir aufbrechen, nimmt Rafa Dariennes Fotoapparat und macht mit ausgestrecktem Arm ein Gruppenfoto von sich selbst, Darienne, Ivco und mir.
Es ist gegen halb zwei, als wir uns auf den Weg zum "That's life" machen. Rafa setzt sich mit Darienne ab, geht mit ihr vor, eilig; er will augenscheinlich in keinem Auto mitfahren, sondern zu Fuß gehen. Er legt den Arm um Darienne wie ein Schuljunge, der seine neue Eroberung vorführt. Neben der Gymnasiastin Darienne wirkt der angetrunkene Mittdreißiger Rafa ziemlich lächerlich, finde ich - vor allem, weil er versucht, das Gebaren von Teenagern zu imitieren.
Die Luft ist frostklar, die Temperaturen liegen bei elf Grad unter null. Mit Ivco, Minette und Ferris im Auto fahre ich in die Altstadt von SHG., wo sich das "That's life" befindet. Als wir ausgestiegen sind, zeigt Ivco auf das Schloß von SHG.:
"Das ist ein besonderes Monument der Weserrenaissance."
Unweit des Schlosses steht ein Gebäude in einem ähnlichen Stil, nur schlichter. Es hat mehrere Stockwerke und ist umgeben von einer öffentlichen Grünfläche. Ivco erzählt, daß er gern in dieses Haus gezogen wäre, die Miete sei aber zu hoch.
"Das hat doch keinen Garten", gebe ich zu bedenken.
"Der Schloßpark ist gleich nebenan", sagt Ivco, "den kann man mitnutzen."
"Aber da hättet ihr doch gar kein abgeschlossenes Grundstück, keine wirkliche Privatsphäre."
"Ist da denn ein Balkon?" fragte Minette.
"Das auch nicht", antwortet Ivco.
"Na, dann seid ihr doch mit eurem ruhigen Wohngrundstück besser bedient als hier mitten in der Stadt", meine ich.
Das "That's life" ist ein kleines Lokal am Rand der Fußgängerzone. Rafas Maxi-Vinylsingle "Horizonterweiterungen" steht als Zierat im Regal hinter der Theke. Rafa und Darienne sind noch nicht da. Wir spielen Tischfußball. Ivco und Minette bilden ein Team, Ferris und ich das andere. Ich übernehme die Verteidiger, das kann ich besser als die Stürmer. Im Tischfußballspielen war ich noch nie besonders gut. Dennoch gewinnen Ferris und ich drei Spiele hintereinander.
Toto erscheint im "That's life". Lächelnd kommt er auf uns zu. Weil ich mir Gesichter schlecht merken kann, frage ich ihn, ob er der Bruder von Rafa ist.
"Nein", entgegnet er, "Rafa ist der Bruder von mir."
"Wie schön, daß wir uns jetzt auch mal wieder sehen. Auf Rafas Party bist du so einfach sang- und klanglos verschwunden."
"Ja, ich mußte am nächsten Tag arbeiten", erklärt Toto. "Deshalb mußte ich so früh weg."
Rafa erscheint mit Darienne.
"He, schön, daß du da bist, um mich abzulenken", sage ich zu Rafa, als er sich dem Tischfußballspiel nähert.
"Was sind zwei und zwei?" will er überprüfen, wie abgelenkt ich bin.
"Vier."
"Aha."
Minette tritt ihren Platz am Tischfußballspiel an Darienne ab.
"Jetzt ist Rafa da, jetzt kann ich mich nicht mehr richtig konzentrieren", weiß ich.
"Das ist gut", freut sich Ivco, "jetzt lenkt Rafa dich ab, und wir beide können gewinnen."
"Äähh ...", macht Darienne, an mich gewandt, "weißt du eigentlich ..."
Weil ich Dariennes Teenager-Turtelei mit Rafa peinlich und albern finde, gehe ich über Dariennes Äußerung hinweg, und sie, die merkt, daß mir nichts daran liegt, ihr zuzuhören, spricht ihren Satz nicht zuende.
Wie ich erwartet hatte, gewinnen Ivco und Darienne gegen Ferris und mich. Rafa und Toto hatten sich vorgenommen, gegen die Gewinner zu spielen, also spielen sie jetzt gegen Ivco und Darienne.
"Dawyne-Power!" ist Rafas Schlachtruf.
Rafa übernimmt die Verteidiger. Ich stehe an der Stirnseite des Tischfußballspiels und schiebe die Klötzchen weiter, die die Zahl der Tore anzeigen. Das erste Spiel gewinnen Ivco und Darienne. Es gibt einen Seitenwechsel, Rafa steht nun neben mir, im Hemd, die Jacke hat er ausgezogen.
Rafa kündigt an, er werde sich vollends ausziehen, wenn Toto und er die gesamte Partie gewinnen, mit Revanche.
"Das ist gut, dann ziehst du dich aus", freue ich mich. "Dann machst du einen Striptease."
Immer wenn ich ein Klötzchen weiterschiebe, sagt Rafa:
"Ah, Hetty hat das schon gemacht. Danke!"
Immer wieder gibt Rafa laute Bemerkungen und Kommandos von sich. Er kann nicht einfach leise vor sich hinspielen, sondern muß dauernd Lärm produzieren, sich immer wieder darstellen. Mit quer durch die Kneipe schallenden Rufen wie "Leg' den Ball 'rein, los, leg' ihn 'rein! Das ist Dawyne-Power, echt!" reißt er die Aufmerksamkeit an sich. Daß so ein Mensch anderen Menschen gewaltig auf die Nerven gehen kann, glaube ich gern.
"Echt, wann treff' ich schon 'mal meinen Bruder in der Kneipe", freut sich Rafa, "das ist vielleicht einmal im Jahr. Und dann taugt das gleich, das ist gut! Echt, das taugt, das taugt!"
Rafa und Toto gewinnen die beiden folgenden Spiele und damit die Partie. Rafa hat sich das Hemd ausgezogen, er trägt darunter ein T-Shirt. Den versprochenen Striptease führt er nicht vor, stattdessen zieht er nach und nach alles wieder an, was er ausgezogen hatte, und trinkt zu den bisherigen Bieren noch einige mehr.
"Budweiser schmeckt wie flüssiges Blei", findet Toto, "wie Beton."
Er trinkt aber, was er im Glas hat, was auch immer das ist.
"Was hat denn das Flugblatt zu bedeuten, das ihr neulich auf dem Marktplatz verteilt habt?" erkundige ich mich.
"Das Flugblatt?" wird Rafa argwöhnisch. "Woher weißt du das denn?"
"Ivco hat mir das erzählt."
"Der Ivco! Der erzählt da einfach Sachen 'rum!" entrüstet sich Rafa und tut so, als sei das Flugblatt, das er selbst unter die Leute gebracht hat, ein Staatsgeheimnis. "Ich mach' da was, und Ivco erzählt das einfach so weiter!"
Das "That's life" schließt. Die verbliebenen Gäste kommen überein, zum "Keller" zu gehen und nachzuschauen, ob er noch geöffnet hat. Rafa macht sich mit Darienne, Toto und einem Jungen namens Aden auf den Weg. Rafa legt wieder wie ein Schuljunge den Arm um Darienne.
Ich fahre mit Ivco, Minette und Ferris zu Ivcos Haus, wo Minettes Auto steht. Minette fährt mit Ferris weg, sie bringt ihn nach Hause und geht schlafen. Ich fahre mit Ivco zum "Keller". Highscore öffnet auf unser Klopfen und erzählt, daß sie drinnen gerade alles saubergemacht haben und daß Feierabend ist. Ich will Ivco nach Hause fahren, damit er bei elf Grad unter null nicht zu Fuß gehen muß. Auf dem Weg durch die Altstadt kommen uns vier Gestalten entgegen, das sind Rafa, Toto, Darienne und Aden. Ich lasse die Scheibe herunter.
"Hey, da seid ihr ja", rufe ich. "Der 'Keller' ist zu, wir waren eben da. Laßt uns doch zu Ivco fahren und da einen trinken."
"Wie isses?" fragt Rafa seine Begleiter. "Zu Ivco, noch einen trinken?"
Er erntet sogleich Zustimmung. Ivco und ich öffnen die hinteren Autotüren, und alle vier Personen begeben sich auf die Rückbank.
Bei Ivco angekommen, geht es wieder in den Partykeller. Darienne nimmt ungläubig zur Kenntnis, daß ich ihr die Haustür aufhalte und sie vorlasse.
Unten im Keller befaßt Rafa sich weiter mit Darienne. Ausgiebiges Geknutsche ist es nicht, aber eindeutiges Balzverhalten.
Toto setzt sich auf einen Barhocker in der Nähe des Fensters und sagt zu mir:
"Du sollst mich nicht so vernachlässigen."
"Ich kümmere mich noch um dich", verspreche ich.
Rafa steht mit mehreren Leuten vor der Theke und hält Hof. Ich umarme Rafa von hinten, während er Aden umarmt. Als mein Blick auf Rafas Kehrseite fällt, entdecke ich, daß Rafas Hose am Hinterteil zerrissen ist und man die Unterhose durchsieht.
"Deine Hose ist am Hintern vollkommen zerrissen", teile ich Rafa mit.
"Paß' mal auf, ey", sagt Rafa.
Er stellt sich vor mich, läßt die Hosen herunter, zeigt mir seinen blanken Hintern und sagt:
"Dina! - Äh - Hetty! Guck', da kannst du meinen A... sehen."
"Ich möchte dich ganz ausziehen. In meinem Bett."
"Ich hasse Betten."
"Ich liebe Betten."
Ich lege meine Hände auf seine Hüftknochen und sage:
"Es geht mir um deine Hüftknochen. Die fassen sich so gut an, das ist so geil."
"He, es geht nicht um meine Hüften, es geht um meinen A... Guck', das hier ist mein A..."
"Es geht mir aber um deine Hüftknochen."
"Dann kann ich dir gleich noch mehr zeigen."
Er holt sein "bestes Stück" hervor.
"Das ist auch nicht schlecht", urteile ich.
"Haha, siehst du", lacht er, "ich kann dir alles zeigen, ich kann dir meinen Schwanz zeigen ... du kannst damit sowieso nichts anfangen, hahaha!"
"Ich kann damit schon was anfangen."
"Wieso, du bist doch asexuell! Haha, ich kann dir alles zeigen, du bist sowieso asexuell!"
"Ich bin nicht asexuell", erwidere ich und schließe meine Arme um Rafa.
Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und habe die Absicht, Rafa so lange in den Armen zu halten, wie es möglich ist. Wir stehen eine gute Weile reglos und wortlos umschlungen da, bis Darienne uns stört, die neben uns auf einem Barhocker sitzt. Sie tippt mich an die Schulter, zeigt auf ihren Cocktail und fragt mich:
"Siehst du, was das ist?"
"Ja."
"Willst du das im Gesicht haben?"
"Nein."
Rafa beeilt sich, daß er seine Hosen wieder hochzieht, und entfleucht hinter die Theke. Ich lasse Darienne sitzen, wo sie ist, und kümmere mich nicht mehr um sie. Sie stellt ihren Cocktail auf der Theke ab und trinkt ihn nicht mehr aus. Rafa hält vorübergehend Abstand zu Darienne.
Am Ende der Theke, in der Nähe der Tür, steht Rafa hinter der Theke, ich daneben, und wir schauen uns weiter an. Zwischendurch albert Rafa mit Ivco herum. Sie schneiden Grimassen und singen.
"Ich falle hier doch total aus der Reihe", sagt Aden zu mir, der sich wohl zu bieder, zu alltäglich findet für diese Partygesellschaft.
"Nein, jeder von uns hier ist doch ein eigenes Individuum", entgegne ich, "ein Mensch für sich."
"Na ja, ihr seid doch alle mehr so szenemäßig drauf."
"Guck' mal, Rafas Bruder läuft doch auch ganz normal 'rum."
Dem kann Aden zustimmen.
"Wie lange kennst du Rafa denn schon?" frage ich Aden.
"So richtig erst seit einer Stunde", erzählt Aden. "Vorher kannte ich ihn nur vom Sehen. Ich habe schon gewußt, wer das ist, ich habe ihn aber für ziemlich unnahbar gehalten."
"Das ist der nicht."
"Das merke ich jetzt auch. Jedenfalls finde ich das voll irre, Rafa jetzt persönlich zu kennen."
"Idealisiere ihn nicht. Er ist voller Schwächen."
"Worum geht's denn grade?" erkundigt sich Rafa.
"Aden meinte eben, er würde sich hier außen vor fühlen", erzähle ich.
"Das kann gar nicht sein", erwidert Rafa. "Aden und ich sind innerlich verbunden, weil wir beide am 11.01. Geburtstag haben. Ich kenne sonst keinen Mann, der am 11.01. Geburtstag hat, nur ein weibliches Wesen, das damals in meinem Ballett-Kurs war. Die ist auch am 11.01. geboren."
Aden erzählt mir, daß er im Jahre 1977 geboren wurde. Damit ist er sechs Jahre jünger als Rafa.
Rafa fragt mich, ob ich Aden und Toto nach Hause fahren könnte.
"Doch, im Grunde schon", antworte ich.
"Für Steinböcke heißt das noch nicht 'ja'", entgegnet Rafa.
Mit Aden unterhält sich Rafa über die Unterschiede zwischen den Schulformen.
"Die Realschule ist in jeder Hinsicht die Mitte", meint Aden.
"Die ist aber schon auch ganz schön anspruchsvoll", hält Rafa dagegen, der in der Realschule intellektuell unterfordert war und diese Schulform vielleicht schönreden möchte, um nicht so sehr das Gefühl zu haben, auf der verkehrten Schule gewesen zu sein.
Immerhin lebe ich Rafa ein Bildungsniveau vor, das auch er hätte erreichen können, wenn er sein Leben anders gestaltet hätte. Damit läßt er sich wahrscheinlich nicht gern konfrontieren.
Rafa versucht, mich für Aden zu begeistern:
"Der ist echt ganz nett! Der kocht für dich, der repariert dir deinen Renault 6 ..."
"Ich habe keinen Renault 6."
"Oh, Pech gehabt."
"Mit Aden will ich nichts anfangen", winke ich ab. "Es geht mir um dich. Du kannst mir keine anderen Männer verkaufen."
Während ich mich mit Aden unterhalte, geht Rafa mit Darienne in den Flur in der Mitte des Kellergeschosses und redet leise mit ihr. Die Tür zum Partykeller läßt er offen. Das Licht in dem Flur macht er abwechselnd aus und an. Solche Spielchen verwundern mich bei Rafa nicht. Es kann sein, daß er immer dann, wenn das Licht ausgeschaltet ist, mit Darienne knutscht. Ihn reizen solche Heimlichtuereien, weil sie ihm ermöglichen, sich hinter Halbwahrheiten zu verstecken. Er muß sich nie festlegen, sich nie entscheiden, nie Verantwortung übernehmen.
Als Rafa wieder hereinkommt, geht er hinter die Theke zu Ivco. Dann stellt Rafa sich vor mich, noch ein Stück hinter der Theke, ich stehe neben der Theke.
"Was verdient man denn so als Sigmund Freud?" will Rafa von mir wissen. "Was bist du denn nochmal von Beruf?"
"Ärztin. Ich habe in den letzten Monaten immer so ungefähr 3500 Euro auf dem Konto gehabt."
"Mensch, da bist du ja eine richtig gute Partie."
"Ja, ich würde dann arbeiten gehen, und du müßtest auf die Kinder aufpassen."
"It's not my style."
"Es ist das Vernünftigste, wenn du zu Hause auf die Kinder aufpaßt und ich das Geld verdiene."
"Ehe und Familie, das ist doch irgendwie voll spießig."
"Ehe und Kinder, das wünsche ich mir."
"Aber ... wenn wir Kinder haben, dann muß das ja erstmal irgendwie klappen, nicht?"
"Das kriegst du schon hin."
"Ey, ich habe jetzt so ein Ding in der Hose, ey ..."
"Ja gut, dann gehen wir zu mir."
"He, das sind aber ganz andere Leute, mit denen ich zusammen bin."
"Diese Beziehungen sind absolut lächerlich."
"Da ist Gefühl drin!"
"Da ist überhaupt kein Gefühl drin."
"Da ist Gefühl drin!"
"Da ist nicht ein bißchen Gefühl drin", widerspreche ich. "Du hast ja selber gesagt, daß du deine Gefühle von dir abgekoppelt hast."
"Was willst du denn über Gefühle schon wissen? Du hast doch keine."
"Ich liebe dich."
"Echt, es kommt der Tag, da glaube ich dir", versichert Rafa. "Dann werde ich dich anrufen oder mich von dir anrufen lassen."
"Darauf freue ich mich schon."
"Wie gesagt - three minutes left. Drei Minuten, dann bin ich tot."
"Dann bist du nicht tot."
"Doch, ich werde dann nach drei Minuten tot sein."
"Das ist ja wie bei den 'Dornenvögeln', da gesteht er ihr auch erst kurz vor seinem Tod, daß er sie liebt."
"Ach, ist das nicht Richard Chamberlain?"
"Ja."
"Three minutes left. Genieße die drei Minuten."
Rafa streicht über meine Nase und meine Lippen, ich streiche über seine Wange und seine Haare.
Rafa maskiert sich mit einer Brille, die aussieht, als sei sie aus Fensterglas. Er setzt sich zu Darienne vor die Theke und turtelt mit ihr, was sie teilnahmslos über sich ergehen läßt. Unter anderem bezeichnet er sie als "meine Frau" oder als "Darienne Dawyne". Das nimmt sie andächtig zur Kenntnis.
"Ich glaub', ich mag dich", sagt Rafa mit künstlich belegter Stimme. "Magst du mich auch?"
"Ja", antwortet Darienne ergeben.
Ivco macht mir heiße Schokolade. Toto faßt mich am Arm und sagt:
"So, mitkommen! Du bist 30 Stundenkilometer zu schnell gefahren."
"Aha."
"Was sagt denn dein Freund dazu?"
"Solange er und ich nicht verheiratet sind", sage ich zu Toto, während ich an Rafas Schulter tippe, "kann ich gar keinen Freund haben."
Rafa redet über Sex.
"Ich bin betrunken", verkündet er. "Ich kann gar nicht mehr ..."
Er hat eine ziemliche Schlagseite. Immer wenn Rafa hinter der Theke hervorkommt, stolpert er über die Getränkekisten, die dort stehen.
Als Rafa wieder in meiner Nähe steht, höre ich ihn prahlen:
"Ich habe jetzt noch Schmerzen in meinem rechten Arm, weil ich mit einem Armdrücken gespielt habe, der hat Arme, das sind bei mir Unterschenkel."
Rafa geht mit Darienne in den Kellerflur und turtelt weiter mit ihr.
"Rafa provoziert wieder einmal", sage ich zu Toto. "Das tut er ja gerne. Das macht er immer auf die gleiche Art und Weise. Und er sucht sich dafür immer die gleichen Frauen aus, die ihn nicht durchschauen und die er hereinlegen kann. Und ich habe keine Lust, mich von ihm provozieren zu lassen. Ich möchte auf diese Provokationen einfach nicht eingehen. Es geht darum, daß Rafa an seinen Provokationen keinen Spaß mehr hat, weil sie nicht mehr funktionieren."
"Um meinen Bruder zu bändigen, muß man ihn züchtigen."
"Ich will Rafa aber nicht schlagen."
"Das mußt du aber."
"Ich streichle ihn. Ich umarme ihn. Ich habe Rafa ja zum Glück in der letzten Zeit etwas häufiger sehen können, weil seine Freundin so nett war, sich von ihm zu trennen."
"Ja, weil er unzuverlässig war."
"Ich weiß, und ich freue mich, daß sie sich von ihm getrennt hat. Ich bin ihr dankbar dafür. - Rafa hat erzählt, daß der Vater euch viel geschlagen hat."
"Ja", bestätigt Toto. "Und die Mutter ... meinen Bruder noch mehr, der war ja so frech, so ungezogen."
"Da hat der seinen Schaden ja auch her."
"Anders als mit Schlägen kann man ihm nicht beikommen", ist Toto sicher. "Die Mutter hat Rafa zwischen die Knie geklemmt, ihm die Hosen 'runtergezogen und ihm so richtig den Hintern versohlt."
"Ach, deshalb zeigt er jetzt jedem seinen Hintern."
"Sie hat ihm den Hintern versohlt, weil er sein Zimmer nicht aufgeräumt hat. Das war ein fürchterlicher Saustall bei ihm, ein fürchterlicher Dreck. Mir ist mal das Bein genagelt worden, ich habe da Platten 'reingekriegt nach einem Bruch. Und als das Material entfernt war, hat Rafa das bei sich im Zimmer verstreut, das lag irgendwo 'rum im Dreck. Und als der Vater das festgestellt hat, daß das Material da irgendwo bei Rafa im Zimmer 'rumlag, hat er Rafa fürchterlich verprügelt."
"Wenn ich das alles höre, wundert es mich nicht, daß Rafa so schwierig ist."
"Ich bin zwanzigmal so schwierig. Was Rafa mit Darienne abzieht, ist noch gar nichts. Ich bin das Zwanzigfache davon."
Auf meine Frage, was das Skandalöse an seinem Liebesleben ist, erzählt Toto:
"Ich habe eine Herrin. Das ist keine Freundin, sondern eine Herrin. Die ist zehn Jahre jünger als ich, aber sehr dominant. Wir sind seit fünf Jahren zusammen, wohnen aber nicht zusammen."
Ich erzähle Toto von meinem Wunsch, daß Rafa mit dem Rauchen aufhört, damit er länger lebt.
"Hat euer Vater denn auch geraucht?" erkundige ich mich.
"Ja, früher", antwortet Toto. "Aber er hat aufgehört, weil meine Mutter ihn darum gebeten hat. Stattdessen hat er getrunken, aber richtig heftig, Bier und Eisberg-Schnaps. So richtig - gib ihm. Erst ein halbes Jahr vor seinem Tod hat er mit allem aufgehört."
"Ich vermute, daß er an einem Herzinfarkt gestorben ist."
"Das war auch so."
"Dann hat er extra mit dem Rauchen und dem Trinken aufgehört, aber es war zu spät ... ein halbes Jahr später kam der Schnitter."
"Genau."
Ich frage Toto, ob es Erkrankungen in der Familie gibt wie Bluthochdruck und koronare Herzkrankheit.
"Aber natürlich!" erzählt er. "Meine Mutter hat hohen Blutdruck, und mein Vater hat auch hohen Blutdruck gehabt. Der hat das Rauchen erst aufgegeben, als er schon offene Beine gehabt hat."
"Sucht ist leider etwas, das sehr schwer zu behandeln ist", weiß ich. "Ich habe viel mit Suchtkranken beruflich gearbeitet, und da war es oft so, daß die eine sehr hohe Rückfallquote haben und daß der eigene Wille oder das Problembewußtsein fehlt."
"Wenn man aufhört, zu rauchen, wird man verrückt. Wenn man aufhört, zu saufen, wird man verrückt. Es ist doch besser, man stirbt früher und säuft weiter und raucht weiter, als daß man verrückt wird."
"Bei Rafa geht die Suchterkrankung noch weiter. Das Suchtverhalten betrifft auch das Sexualleben von Rafa. Daß er mit allen möglichen Leuten ins Bett gehen muß, das gehört auch zu seinem Suchtverhalten dazu. Das macht der, um Selbstbestätigung zu finden. Das ist genauso wie ein Suchtverhalten einzustufen und deshalb auch so schwer angehbar. Ich weiß, daß das sehr frustran ist und schwer zu behandeln."
Toto will nach Hause. Ivco fragt mich, ob ich ihn fahren könnte.
"Ja, ich fahre ihn nach Hause", nicke ich, "du müßtest mir aber erst Rafa herholen, damit ich mich von ihm verabschieden kann."
Ivco zieht Rafa am Ärmel herbei. Ich schließe Rafa in die Arme.
"Bringst du jetzt Toto nach Hause?" fragt mich Rafa.
"Ja", antworte ich, "ich komme aber gleich wieder."
Ich fahre Toto nach Hause.
"Hast du das Auto geklaut?" fragt Toto und betrachtet den grauen Daimler. "Oder ist das wirklich deins?"
"Das ist meins. Das ist ein Gebrauchtwagen."
"Wenn du so viel verdienst, warum hast du dann nichts Neueres?"
"Mir gefallen die alten besser."
Ich lenke auf die Hauptstraße und bemerke:
"Jetzt weiß ich, wie ich fahren muß. Langsam kenne ich mich aus in diesem ... 'Kaff' darf ich ja nicht sagen."
"Doch, das ist ein verf...tes Kaff."
"Planst du denn, deine Freundin zu heiraten und mit ihr Kinder zu haben?" erkundige ich mich.
"Na, meine Freundin ist es ja nicht, sie ist ja nur meine Herrin", stellt Toto richtig,
Toto erzählt von den Praktiken, die er mit seiner "Herrin" inszeniert.
"Das sind doch im Grunde Rollenspiele, was ihr macht", deute ich.
"Das funktioniert nur, weil ich diese Rollenspiele will", meint Toto. "Ich bin ihr an Lebenserfahrung und Körperkraft völlig überlegen."
"Für mich wären solche Rollenspiele nichts."
"Rafa braucht auch eine Herrin."
"Ich will aber keine Diener-Herr-Beziehung führen."
"Was anderes geht bei dem aber nicht."
"Na ja, ich strahle schon Autorität aus ..."
"Nein!" widerspricht Toto. "Für mich überhaupt nicht."
"Danke für das Kompliment. Das freut mich wirklich."
"Für mich bist du nur so eine kleine Maus, dich würde ich glatt über den Tisch legen."
"Na, ich bin schon draufgängerisch."
"Auf mich wirkst du eher ängstlich ... und irgendwie spießig. Du fährst ein Auto, das gar nicht zu dir paßt ... aber irgendwie dann wieder doch ..."
"Na ja, vielleicht bin ich schon ein bißchen spießig."
"Für mich bist du immer die kleine Maus aus H."
Wir sind angekommen. Toto und ich reichen uns die Hand.
"Es ist schön, daß wir uns schon wieder gesehen haben", sage ich. "Bis hoffentlich bald mal wieder."
Als ich zurückkomme in Ivcos Partykeller, empfängt Rafa mich mit der Frage:
"Und, wart ihr wieder in seiner Wohnung? Hat er dir seine neue Anlage gezeigt?"
"Nein, das waren wir diesmal nicht, wir waren ja schon während deiner Party da. Da hat er mir auch seine Anlage gezeigt, der hat ja ganz viele."
"Nein, er hat nur eine neue, die hat er erst neu dazugekriegt."
"Letztes Mal, als wir bei ihm waren, hat er mir seine Death-Metal-Platten vorgespielt."
Rafa will aufbrechen und bittet mich, Aden nach Hause zu fahren. Darienne sitzt an der Theke, uns abgewandt. In der Nähe der Tür stehen Rafa und ich uns wortlos gegenüber und schauen uns die Augen. Rafa reicht mir die Hand, ich nehme sie und umschließe sie mit meinen Händen. Dann umarme ich ihn, und er deutet eine Umarmung an, indem er mir auf den Rücken klopft. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und verharre so für eine Weile.
Als ich den Kopf hebe und Rafa wieder anschaue, bittet er nochmals:
"Versprich mir, daß du Aden nach Hause bringst. Paß unbedingt auf ihn auf."
"Auf dich muß man aufpassen, auf dich."
Ich streichle über seinen Rücken.
Rafa geht hinaus, erscheint aber gleich wieder. Darienne sitzt immer noch an der Theke, uns abgewandt.
"Paß auf Aden auf", sagt Rafa noch einmal zu mir. "Wenn du Aden nach Hause fährst, paß auf ihn auf."
Ich umarme Rafa.
"Der Aden, der kann auf sich selber aufpassen", sage ich zu Rafa. "Aber auf dich muß man aufpassen. Auf dich."
Ich streichle über seinen Rücken.
Als Rafa mit Darienne verschwunden ist, sage ich zu Ivco und Aden:
"Rafas Beziehungen laufen immer nach demnselben Schema ab. Er sucht sich Frauen, die ihn anhimmeln, die macht er dann glauben, er würde sie lieben. Dann betrügt er sie. Er hat bis jetzt jede Freundin betrogen, wirklich jede. Dann gibt es Streit, und dann gehen die Vorwürfe hin und her. Und dann kommt das bittere Ende. Darienne ist genau der Typ Frau, den Rafa bevorzugt. Sie durchschaut ihn nicht, sie himmelt ihn an, er kann sie hereinlegen, er kann ihr etwas vormachen, sie ist ihm unterlegen, sie ist schüchtern, und sie ist ich-bezogen."
Ich erkläre Ivco und Aden das Prinzip des "Ungeschehen-Machens", Rafas neurotisches Verhalten:
"Das ist ein unbewußter Vorgang. Rafa hat immer einen Zensor im Kopf, der ihm vorschreibt, was er tun darf und was nicht. Und wenn er etwas tut, das er sich selber verbietet, wie zum Beispiel, sich mir anzunähern, sich von mir streicheln zu lassen und Gefühle zuzulassen, tut er anschließend etwas, um das wieder ungeschehen zu machen und es wieder auszulöschen. Das hat er schon früher getan. Das war auch mit Tessa so. Rafas Beziehung mit Darienne ist wie seine Beziehung mit Tessa ein Ungeschehen-Machen seiner Gefühle für mich. Es geht ihm darum, durch seine Freundinnen ein Bollwerk gegen mich zu schaffen und gegen seine eigenen Emotionen. Dazu ist Darienne auch geeignet, weil sie ihn überhaupt nicht durchschaut und weil er mit ihr ein leichtes Spiel hat. Die Beziehung ist völlig hohl, und das ist genau das, was Rafa haben will. Er ist feige und läuft lieber vor seinen Gefühlen davon, als sich ihnen zu stellen."
Ivco und Aden fragen mich, ob ich nicht allmählich genug davon habe, mich mit einem Menschen wie Rafa herumzuärgern. Ich antworte, daß ich noch nie einen Mann getroffen habe, für den ich auch nur annähernd so empfunden habe wie für Rafa, deshalb gibt es bislang keine Alternative.
"Du bist doch ganz attraktiv", meint Aden. "Ich gehe öfter mal durch die Straßen und sehe ein Mädchen, das ich hübsch finde und für das ich mich interessiere. Geht dir das nie so mit Männern?"
"Hübsch und attraktiv finden kann ich schon welche. Aber ich habe dann nicht den Wunsch, mit denen zusammen zu sein."
Aden stößt aus Versehen gegen Dariennes volles Cocktailglas. Es fällt von der Theke und zerbricht auf dem Boden.
Als ich im Bad bin, geht Aden nach Hause.
"Bitte sage Rafa, daß ich Aden nach Hause bringen wollte, daß er aber schon vorgegangen ist, ohne sich mit mir abzusprechen", sage ich zu Ivco.
Draußen vor der Tür verabschieden wir uns.
"Nochmal schönen Dank für alles, auch für den Sirup", sagt Ivco. "Jetzt kann ich wieder schöne Drinks herstellen, auch alkoholfreie Drinks, das ist vor allem für Carole wichtig."
"Will Carole keinen Alkohol mehr trinken?"
"Sie ist doch wieder schwanger."
"Ach, dann sage ich erstmal herzlichen Glückwunsch. Da werdet ihr euch bestimmt alle sehr freuen, auch die Kleine wird sich freuen. Dann kriegt Dina ja ein Geschwisterchen. Ich wünsche mir so sehr, daß Denise endlich ein Geschwisterchen kriegt. Ich sage immer zu Constri:
'Krieg' doch endlich ein Geschwisterchen für Denise.'
Dann sagt sie immer:
'Ich kann im Moment nicht, ich arbeite doch an meinem Diplom.'
Sie macht gerade ihr Diplom in Multimedia. Und sie sagt dann immer zu mir:
'Krieg' du doch endlich ein Kind.'
Da sage ich dann:
'Das will ich ja so gerne, aber Rafa und ich sind immer noch nicht verheiratet.'"
"Also, was dich und Rafa betrifft, was ich dazu aus meiner kaufmännischen Sichtweise sagen würde, weißt du ja."
"Ich denke, es gibt Probleme, die kann man mit Hilfe des analytischen Verstandes nicht lösen. Die kann man nur mit Intuition und Kreativität lösen."
"Das könnte sein."
"Rafa ist chaotisch strukturiert, deshalb kann man auf sein Verhalten nur chaotisch antworten. Man kann nur auf eine kreative Art darauf antworten und muß die Intuition zu Hilfe nehmen.
Du kannst Rafa ja nochmal darum bitten, beide Versionen des ersten Kapitels von 'Im Netz' zu lesen. Er soll beide miteinander vergleichen. Und wenn er beide gleich schlimm findet, dann ist es egal, welches online steht. Dann kann ich das Originalkapitel wieder online stellen. Und darum geht es mir."
Constri findet, die Doppelsinnigkeit in Rafas Verhalten paßt zu seinem Verhalten als Musiker: auf der Bühne spiele er den Saubermann, im Privatleben sei er das genaue Gegenteil.
Am Samstag war ich mit Cyra und Dina-Laura bei "Stahlwerk". Darien erzählte, daß seine Krankheit ihn vor allem durch Müdigkeit einschränkt. Er zieht sich manchmal in ein Hotelzimmer zurück, wenn er Ruhe braucht. Solche Momente der Stille nutzt Darien zum Nachdenken. Er empfängt noch immer Erwerbsunfähigkeitsrente und kann die Vorstellung für sich annehmen, daß er sich seine Zeit zum Ausruhen verdient hat, zumal er jahrelang durch übermäßiges Arbeiten Raubbau an seinen Kräften betrieben hat.
Darien meinte, die Menschheit sei eine Fehlentwicklung in der Evolution und nicht auf Dauer überlebensfähig. Das hänge damit zusammen, daß die Menschen ihr Leben immer mehr von der Natur abkoppelten und nur noch mittelbar Kontakt hätten zu ihren Ursprüngen. Ich meinte, das Böse in den Menschen sei heute ebenso präsent wie in der Steinzeit, von daher habe sich trotz der Entfernung von der Natur wenig geändert. Ich erzählte, daß ich mich vor allem mit dem befasse, was mein Leben bestimmt, nämlich zwischenmenschliche Beziehungen.
Mit Diddo und ihren Freundinnen saß ich eine Weile im Foyer. Diddo erzählte, sie sei beim Lesen meines Online-Romans "Im Netz" daran hängengeblieben, habe den Roman aber noch nicht zuendelesen können, weil die Geschichte immer weiter und weiter gegangen sei.
"Das stimmt, die ist nämlich schon dreitausend Seiten lang", sagte ich. "Wenn du die ganz lesen willst, brauchst du mehrere Wochen."
Als ich Diddo erzählte, daß ich es kaum schaffe, alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf geht, und immer meiner Kreativität hinterherlaufe, meinte sie, das kenne sie, das gehe ihr ähnlich mit ihren kreativen Ideen.
Über die Fotos auf meiner Domain sagte Diddo.
"Sie sind irgendwie kalt, aber schön, sehr ästhetisch."
"Das ist interessant, daß die Fotos eine Stimmung transportieren, ohne daß ich mir das vorgenommen habe", meinte ich. "So etwas entwickelt sich unbewußt."
"Du tanzt so schön", sagte Diddos Freundin Lone.
"Na ja, ich tanze auch unheimlich gerne", sagte ich.
"Ja, das sieht man", meinte Lone.
Auch Evan aus KI. traf ich bei "Stahlwerk". Wir verabredeten, daß wir in der Juliwoche, in der ich zur Fortbildung in KI. bin, dort miteinander ausgehen. Evan erzählte, daß er im September des vergangenen Jahres eher zufällig mit einem Freund auf die "Stahlwerk"-Party geraten ist und recht angetan war von meiner Performance zu Beginn der Party, die von Constri, Rega und VJ Ethereal gefilmt wurde.
Am Sonntag habe ich Folgendes geträumt:

In einem ehemaligen Bunker befand sich eine Discothek. Um dorthin zu gelangen, mußte man durch einen U-Bahn-Tunnel gehen. Rafa wollte mir den Weg zeigen und sagte, ich sollte durch den Tunnel gehen. Während ich auf den Tunnel zuging, schaute ich mich um und sah, daß Rafa stehengeblieben war; er schien nicht mitkommen zu wollen.
"Aha, so hat er sich das gedacht", ging mir durch den Sinn. "Ich soll in die Discothek gehen, und er kann sich so lange auf- und davonmachen."
Ich wollte nicht in den Tunnel gehen.

Am Montag habe ich Folgendes geträumt:

Rafa bat mich in einer E-Mail, mir eine Internetseite anzuschauen, die er gemeinsam mit einem Bekannten gestaltet hatte. Ich schaute mir die Seite an, legte aber den Schwerpunkt nicht auf die Gestaltung, sondern auf die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, die interaktiven Elemente.
Einige Tage später begegnete mir Rafa auf einer Tanzveranstaltung in einer Konzerthalle. Es war eine ehemalige Fabrikhalle, hoch und weit. Rafa befaßte sich kaum mit mir. Als die Party endete, sagte Rafa zu mir:
"Jetzt ist Schluß, jetzt will ich weg. Geh' zu Constri."
In einem anderen Saal wurde weitergefeiert. Rafa verschwand dorthin. Ich suchte Constri, die ich aus den Augen verloren hatte. Über mehrere Treppen ging ich hinauf in dem Fabrikgebäude. Oben gab es eine Kunstausstellung. Dort sah ich Constri und Rafa ins Gespräch vertieft an einem Tischchen stehen. Mich erstaunte, daß sie sich so angeregt unterhielten und daß Rafa genau dahin gelaufen war, wo Constri auch hingelaufen war.
Rafa fragte mich, ob mir die Internetseite gefiel:
"Hetty, ist das o.k. für dich?"
Er bat mich, weitere Vorschläge zur Gestaltung zu machen.
"Alle Gähn-Effekte 'raus", wünschte er sich.
Rafa fragte gezielt nach der künstlerischen Gestaltung der Internetpräsenz und wollte meinen Rat. Das war schwierig für mich, weil ich vor allem auf die kommunikativen Anteile geachtet hatte.
Bei uns stand noch einer, der nahm uns mit in seine Wohnung. Dort ging das Gespräch weiter.

Der Traum war hier zu Ende; ich hätte gern erfahren, was noch passiert wäre.
In einer E-Mail schilderte Ivco seine Besorgnis, daß er sich auf seiner Geburtstagsfeier danebenbenommen habe, da er ein wenig zu tief ins Glas geschaut habe. Ich antwortete:

Also, wenn jemand besonders brav war auf der Party, dann warst du das. Und wenn jemand besonders peinlich war, war das Rafa. Finde ich. Und ich denke, es war Rafas Absicht, peinlich zu wirken. Bedenke, er hat mir nicht nur mindestens zweimal seinen Hintern gezeigt, sondern auch sein bestes Stück. Er hat mit Herrn Lehmann Zungenküsse ausgetauscht. Er lief mit einer Hose herum, die am Hinterteil vollständig zerrissen war, so daß die Unterhose gut zu sehen war. Also, wenn das nicht peinlich ist ...! Mich hat es jedenfalls amüsiert.

Ivco schrieb seine Meinung zu Rafas Liaison mit Darienne:

Bei Darienne glaube ich, dass Rafa sich nur austoben möchte. Hoffentlich sieht sie das auch so nüchtern, nicht dass er sie noch verletzt.
Felice (Caroles beste Freundin, Du kennst sie von meiner Feier) ist übrigens eine der wenigen, bei der es Rafa vergeblich versucht hat. Das muss so 1988 oder 1989 gewesen sein. Sie wollte bei ihm "Urlaub machen" und hat es nur eine Nacht ausgehalten. Aber ich darf nicht zuviel erzählen, sonst hält Rafa mir wieder vor, ich würde "mit dem Feind kooperieren" ...

Ich mailte:

Mal sehen, wie lange Rafa sich mit Darienne austobt und wann er sich das nächste Objekt sucht.
Inwiefern Darienne ernste Hoffnungen in Rafa setzt, kann ich schwer beurteilen, weil sie nicht sehr mitteilsam ist, und was sie bisher in meiner Gegenwart von sich gab, blieb sehr an der Oberfläche.
Sehr interessant finde ich, daß Rafa mich als "Feind" einsortiert. Ich bin das insofern, als ich ein Feind seiner sorgsam instandgehaltenen Fassade bin.
Rafa scheint dir schon öfter vorgeworfen zu haben, mit mir Komplotte zu schmieden. Du kannst ihn beruhigen und ihm versichern, daß das nicht der Fall ist.
Constri aktualisiert zur Zeit ihre Internetseite www.lichtwind.de - sie tut das deshalb endlich, weil sie am 02.04. in HB. im Rahmen einer Kunstausstellung einige ihrer Filme vorführt. Ihr neuestes Werk, der 5-minütige Film "Schlafe, schlaf mein Kindelein", ist so bewegend wie fast kein Film, den ich jemals gesehen habe.

Amelie mailte, ihr gefalle Constris Internetseite sehr. Amelie ist selbst kreativ, sie fotografiert.
In Rafas W.E-Forum gibt es Konflikte. Admin Tenebris kündigte zunächst die Neugestaltung der W.E-Internetpräsenz an, wenige Tage später jedoch postete er, er sei aus allem, was diese Internetpräsenz anbelange, ausgestiegen. Wave schien die Hintergründe zu kennen; er postete:

War mir schon klar ... Danke für all deine Mühe und das, was du bis jetzt gem8 hast.

Sollte Rafa sich nach Darius mit noch jemandem zerstritten haben?
Carl hat erzählt, daß er seine alte Leidenschaft Saverio wiedergetroffen hat. Carl und Saverio stellten fest, daß sie sich seit sechs Jahren nicht gesehen haben. Saverio bat Carl, ins "Verlies" zu komen, wenn er dort auflegte.
Ein Wiedersehen gab es für Constri und mich mit Verwandten und Bekannten unserer Familie bei der Geburtstagsfeier meines Vaters. Halvar erzählte von der Hochzeit seiner Tochter im vergangenen Jahr. Sie hat in dem winzigen Trauzimmer im Leuchtturm geheiratet, das Constri und ich im Nordseeurlaub vor drei Jahren bestaunt haben.
Eine unserer Bekannten erzählte, daß sie nach achtunddreißig Ehejahren von ihrem Mann verlassen wurde, weil der lieber mit seiner kürzlich verwitweten Jugendliebe zusammensein wollte.
Am Sonntag gab ich ein Oster-Kränzchen. Denise, Celina und Elaine waren auch dabei.
Constri erzählte, daß die zweijährige Denise am Morgen ihre Puppen geweckt hat:
"Aufchtehn, Heia alle."
Auch Constri wird manchmal von Denise geweckt. Denise versucht dann, Constris Kopf vom Kissen zu heben, und sagt angestrengt:
"Upch."
Wenn Constri aufrecht im Bett sitzt, bringt Denise ihr ihre Kleider, auch den Rock, und sagt:
"Göcke an. Kalt."
Denise weiß, daß Constri leicht friert. Als das Fenster offenstand, sagte Denise zu Constri:
"Mama riet. Jacke an."
Das hieß:
"Mama, du frierst. Zieh' die Jacke an."
Wenn Constri eher auf ist als Denise und im Bad ist, kommt Denise zu ihr ins Bad und hält meistens mehrere Spielsachen in den Armen, Puppen und Teddies. Constri ruft entzückt:
"Oh, Denise!"
Diesen Ruf nimmt Denise gern vorweg und sagt schon beim Hineinkommen ins Bad selber:
"Oh, Denise!"
Als Derek das Treppenhaus saubermachte, kam Denise mit einem winzigen Schwamm hinterher und sagte:
"Denise häbet."
Das hieß:
"Denise hilft."
Sie putzte mit dem winzigen Schwamm die Treppenstufen.
Clarice erzählte, daß Fani, den wir aus dem "Elizium" kennen, nach acht Jahren von seiner Freundin verlassen wurde. Er hat nicht nur die Trennung zu bewältigen, sondern auch finanzielle Sorgen. Die beiden hatten ein Haus, und das kann er alleine nicht halten.
Bertine erzählte, daß das Haus, das ihr Mann und sie kürzlich bezogen haben, für die Ehe eine Bewährungsprobe darstellt, weil sie sich deswegen schon oft gestritten haben. Sie liebe ihren Hakon, glaube jedoch, daß ihr ehemaliger Verlobter C.A.D. ihr auch nach vielen Jahren noch gefährlich werden könne.
Über Xentrix war zu erfahren, daß seine Frau Enya und er eine Tochter haben, die Julie genannt wurde.
Magenta klagte über die Schwierigkeit, einen Mann zu finden, der nicht von ihr verlangte, dreißig Kilo abzunehmen.
Clarice erzählte, daß ihr Mann Leander seit mehr als einem Jahr eine Geliebte hat, die Kendra heißt. Clarice meinte, sie sei froh, ihren Mann so glücklich zu sehen, deshalb habe sie nichts gegen die "Zweitfrau". Sie gestattet Kendra sogar, mit Leander im Ehebett zu nächtigen.
"Eigentlich sollte Leander doch deinetwegen glücklich sein", gab ich zu bedenken. "Du solltest doch die Erfüllung seiner Wünsche bedeuten, nicht die Geliebte."
"Wenn Hakon sowas machen würde, hätte ich den sowas von 'rausgeworfen", meinte Bertine. "Ich fasse es nicht, wie du dir sowas antun lassen kannst."
Am Samstag war ich auf Revils Geburtstagsparty. Er feierte hinein, so daß wir um Mitternacht mit ihm anstießen.
Ein Mädchen namens Mauricia war auf der Party, das früher mit Roman befreundet war. Romans chaotisches Verhalten, seine Ichbezogenheit und seine mangelnde Absprachefähigkeit störten Mauricia im Laufe der Jahre immer mehr, so daß sie den Kontakt schließlich abbrach.
"Der lebt in seinem Chaos und kommt irgendwie darin klar", meinte ich. "Er kommt aber auch nur deshalb klar, weil er berentet ist."
Ace soll Zara geheiratet haben, nachdem sie sich über zwanzig Jahre kannten und die meiste Zeit davon getrennt waren.
Talis und Janice sind mitten in den Hochzeitsvorbereitungen. Talis will zur Hochzeit unbedingt einen Anzug tragen, "den ersten und einzigen Anzug, den ich in meinem Leben je tragen werde". Freilich will er auch im Anzug auf seine geliebten Stiefel von Dr. Martens nicht verzichten. Er will sich für die Hochzeit ganz neue Dr. Martens kaufen.
Im "Lost Sounds" erzählte Damian, daß Gil, ein gemeinsamer Bekannter von Clarice und ihm, vor wenigen Tagen gestorben ist. Er war im Alter von vierundzwanzig Jahren an Myokarditis erkrankt und brauchte deshalb schon bald ein neues Herz. Er bekam ein Kunstherz. Das fiel Anfang dieses Jahres aus. Wochenlang lag Gil im Koma auf der Intensivstation. Als er vor zehn Tagen allmählich wieder zu sich kam, begann sich Hoffnung zu regen. Er starb jedoch kurz darauf an einem Schlaganfall. Die Geräte wurden wegen des eingetretenen Hirntodes abgeschaltet. Gil wurde nur neunundzwanzig Jahre alt. Damian kannte Gil eher flüchtig. Clarice war in den letzten Wochen fast täglich an Gils Krankenbett. Sie leidet sehr unter seinem Tod. Am Mittwoch wird Gil beerdigt. Damian und Clarice wollen beide hingehen.
Ich erzählte von Maldas Selbstmord vor drei Jahren. Damian hatte bisher nichts davon gewußt.
Roman erzählte mir, daß er es mit Hilfe des letzten Tropfens Benzin und des Anlassers noch in die Parklücke geschafft hatte. Er werde morgen mit einer Colaflasche Benzin holen und den Wagen betanken, so daß er ihn auf die nächste Tankstelle fahren könne.
In der Nähe des Eingangs kamen mir im Gewühl Kitty, Vico und Berenice entgegen. Letztere begrüßte mich mit einer Umarmung und fragte mich:
"Na, wie isses?"
"Wie immer", antwortete ich.
Berenice erzählte, es sei aus Termingründen schwer für sie, ins 'Lost Sounds' zu kommen, erst heute habe sie wieder die Gelegenheit dazu.
"Ich bin öfters hier", sagte ich, "es gefällt mir hier gut."
"Ich kann nur selten hier sein", erzählte Berenice. "Ich bin gerade erst gekommen, wir reden nachher noch."
Sie machte sich auf den Weg zu ihren Bekannten.
Sasch erzählte mir, daß ihm seine Arbeit in HH. gefällt, er hat dort mit feinmechanischen Anlagen zu tun. Er lebt mittlerweile seit fünf Jahren in HH. Heute legte er mit Abraxas im "Lost Sounds" auf, nach langer Zeit wieder.
Gavin erzählte mir, daß es im Sommer wieder ein Festival im "Read Only Memory" geben soll. Als ich ihn fragte, ob Rafa auch auftreten wird, fragte er:
"Rafa? Wer ist Rafa?"
"Rafa ist doch schon mehrmals dort aufgetreten."
"Ach ... Dawyne! Sag' lieber gleich 'Dawyne', dann weiß ich wenigstens, wer gemeint ist."
"Tritt er denn in diesem Sommer wieder im 'Read Only Memory' auf?"
"Nein. Als W.E war er ja erst im 'Plaste & Elaste', und mit Das P. hat sich das ja wohl erledigt ..."
"Darius und Rafa haben sich Mitte Februar zerstritten."
"Was da genau passiert ist, weiß ich immer noch nicht", erzählte Gavin. "Wie ich gehört habe, hat Darius wohl eine eigene Meinung geäußert, und Rafa ist da soo drüber ..."
Gavin trat mit dem Fuß auf, als wollte er einen Regenwurm zerquetschen.
"... wie man ihn eben kennt", setzte Gavin hinzu. "Guck' dir Dolf an, und du weißt, was für Leute auf Dauer mit Rafa zusammenarbeiten."
"Zwischen Rafa und Dolf soll es auch schon Auseinandersetzungen gegeben haben. Das war, als Rafa mal eine Zeitlang nichts mehr eingefallen ist. Dolf hat schon überlegt, bei W.E auszusteigen, aber dann ist Rafa doch wieder was eingefallen, und Dolf ist doch dabeigeblieben."
"Wenn ich bei W.E wäre, würde ich auch nicht aussteigen", meinte Gavin. "Mit Rafa auf der Bühne zu stehen, das ist doch das Größte. Die Fans haben inzwischen so eine Euphorie auf ihn ... Ich würde was drum geben, um einfach nur mit ihm auf der Bühne stehen zu können."
"Also, wenn man ein Musiker ist, der wirklich kreativ ist und seinen eigenen Stil hat, dann will man in der Zusammenarbeit irgendwo auch ein Stück weit sein eigenes Ding machen und nicht nur auf der Bühne die Marionette spielen."
"Ja, aber das muß man wohl, wenn man mit Rafa zusammenarbeitet."
"Rafa braucht Wind von vorn", meinte ich. "Wenn sich bei ihm etwas entwickeln soll, braucht er Wind von vorn. Er vermeidet es aber. Jedenfalls bin ich froh, daß ich Rafa schon kannte, bevor er das erste Mal auf einer Bühne gestanden hat. Da kann man wenigstens nicht behaupten, ich würde auf ihn stehen, weil er Musiker ist."
"Ach, das mit Rafa und dir, das ist sowieso nochmal ein ganz anderes Ding. Da will ich gar nichts drüber wissen. Ich weiß, Rafa ist ein Kumpel, er ist nett, und mehr will ich gar nicht wissen."
Daß Rafa untreu ist, hat Gavin mitbekommen.
"Ich kenne einige von seinen Liebschaften", erzählte er.
"Immerhin hat sich Rafa in letzter Zeit schon etwas weniger über meine Internetseite aufgeregt", merkte ich an.
"Ach, das war auch noch so eine Sache für sich", sagte Gavin. "Im letzten Sommer bei dem Festival im 'Read Only Memory' kam Rafa zu mir und sagte:
'Gavin, du bist doch ein Kumpel. Du mußt mir zuhören. Das ist echt ein privates Ärgernis.'
Er wollte mir von deiner Internetseite erzählen, ich habe aber gesagt:
'Laß', davon will ich gar nichts wissen.'
Seitdem ist das so, wenn Rafa mich grüßt mit 'Hallo Gavin, alter Kumpel', dann scheint er das wirklich so zu meinen. Früher war das eher so dahergesagt, als würde er auf mich heruntergucken."
"Es wäre schön, wenn man zwischen Rafa und Darius vermitteln könnte."
"Immer wenn ich Rafa auf den Streit zwischen ihm und Darius angesprochen habe, hat er abgeblockt. Ich habe ihn am Telefon gefragt, wie es mit Das P. aussieht, weil ich die im 'Zone' auftreten lassen will. Da hat er nur gesagt:
'Darüber will ich nichts mehr hören.'
Buff - und das war's. Seitdem habe ich schon zweimal auf seine Mailbox gesprochen, und er hat nicht zurückgerufen. Sonst hat er immer gleich zurückgerufen, wenn ich bei ihm auf die Mailbox gesprochen habe."
"Meinst du, da kann man noch vermitteln?"
"Ja, das kann man. Ich geb' eine Party und lade einfach beide ein, und den einen lasse ich um sieben, den anderen um elf kommen, so daß der eine schon besoffen ist und der andere nicht mehr wegkann. Dann werden sie sich schon versöhnen. Weißt du, wenn Rafa mit zusammengekniffenem Mund sagt:
'Ich will da nicht drüber sprechen, ich will da nichts drüber hören.'
- dann bedeutet das, daß es ihm leidtut. Wenn es ihm nicht leidtun würde, würde er sagen:
'Ach weißt du, das mit Darius und Das P. hat sich erledigt, es interessiert mich nicht mehr.'
Aber wenn er so abblockt, dann tut es ihm leid."
"Dann hoffe ich, daß es dir gelingt, die beiden zu versöhnen."
Gavin glaubt nicht, daß Rafa Darius durch jemand anderen ersetzen könnte.
"Mit Darius fällt die Band", meinte Gavin. "Darius ist bei Das P. die Hauptperson, nicht Rafa. Außerdem, sowas Krankes wie Darius findet Rafa nicht mehr, und vor allem jemanden, der auch noch singen kann."
"Stimmt, singen kann Darius."
Als ich loswollte nach HI. zu einer Party in der "Lagerhalle", verabschiedete ich mich auch von Berenice, die vor einer Wand auf dem Fußboden saß und sich mit einem Mädchen unterhielt.
"Willst noch woanders hin?" fragte sie und umarmte mich.
"Nach HI. in die 'Lagerhalle'", erzählte ich.
"Viel Spaß", sagte sie.
In der "Lagerhalle" erzählte mir Cielle, daß sie ihr Studium der sozialen Arbeit mit der Note "gut" abgeschlossen hat. Vor ihrer letzten Prüfung hatte sie noch mit mir telefoniert und sich nach verhaltenstherapeutischen Verfahren erkundigt, weil sie das Wissen dafür brauchte. Jetzt feierte sie ausgelassen. Sie freut sich auf ihre erste Stelle, die sie sofort nach der Prüfung zugesichert bekam.

In einem Traum war ich in einem ehemaligen Firmengebäude mit mehreren Stockwerken. In einem der oberen Stockwerke gab es Säle mit sehr hohen Decken, ehemalige Produktionshallen. Dort befand sich jetzt ein Veranstaltungszentrum. In der Mitte eines Saales war eine große Theke, dort stand die Wirtin, eine junge Frau mit aufgesteckten blonden Haaren. Sie hatte Absprachen mit ihrem Personal, und ich bekam mit, daß sie plante, mich umzubringen. Ich bat Terry, unten im Hof mit einer Leiter zu warten, damit ich durch eines der Fenster klettern und verschwinden konnte. Gegen Morgen leerte sich das Veranstaltungszentrum, und schließlich waren nur noch die Leute vom Personal da. Ich hielt die Zeit zur Flucht für gekommen und machte mir Sorgen, daß das Fenster, durch das ich fliehen wollte, verschlossen sein könnte. Das bekam ich aber nicht mehr heraus, weil ich vorher aufwachte.

Wenn eine Frau mir nach dem Leben trachtet, wird der Grund am ehesten Eifersucht sein. Die blonde Wirtin kann für eines der Mädchen stehen, die mit Rafa zusammen sein wollen oder es sind und die dennoch nicht das Gefühl haben, daß er ihnen wirklich gehört oder je gehören kann.
Evan mailte über Katastrophen-Kekse:

Ich würde so gerne in Tsunami-Trüffeln versinken, vielleicht werde ich auch von einem Transrapid-Toffee erfasst! Das wäre ein süsser "Tod"! Glaubst Du, dass das eines Tages eintreten wird? Wird es auch andere Menschen erwischen?

Ich mailte:

Tsunami-Trüffel wären dann mein nächstes kulinarisches Projekt. Ich überlege, wie man Transrapid-Toffees gestalten könnte. Zum nächsten Advent will ich auch Atomkraftwerk-Kekse (Reaktor-Crossies oder Plutonium-Plätzchen) entwerfen. Und backen.

Evan mailte:

Die Transrapid-Katastrophe wird bestimmt noch eintreten. Da ist es sicherlich klug, für diese Situation mit einem süssen Gaumenschmaus der allerersten Güte vorbereitet zu sein. Reaktor-Crossies schmecken geil, die bestelle ich immer bei einem Süsswaren-Shop in Teheran.
Phythophthora, das ist der Verursacher der Kartoffelfäule, die in ganz Europa die Ernten vernichtet hat und arge Hungersnöte auslöste (19. Jhd. in Irland z. B.), in diesem Zusammenhang ergeben sich Phythophthora-Pommes oder Phythophthora-Chips, für einen netten Fernsehabend ...

Der Kannibalen-Kräckerbäckermeister

Ich mailte:

Ja, über ein Rezept für Phytophthora-Pommes oder -Chips könnte man nachdenken; man müßte sich überlegen, wie man sie gestaltet.

Zum bevorstehenden Osterfest mailte Evan:

Selbst der Osterhase meidet mich. Der kann aber auch gerne wegbleiben, da er die versprochenen Katastrophen-Eier nicht liefern kann.

Die Reha-Klinik, wo ich seit Anfang März arbeite, ist ein Betonbau aus den siebziger Jahren, nur ansatzweise renoviert, von mir deshalb "Reha-Bunker" genannt. Immerhin bekam das Krankenhauscafé, das zugleich als Kantine dient, eine moderne Einrichtung. Beim Mittagessen werden amüsante, spannende und makabre Geschichten ausgetauscht. Ein Kollege erzählte von seinen Erlebnissen in der Pathologie. Einst begann dort ein neuer Assistent zu arbeiten, den der Pathologe nicht leiden konnte. Als morgens der Assistent mit der Arbeit beginnen wollte und am Seziertisch das Tuch von dem verhüllten Körper nahm, sprang er entsetzt zurück, weil der Pathologe sich dort selbst hingelegt hatte, um dem Assistenten einen Schreck einzujagen. Der Pathologe soll so bleich sein, daß er beinahe die Hautfarbe eines Toten hat. Umso eindrucksvoller war die Wirkung seines Schauspiels. Der Assistent soll rasch gekündigt haben.
Ein anderer Kollege erzählte von seiner Zeit im Präpariersaal. Ein Kommilitone soll im Anatomiekurs ohnmächtig geworden sein. Der Professor sagte beiläufig:
"Legen Sie ihn mal da hinten irgendwo hin, bis er wieder aufwacht."
Also wurde der Student auf einen Präpariertisch gelegt, der gerade frei war. Auf den Tischen neben ihm lagen Leichen oder Teile davon.
Einige Medizinstudenten sollen schon zu Beginn ihres Pharmakologie-Unterrichts das erworbene Wissen genutzt haben, um sich gezielt psychotrope Substanzen zu besorgen, vor allem solche, die in ihrer Wirkung dem Kokain ähneln.
Am Mittwochabend war ich mit Beatrice und Tagor beim Griechen. Beatrice erzählte von einem Erlebnishotel, in dem es Motto-Suiten gibt, darunter eine "Höllen-Suite" und eine "Himmels-Suite". In der "Höllen-Suite" würde sie gern mit ihrem Tagor übernachten, es ist ihr aber zu teuer.
Ich erzählte von dem Hotel "Roter Sand". Ein Patient hat mir erzählt, daß er als Fremdenführer schon viele Touristen auf der Schiffsreise zu diesem Hotel begleitet hat. Der Leuchtturm "Roter Sand", in dem sich das Hotel befindet, steht auf einer Sandbank sieben Meter unter dem Meeresspiegel und ragt aus dem Wasser, ganz umspült von den Wellen. Es gibt Pfähle, an denen ein Schiff festmachen kann, und von dort aus muß eine Gangway am Leuchtturm befestigt werden. Wenn die Hotelgäste über die Gangway gelaufen sind, müssen sie eine Leiter hinaufklettern, um zur Tür zu gelangen. Alles, was sie mitnehmen wollen und was sie zum Übernachten vom Hotelbetrieb mitbekommen, wird in einem Seesack über einen Flaschenzug nachgezogen, und den müssen die Gäste über viele Stufen hinaufschleppen, denn Personal gibt es dort nicht, alles müssen sie selbst machen. Sie haben Sprechfunk auf dem Leuchtturm und eine Direktverbindung zur Rettungseinsatzstelle. Je Person kostet die Übernachtung 398 Euro. Es gibt sechs Betten im Leuchtturm, die seien stets ausgebucht. Seltsame eigenbrötlerische Gestalten seien es, die in dem Leuchtturm übernachten. Wer weniger Geld ausgeben will, kann die Seereise zum Leuchtturm als Tagestour machen und sich auf dem Leuchtturm eine Stunde lang umsehen, das koste nur 99 Euro. Je Fahrt dauert die Reise vier Stunden, weil es sich um ein historisches Schiff handelt. Moderne Schiffe seien wesentlich schneller. Der Leuchtturm wird von Bremerhaven aus angefahren und steht in der Deutschen Bucht.
In meiner Tasche hatte ich Briefmarken, auf denen der Leuchtturm "Roter Sand" abgebildet ist, die zeigte ich Beatrice und Tagor.
Am Ostersamstag war ich in HH. im "Megamarkt", wo die "Stahlwerk"-Parties stattfinden; heute gab es eine EBM-Party, Electronic Body Music wie "Gun" von Frontline Assembly. Minette begegnete mir, die ein Zufall hierher geführt hatte. Sie war mit Bekannten unterwegs und wollte ins "Nachtstrom", die Bekannten jedoch entschieden sich für den "Megamarkt".
Minette kennt Darienne flüchtig.
"Die hängt seit zwei Jahren mit Rafa 'rum", erzählte sie. "Sie hat fast keine Freunde, und Rafa ist wohl ihre einzige Bezugsperson."
Sie habe mehrmals versucht, mit Darienne ein Gespräch anzufangen, das sei jedoch stets an Dariennes Arroganz gescheitert.
"Die ist so hohl", seufzte Minette. "Die paßt gut zu Rafa, den kenne ich auch nur als arrogantes A...loch."
Ich erzählte, daß ich es ebenfalls nie geschafft habe, mit Darienne ein Gespräch anzufangen.
"Durch ihre Arroganz macht Darienne sich einsam", vermutete ich. "Mit jemandem, der so unfreundlich ist, will doch kaum jemand etwas zu tun haben."
Als ich Minette erzählte, daß Darienne eine Homepage hat, fragte Minette:
"Die und eine Homepage?"
"Die hat Rafa für sie gemacht, glaube ich", sagte ich.
"Na, dann kann das sein", meinte Minette. "Darienne kommt mir viel zu doof vor, um sowas selbst zu machen."
Minette meinte, sie hätte sich an meiner Stelle nicht getraut, zu Rafas Geburtstagsfeier im Januar zu erscheinen.
"Wenn ich etwas unbedingt will, mache ich es gewöhnlich auch", sagte ich.
Ich erzählte von Rafas Angst vor mir.
"Was muß der Mann für eine Panik davor haben, seine Gefühle zu zeigen", überlegte Minette.
Sie glaubt, daß Rafa es nicht fertigbringen wird, "Im Netz" ganz zu lesen, weil er es nicht ertragen könnte, sich selbst und seinen Gefühlen gegenüberzutreten.



Am Ostersonntag war ich im "Reentry", wo Cyra mit Dero von Oomph! auflegte und Rafa auftrat. Als ich in den Vorraum des "Reentry" kam, stand dort ein Bekannter von Rafa und filmte alle Eintretenden, auch mich. Er filmte später das gesamte Konzert mit und stand dabei meistens auf der Bühne.
Eben erschien Tyra auf der noch dunklen Bühne, die für den Auftritt hergerichtet war, und Ivco stand vor der Bühne und stoppte für Tyra die Zeit für bestimmte Abläufe, die zur Performance gehörten. Tyra trug ihr Haar aufgesteckt und war ganz in schlichtes Schwarz gekleidet; sie hatte ihre Bühnengarderobe noch nicht an. Ich hatte von ihr den Eindruck, daß sie in der Lage ist, ernste, ausdrucksstarke und anspruchsvolle Rollen zu spielen. Die Performance, die Rafa den Mädchen auf der Bühne vorschreibt, hat bestenfalls Schülerniveau.
Alle Bandmitglieder mischten sich im Laufe des Abends unters Publikum, nur Rafa nicht. Er kam vor dem Konzert in Bühnen-Outfit kurz vor die Tür vom Backstage, noch im abgesperrten Bereich, den er niemals verließ. Ich stand in der Nähe, und ich glaube, er hatte mich wohl gesehen, während er sich mit einigen Leuten unterhielt; er tat aber so, als hätte er mich nicht gesehen. Er lächelte; ich sah ihn häufig lächeln.
Im Backstage sah ich Darienne. Sie blieb dort meistens, mit Ausnahme des Konzerts, wo sie weit vorne stand und fotografierte.
Ein Junge namens Jan stellte sich mir vor. Er hatte zwei Kameraden dabei, die wie er Rollenspiele mögen. Sie necken ihn, indem sie ihn "Psycho-Jan" nennen. Als "Being boiled" von Human League anfing, schlug ich Jan vor, mit auf die Tanzfläche zu gehen. Er meinte, das traue er sich nicht, er könne nicht tanzen. Ich zog ihn hinter mir her, und da traute er sich doch und schien sogar Spaß am Tanzen zu haben.
Tron kam auf mich zu und sagte mir, wer er sei, denn ich kannte ihn bisher nur aus Rafas Chatroom und aus E-Mails. Wir unterhielten uns sogleich angeregt.
Carole und Ivco erzählten, daß sie geholfen hatten, das Chaos hinter der Bühne zu ordnen, weil doch in letzter Minute noch das eine oder andere gefehlt habe.
Ich beglückwünschte Carole zu ihrer zweiten Schwangerschaft. Sie findet es wichtig, daß ihre Tochter ein Geschwisterchen hat. Freilich werde sie noch seltener ausgehen können, wenn zwei Kinder da seien.
"Irgendwann kommen sie in das Alter, da paßt eines auf das andere auf", meinte ich. "Das war auch bei mir und meiner Schwester so. Da hatte meine Mutter weniger Arbeit, als wenn nur eines dagewesen wäre."
Das Konzert begann, Rafa ging mit den anderen Bandmitgliedern auf die Bühne.
"Rafa versteckt sich immer hinter einer Fassade, wenn er auf der Bühne steht", sagte ich zu Carole.
"Da sagt er ja auch selber", erzählte Carole. "Er sagt, er kann sich immer eine Maske aufsetzen."
"Ich frage mich, ob er es auch immer schafft, die Maske wieder abzunehmen."
Carole erlebt Rafa als gespaltene Persönlichkeit, mit einem "Bühnen-Ich" und einem "Alltags-Ich".
Rechts von der Bühne stelle ich mich neben einen Kasten, auf den ich meine Sachen gelegt hatte. Von der Seite betrachtete ich Rafa, der wenige Meter entfernt sein Bühnenprogramm abspulte. Die Damen hatten neue Kleider bekommen, ebenso geschnitten wie die rosafarbenen, oben eng, unten weit und knielang, dieses Mal aber in Lila und mit Spitze besetzt. Sie erinnerten mich an die kunstseidenen Bettüberwürfe, die in den fünfziger Jahren modern waren.
Als Tyra mit Lucy das Stück "8 bit Märchenland" vortrug, lüpfte sie den Rock und zeigte die Spitzenkante ihrer halterlosen Strümpfe. Einmal schlug Tyra den Rock so weit hoch, daß ein weißer Spitzenschlüpfer sichtbar wurde, auf den vorne ein rotes Herz genäht war. Etwas später gab es einen Strip hinter weißen Leinwänden, wo Tyra und Lucy sich im Gegenlicht die Kleider auszogen. Ob sie sich wirklich alles auszogen, bezweifle ich; ich glaube, die Unterwäsche ließen sie an. Sie erschienen danach in den schwarzen Lederoutfits, die seit dem letzten Herbst zur Bühnengarderobe gehören, und führten das Stück "Walkman" vor.
Als Rafa "Arbeit adelt!" vortrug, haute er wie gewohnt mit einem Klöppel auf ein Ölfaß, der sich nach wenigen Schlägen in seine Bestandteile auflöste.
Während des Konzerts kam es mir einmal so vor, als wenn Rafa mich betrachtete, doch sicher kann ich mir nicht sein, da er auf der Bühne immer die Brille mit den blauen Gläsern trägt.
Ivco und Carole verabschiedeten sich gleich nach dem Konzert. Als sie fort waren, sah ich Darienne auch nicht mehr.
Tron fragte mich, wie es mir gehe.
"Immer wenn ich diese Konzerte sehe, bin ich ein bißchen traurig, weil ich die ganzen Hintergründe kenne", erzählte ich. "Ich war ja schon dabei, als Rafa zum ersten Mal auf der Bühne stand. Da kommen viele Erinnerungen hoch."
"Daß du traurig bist, hat man gesehen", sagte Tron. "Ich wollte dich dahinten besuchen, aber ich bin nicht durchgekommen."
"Ach, du bist nicht durchgekommen?"
"Ja, und da standen Leute bei dir in der Nähe, denen ich nicht unbedingt begegnen wollte."
Tron kannte Darienne bisher nicht. Ich erzählte ihm, daß sie vorhin im Backstage gewesen sei und jetzt wohl nicht mehr da sei.
"Ach, ist das so eine Aufgedonnerte?" fragte er.
"Ja, das kommt hin", meinte ich. "Die macht sich ziemlich aufwendig zurecht. Umso hohler ist sie im Inneren."
Wenn die Tür zum Backstage offen war, konnte ich Rafa dort drinnen sehen. Er hatte sich umgezogen und sah so aus wie sonst, mit grauer Jacke, ohne Brille. Einmal stand er an einem Tisch und schrieb etwas, und ich dachte:
"So ist er, wie ich ihn kenne, ohne Maske. Er sieht so niedlich aus, und ich kann nicht zu ihm, er mauert sich nur ein."
Auch Tyra hatte sich umgezogen. Sie trug ein enges schwarzes Oberteil mit Durchbrüchen an den Ärmeln. In ihrer gewohnten Garderobe wirkt sie auf mich natürlicher und aparter als in dem steifen Bühnen-Outfit mit Rüschenkleid und Schmetterlingsbrille.
Als Tyra mich entdeckte, umarmten wir uns zur Begrüßung.
"Ich habe voll die Schwielen", erzählte sie und zeigte mir ihre Hände. "Vom Drehen!"
Sie hatte so lange die Gestelle mit den Dreiecken aus Leuchtstoffröhren drehen müssen, daß ihre Handflächen ganz zerschunden waren.
"Ich muß jetzt abbauen", sagte sie und lief die Stufen zur Bühne hinauf.
Die meiste Arbeit beim Abbauen überließ Rafa den anderen Bandmitgliedern und einigen Helfern. Er selbst kam erst später zu ihnen auf die Bühne. Mit gesenktem Blick schraubte er vor sich hin, und wenn er aufrecht stand, dann meist abgewandt vom Zuschauerraum, der auch als Tanzfläche diente. Dort unten tanzte ich zu "Baby's got a temper" von Prodigy, ein besonders schwungvolles, tanzbares Stück.
Dero von Oomph!, der mit Cyra am DJ-Pult stand, spielte "Ich bin du", den ersten Clubhit von Oomph! und gleichzeitig das Stück, das mir von dieser Band am besten gefällt. Der Text paßt zu dem Konstrukt der "gespaltenen Persönlichkeit", wie Carole sie bei Rafa erlebt. Die Erkrankung "Schizophrenie", die auf Deutsch "Persönlichkeitsspaltung" heißt, hat damit freilich nichts zu tun. Schizophrenie ist eine Erkrankung, bei der nicht die Persönlichkeit gespalten ist, sondern bei der eine Stoffwechselstörung im Gehirn vorliegt, die zu einer Informationsverarbeitungsstörung führt, ähnlich wie bei einem Computer, der von einem Virus befallen ist. Eine solche Erkrankung besteht bei Rafa nicht und wird auch in dem Stück von Oomph! nicht beschrieben. Vielmehr geht es in "Ich bin du" um einen im Inneren zerrissenen Menschen, der eine Antwort auf die Frage sucht, wer er eigentlich ist, und der es nicht erträgt, sich selbst zu begegnen:

Seele - hör' mir zu! Wenn ich schweig' - hör' mir zu!
Wenn ich lach' - wenn ich lach' -
Wenn ich lach' - wein' auch du!
Nimm mich in die Arme - laß mich los!
Nimm mich in die Arme - laß mich los!
Halt' mich fest - laß mich los!
Halt' mich fest - laß mich los!
Frag' nicht, wer ich bin!
Frag' nicht, wer ich bin!
Frag' nicht, wer ich bin!
Ich hab' Angst vor der Wahrheit
Ich hab' Angst vor der Lüge
Vor der Wahrheit - vor der Lüge
Ich bin du!
Angst! Ich hab' Angst vor dir
Angst! Ich hab' Angst vor mir
Ich bin du
Ich hab' Angst vor dir
Ich bin du
Ich hab' Angst vor mir
Seele!
Schließe deine Augen - schau' mir ins Gesicht!
Ich bin du
Hör' mir zu!
Wenn ich schweig' - hör' mir zu!
Ich bin du
Seele - wenn ich lach'
Ich bin du - ich bin du
Hör' mir zu!
Angst! Ich hab' Angst vor dir
Angst! Ich hab' Angst vor mir
Ich bin du
Ich bin Wahrheit - ich bin Lüge
Ich bin du
Seele!
Ich weiß, wer ich bin!
Ich weiß, wer ich bin!
Ich weiß, wer ich bin!
Ich weiß - ich weiß!

Rafa ging sehr oft zwischen dem Backstage und dem Hof hin und her und trug Sachen hinaus. Wenn ich nicht tanzte, stand ich meistens neben dem Weg zwischen der Außentür und dem Eingang zum Backstage. Ich konnte Rafa ins Gesicht sehen, er jedoch schaute durch mich immer hindurch. Als ein Mädchen mit einem der Papierflieger auf ihn zuging, die während des Stücks "Starfighter F-104G" ins Publikum geflogen waren, signierte Rafa freundlich lächelnd den Papierflieger. Ich stand neben dem Mädchen, und Rafa schaute wieder durch mich hindurch.
Tron gab mir eine CD, auf der sich W.E-Stücke befinden, die er mit seinem C64 nachgespielt hat. Er arbeitet selbst an einem musikalischen Projekt.
Tron zeigte sich erfreut über meinen jetzigen Kontakt zu Berenice. Er meinte, Berenice habe aus Unerfahrenheit zu Rafa aufgeblickt und sich viel von ihm bieten lassen. Sie sei sehr jung gewesen, als sie sich auf Rafa eingelassen habe.
Gegenwärtig sei Berenice in H. und singe Stücke ein für Morgan und Seraf.
"Bisher hatte Rafa immer Freundinnen, die ihn für ihr Ego wollten und glaubten, ohne ihn weniger wert zu sein", meinte ich. "Berenice ist wahrscheinlich auch nur deshalb so lange bei ihm geblieben, weil sie glaubte, daß sie ohne ihn weniger wert ist. Die Beziehung war schon 1999 nicht mehr glücklich, eigentlich noch eher, denn Rafa hat Berenice spätestens 1998 betrogen."
"Es war eine Fernbeziehung", sagte Tron.
Seit Berenice nicht mehr in der Band sei, habe er, Tron, den Überblick verloren, wer in der Band singe und mit wem Rafa zusammen sei.
Wenn Tron sich mit mir unterhielt, und Rafa näherte sich, lief Tron jedesmal davon. Wenn Rafa sich entfernt hatte, dauerte es ein Weilchen, und Tron kam wieder an meine Seite. Vielleicht wollte Tron nicht, daß Rafa mitbekam, daß wir uns unterhielten.
Einmal winkte Rafa von der Bühne herunter, als er dort etwas abmontierte. Daraufhin ging ein Junge ein Stück weit die Stufen zur Bühne hinauf und wechselte einige Worte mit Rafa. Rafa schien über ihn hinweg nach mir zu schauen, es sich aber sogleich zu verbieten, mich gesehen zu haben. Rafa nahm nie den direkten Weg von der Bühne herunter zum Hofausgang, er trug alle Gegenstände den langen Umweg hintenherum durchs Backstage.
Als Tyra fortging, im Mantel, trug sie mehrere Gegenstände in den Armen. Eine Flasche fiel ihr im Eingang zum Backstage herunter. Ich lief zu ihr, griff nach der Flasche und umarmte Tyra zum Abschied. Rafa wird das mitbekommen haben; als er aber hinausging, tat er wieder so, als würde er mich nicht sehen.
"Die sind noch draußen im Hof", sagte der Security-Mann zu mir.
"Ich gehe da nicht 'raus", sagte ich. "Wenn Rafa mir nicht 'Guten Tag' sagen will, ist er selber schuld."
Als Rafa sich mit Handschlag von dem Security-Mann verabschiedete, der den Eingang zum Backstage bewachte, stand ich in der Nähe. Rafa hätte mich sehen müssen, er schaute aber wieder durch mich hindurch.
Wahrscheinlich wird in Rafas Leben keine Entwicklung mehr stattfinden, die ihn hinführt zu anderen Menschen, zur Übernahme von Verantwortung und zur Annahme von Gefühlen. Die Einsamkeit, über die Rafa klagt, wird ihn in seinen oberflächlichen Liaisons auch zukünftig begleiten. Helfen kann ihm niemand, solange er sich nicht helfen läßt. Mir geht es vor allem darum, eine Lösung für mich selbst zu finden, die nicht nur eine Scheinlösung darstellt, sondern hinter der ich wirklich stehe.

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