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Am Samstag nach dem Festival war ich im "Elizium". Außer Steini kam keiner mit. Rafa und Dolf erschienen auf der Tanzfläche. Rafa hatte sich die Haare hochgestellt, war aber ungeschminkt. Er kam nach dem Tanzen auf mich zu und reichte mir die Hand; mehr schien er nicht zu wollen.
"Wie geht's?" fragte ich.
"Hundertprozentig", antwortete er. "Und dir?"
"In den letzten Tagen habe ich Ivo abgesägt."
"Wie geht das?"
"Er hat sich unverschämt benommen. Er hat gegen mich intrigiert."
"Und wie hat der das gemacht?" erkundigte sich Rafa; es wirkte allerdings nicht sehr neugierig; er schien die Frage mehr aus Höflichkeit zu stellen.
"Er hat meinen Leuten erzählt, sie würden schlecht über mich reden", versuchte ich die Ereignisse der vergangenen Tage so knapp wie möglich zusammenzufassen. "Mir ist aufgefallen, daß er selber andauernd über verschiedene Leute lästert. Hat er in deiner Gegenwart auch ständig gelästert?"
"Nein. Nie."
"Eigenartig."
"Hast du schon einen Zettel?"
"Nein."
Rafa gibt mir einen Handzettel für sein Konzert am 21. Mai und ist gleich um die nächste Ecke verschwunden, als gäbe es sonst nichts, was wir uns zu sagen hätten. Als er nach einiger Zeit in meiner Nähe auftaucht, äußere ich die Vermutung:
"Besonders wichtig scheine ich dir ja nicht zu sein."
"Wieso nicht?"
"Du bist ausgesprochen gleichgültig."
"Ich bin immer gleichgültig."
"Nein, partout nicht."
Rafa steht an einer Säule und grinst mich an. Man sieht sein Gesicht kaum, weil es mit toupierten Haarsträhnen verhängt ist.
"Ich bin voll besoffen und habe kaum geschlafen", erzählt Rafa.
"Wo warst du denn gestern?" möchte ich wissen.
"'Halle'."
"Ich war in HI. auf einem Elektrofestival."
"Ar-ma-ged-don Dil-dos", sagt Rafa langsam.
"Die waren geil", schwärme ich.
"Wenn ich den Namen höre. Ich kann die nicht leiden."
"Der Sänger hat mit mir getanzt. Der hatte sein Mikro mit, und ich bin über das Kabel geflogen und voll hingeknallt, in die Glasscherben."
"Und er hat dich aufgehoben."
"Ja."
Rafas Lächeln ist immer noch das gleiche Lächeln und bildet einen Gegensatz zu seinem Verhalten. Er scheint das Lächeln mit sich herumzutragen und jedem zu präsentieren, den er für sich einnehmen möchte.
"Glaubst du eigentlich noch daran, daß wir uns nochmal privat sehen werden?" frage ich.
"Sicher."
"Wirklich?"
"Ja", sagt Rafa unschuldig. "Warum glaubst du denn nicht mehr dran?"
"Weil es bislang nicht passiert ist."
"Sag' mal, du kannst doch nicht von dem, was war, auf das schließen, was sein wird."
"Wohl nicht. Aber man hat doch so seine Erfahrungswerte."
"Auf solche Erfahrungswerte kann ich verzichten!" entgegnet Rafa aufgebracht und geht um die Säule davon.
Nach längerer Zeit sehe ich ihn hinter mir auf dem Podest sitzen, im Gespräch mit einem fremden Mädchen. Das Mädchen hat lange rotgefärbte Haare. Laut Carl war Rafa vor zwei Wochen mit einem rothaarigen Mädchen im "Elizium". Dies könnte das Mädchen sein.
Rafa sieht zu mir hoch. Weißes Licht fällt in seine Augen, und ich erkenne die graue Farbe. Rafa deutet ein Lächeln an. Ich wende meinen Blick nicht ab und sage nichts. Schließlich erhebt sich Rafa und geht zur Bar. Das Mädchen folgt ihm etwas später. Ich sehe Rafas Gesicht noch einmal von ferne, während ich tanze - und das war es. Ein Abschied erfolgt nicht. Das "Elizium" leert sich. Steini wird müde. Er bringt mich zum "Trauma" hinüber.
Der Sockenschuß darf noch ins "Trauma" gehen, muß allerdings einen erhöhten Eintritt bezahlen. Joël gestand mir übrigens, sich in Merle verliebt zu haben. Ich soll ihr das mitteilen.
Im "Elizium" hatte ich von Rafa den Eindruck, daß er sich treiben ließ. Er scheint an gar nichts festzuhalten. Nichts scheint ihn wirklich festzuhalten. Das macht sein Leben einfach und bequem. Er läßt die Dinge laufen und die Menschen kommen und gehen. Er ist harmlos und doch so gefährlich für den, der an ihm hängenbleibt. Seine Gleichgültigkeit und die Leichtigkeit, mit der er Versprechen gibt ohne die Absicht, sie je einzuhalten, verletzen andere und schaffen ihm Vorteile. Ich bin angreifbarer als Rafa, weil ich mich fester binde als er.
Ich fühle mich eins mit einem Menschen, den ich so behandeln muß, als gäbe es ihn nicht mehr. Er ist noch da, aber für mich ist er nicht mehr da. Er fühlt keine Veranlassung mehr, sich zu mir hinzuwenden. Ich bin bedeutungslos für ihn.
Constri meint, ich wäre Rafa nicht völlig gleichgültig; nur wäre er halt völlig bindungsunfähig. Das kommt am Ende auf dasselbe heraus ...
Eben habe ich entdeckt, daß in der Maiausgabe eines Stadtmagazins Rafa und ich auf den Szene-Seiten abgebildet sind. Ich wurde in der "Halle" fotografiert, er im "Elizium". Auf dem einen Bild habe ich meine in Spitze gehüllten Arme auf ein Geländer gestützt und blicke sehnsuchtsvoll zu der Ecke hinüber, in der ich Rafa vermute. Bei mir steht Talis. Auf dem anderen Bild sieht man Rafa an einem runden Tisch stehen, in Totenhemd und Überwurf, vor sich ein Glas Bier mit Cola. Sein Arm liegt auf der Tischplatte.
Ich habe endlich ein Foto von ihm - und bin endlich selbst auf einer Szene-Seite erschienen. Ich bin erleichtert, weil ich Rafa nicht bei seinem Konzert fotografieren muß. Es hätte peinlich gewirkt. Außerdem hätte sich Rafa in seiner abweisenden Haltung noch beweihräuchert fühlen können.
"Wenigstens im Stadtmagazin seid ihr vereint", sagte Constri.
Die Bilder habe ich vergrößert, gerahmt und aufgehängt. Unter dem Bild von mir steht "Α est", unter dem von Rafa steht "et Ω".
Ich habe Derek am Telefon erzählt, daß ich und auch Rafa im Stadtmagazin zu sehen sind.
"Ach, der Blödmann!" kam da. "Hör' mir auf mit dem!"
Ich mußte lachen.
"Klar ... dem bin ich doch mal auf den Fuß getreten, weil ich so breit war", erzählte Derek. "Da hat der mich angeguckt, da hab' ich nur noch zu ihm gesagt:
'Oh. Bin ich jetzt tot?'"
"Das reichte dir auch schon, nicht?"
"Klar!" meinte Derek.
"Ob der am Samstag im 'Elizium' ist?"
"Sicher. Der muß doch seine eingebildeten Haare herzeigen."
Ich mußte wieder lachen.
"Na - schön ist der doch wirklich nicht!" fand Derek. "Diese Finger sind doch schon Würste. Der hat fünf Würste an jeder Hand."
Ich lachte und lachte.
"Na, der ist doch echt häßlich", lästerte Derek weiter.
"Männer, die einfach nur schön sind, lassen mich kalt", meinte ich. "Ein Gesicht muß zu mir sprechen."
"Spricht mein Gesicht auch?" wollte Derek wissen.
"Jedes Gesicht hat eine Sprache", versicherte ich.
"Schön!"
"Aber nur ganz wenige sprechen zu mir."
Derek erzählte, der Sockenschuß hätte ihm gegenüber behauptet, ein halbes Jahr mit mir zusammengewesen zu sein. Ich mußte Derek erst einmal darüber in Kenntnis setzen, daß der Sockenschuß sich lediglich einige Wochen lang bei mir eingenistet hat, ohne im Entferntesten das zu bekommen, was er wollte.
Als ich Derek von der Vorliebe des Sockenschuß für billiges Dosenrindfleisch erzählte, rief er:
"Jaa! Am besten Marke PAL!"
Ich wette, in der größten Not tut Sockenschuß auch PAL aufs Brot.
Rikka steuerte noch etwas zu den Lästereien über Rafas Aussehen bei:
"Also, wirklich - ich hab' dem seine Beine gesehen. Als der seine weißen Strümpfe anhatte, konnte man die ja auch besonders gut sehen. Der hat wirklich ganz schön stramme Waden ... Mann, Mann ... also, irgendwie echt ziemlich ... na ... hm ... schon ein bißchen zu ..."

Vor einigen Tagen habe ich in einem Traum auf 180 beats per minute getanzt, und jemand sagte, die hohe Geschwindigkeit meiner Bewegungen wirke schon fast wieder statisch. Eigentlich könnten Menschen das gar nicht, was ich täte.

Vielleicht kann ich wirklich Sachen, die Menschen eigentlich nicht können.
Und vielleicht kann ich Sachen nicht, die Menschen eigentlich können.
Ich betrachte eine Packung Dragee-Eier, die auf meinem Schreibtisch liegt. Das Etikett zeigt ein Osternest und Weidenkätzchen vor einem lichtblauen Himmel. Dieses Bild macht mich grenzenlos traurig. Es erinnert mich an mein Gleichnis von der schön gedeckten Tafel, an die sich niemand setzt. Das Etikett ist für mich wie ein Mensch, der voll Unbefangenheit auf seine Mitmenschen zugeht, bereit, sich ihnen zuzuwenden, bereit, sich ihnen zu schenken - und der auf endlose Gleichgültigkeit stößt. Er erkennt, daß er überzählig ist. Man hat nicht auf ihn gewartet. Er wird nicht gebraucht.
Menschen wie mich darf es eigentlich gar nicht geben - daran muß ich wieder denken ...

In einem Traum waren Rafa und ich Zweige, die nebeneinander hingen, ohne sich näherzukommen.



Als wir am Samstag zum "Elizium" gingen, zog ich meinen Mantel über.
"Süß, Hetty im Wintermantel", sagte Rikka.
Ich sagte nichts. Auf dem Weg zum "Elizium" gibt es für mich schon lange nichts mehr zu sagen.
Wir kamen früh; es war halb eins.
"Na? Rafa nicht zu sehen?" fragte Rikka.
"Nicht da", sagte ich. "Und wenn er es wäre, er könnte ebensogut weg sein, es machte keinen Unterschied."
Ich bat Kappa darum, etwas abwechslungsreichere Musik zu spielen.
"Tu' ich immer", erwiderte er.
Der Ansicht war ich nicht. Kappa verbesserte sich aber im Laufe der Nacht. Er spielte das mystische "Heaven" von den Virgin Prunes und Stücke von Dive und Die Form. Dafür wurde er von mir auch gelobt.
Rafa lief an der Tanzfläche vorbei und setzte sich an den Tisch auf dem Podest. Ich tanzte zuende und ging dann ein Stück weit die Treppe hinauf, die neben dem Podest zum DJ-Pult hinaufführt. Rafa entdeckte mich und reichte mir über das Geländer hinweg die Hand. Das Mädchen mit den langen roten Haaren, das schon wieder neben ihm saß, stand auf und ging weg. Ich stieg über das Treppengeländer und setzte mich auf den freigewordenen Platz. Über die Schulter blickte ich Rafa an. Wir saßen recht eng beieinander.
"Na? Was 's' los?" fragte er.
"Rate mal", forderte ich ihn auf.
"Ich rate nicht."
"Was könnte denn los sein?"
"Du hast heute geheiratet", rät er.
"Nein."
"Du bist verlobt."
"Nein."
"Du hast dich verliebt."
"Das ist länger her", seufze ich.
"Also, jetzt habe ich dreimal geraten, jetzt mußt du's mir sagen", drängt er.
"Wenn du's nicht siehst, mußt du blind sein."
"Ich bin blind", behauptet er.
"Dann lerne sehen."
Wir blicken uns in die Augen.
Ein schwarzhaariges Mädchen beugt sich über das Geländer und erinnert Rafa an eine versprochene Audienz.
"Gleich", vertröstet er sie. "Ich kann mich nicht mit allen Leuten auf einmal unterhalten."
Er gibt jemandem eine Zigarette und hält mir dann seine Zigarettenschachtel hin.
"Ach, ja - du rauchst nicht, oder?" erinnert er sich.
"Nein."
Ich stelle fest, daß Rafa sein Gemisch aus Bier und Cola mit einem Strohhalm trinkt.
"Bist du immer noch der Ansicht, daß ich kein Mensch bin?" frage ich.
"Ja."
"Kennst du noch mehr Leute, die keine Menschen sind?"
"Ja."
"Wieviele?"
"Hm ... nachdenken ... zehn ... fünfzehn ... Etwa zehn bis fünfzehn."
"Wer ist das alles?"
"Das sage ich nicht."
"Hast du eine Freundin?"
Rafa zögert kurz, lächelt und sagt:
"Ja."
"Wer ist das denn?"
"Das sage ich nicht."
"Wir sehen uns ja nur am Wochenende ... da hättest du ja in der Woche Zeit, um dich mit anderen Leuten zu treffen."
"In der Woche mache ich zur Zeit ... Musik."
"Oft sehen wir uns ja nicht, hm?" bemerke ich. "Immer nur am Wochenende ..."
"Ja."
"Es scheint dir ja zu genügen."
"Nicht schlecht", lobt mich Rafa.
"Du brauchst mich also gar nicht öfter zu sehen", folgere ich.
"Ich habe Zeit", erklärt Rafa.
"Vielleicht habe ich keine."
"Weshalb nicht?"
"Ich bin vielleicht kein Mensch, aber ich bin vergänglich."
"Woran merkst du das?"
"An meinem Gesicht. Ich verändere mich."
"Ich verändere mich auch", meint Rafa.
"Aber du bist unsterblich."
"Ja."
"Woher weißt du denn, daß du unsterblich bist?"
"Ich weiß es eben."
"Wer hat dich denn unsterblich gemacht?"
"Das weiß ich nicht."
"Aber daß du unsterblich bist, weißt du."
"Warum, warum stellst du mir immer diese Fragen?" begehrt Rafa auf.
"Weil ich meinen Seelenfrieden finden möchte", gebe ich zur Antwort. "Du willst mir nicht sagen, ob ich dir wichtig bin. Du willst mir nicht sagen, ob ich dir unwichtig bin. Ich muß es doch herausfinden."
"He ... ich beantworte dir die Fragen doch sowieso nicht."
"Hättest du es lieber, wenn ich mich da drüben in die Ecke stelle und tue, was ich will?"
"Die zweite Hälfte vom Satz."
"Also soll ich mich nicht in die Ecke stellen ..."
"Vergiß' das", bittet Rafa. "Vergiß' die erste Hälfte. Tu' einfach, was du willst."
"Oh ... ich könnte schon so Einiges mit dir anstellen", sage ich gierig. "Aber da fehlt so eine gewisse Gegenseitigkeit, so ein gewisses Engagement."
"Ich engagiere mich nie", meint Rafa und lehnt sich zurück.
"Ach - du läßt die Dinge einfach so laufen. Du bist völlig passiv."
"Ich kriege sowieso, was ich will", ist er sicher. "Ich habe Zeit."
"Hast du dich schon einmal davor gefürchtet, einen Menschen zu verlieren?"
"Ja, meinen Vater."
"Und außer ihm?"
"Mich."
"Wie hältst du es eigentlich mit der Verantwortung in kleinen Dingen?" möchte ich wissen.
"In was für Dingen?"
"Na, wenn es - zum Beispiel - um das Einhalten von Verabredungen geht."
"Waren wir denn verabredet?"
"Vor ein paar Wochen waren wir es."
"Das war keine richtige Verabredung", findet Rafa.
"Doch, das war eine", widerspreche ich. "Wir hatten sogar den Zug festgelegt."
"Ich konnte nicht", beteuert Rafa einmal mehr. "Außerdem hatte ich gesagt, daß ich dich vorher anrufe."
"Das hattest du nicht."
"Doch, das hatte ich."
"Davon weiß ich nichts. Außerdem ruft man immer an, wenn man eine Verabredung nicht einhalten kann. Und außerdem hattest du den Samstag davor schon eine Verabredung nicht eingehalten. Du wolltest um halb vier im 'Elizium' sein."
"Ich war im 'Elizium'."
"Ja, aber nicht um halb vier."
"Wenn die Leute, mit denen ich gekommen bin, fahren wollen, muß ich mit denen mitfahren."
"Erzähl' mir bloß, du hättest kein Geld für eine Zugkarte."
"Ich hatte keins mehr."
"Da kann man für sorgen, daß man das noch hat."
"Ich spare nicht für so eine Zugkarte."
"Das war nicht irgendeine Zugkarte. Da hing eine Verabredung dran. Also. Einmal 'Trauma' habe ich noch gut. Da kannst du heute mitgehen."
Rafa lächelt.
"Heute habe ich keine Zeit", sagt er.
"Ha, ha", mache ich nur.
Er trinkt sein eigenartiges Gemisch. Wir sitzen einen Augenblick still nebeneinander, dann beugt sich Rafa zu mir und fragt:
"Mädchen, wie wär's, wenn du mal ehrlich bist?"
"Mache du den Anfang", gebe ich zurück. "Sage mir, weshalb du mich im Januar angesprochen hast."
"Aus welchem Grund würdest du jemanden ansprechen?"
"Ich würde ihn ansprechen, wenn er mich interessiert."
"Damit ist deine Frage ... beantwortet."
"Ah, ja ... dann ist da noch etwas ... Vor einiger Zeit lief im 'Elizium' ein Stück von dir, und du hast dazu getanzt und gesungen."
Rafa nickt.
"Und mittendrin", fahre ich fort, "hast du aufgehört zu tanzen. Weshalb?"
"Der Klang war schlecht."
"So, so!"
Inya sitzt mit am Tisch, und ich habe den Eindruck, daß sie mich beobachtet, sie und auch die anderen, die am Tisch und auf dem Podest sitzen.
"Wußtest du, daß wir beide im Stadtmagazin abgebildet sind?" frage ich Rafa.
"Ja."
"Wie findest du die Bilder?"
"Nicht besonders."
"Ich möchte dich fotografieren, aber bei mir daheim."
"Willst du sonst nichts von mir?" fragt Rafa.
In seiner Stimme ist ein Lauern zu hören und gleichzeitig die Furcht vor einer Enttäuschung.
"Doch", antworte ich.
"Was denn?"
"Also, etwas mußt du auch auf dich zukommen lassen."
"Nicht schlecht", bemerkt Rafa anerkennend. "Nicht schlecht."
"Glaubst du, man kann mir vertrauen?" frage ich.
"Warum nicht?"
"Vertraust du mir?"
"Ja", sagt Rafa.
"Dann ... los, vertrau' mir deine Gefühle an", fordere ich ihn auf.
Er schweigt.
"Du fragst mich nicht gerade häufig nach etwas", stelle ich fest.
"Du fragst ja dauernd", versetzt Rafa. "Du läßt mich gar nicht zum Zuge kommen."
"Hast du anderen Leuten auch so viel versprochen, wie du mir versprochen hast?" setze ich die Befragung fort.
"Was habe ich dir denn versprochen?"
"Alles, was ich will."
"Das ist eine Frage der Zeit", sagt Rafa. "Für mich spielt Zeit keine Rolle."
"Wenn du alle Versprechungen so aufschiebst, hast du am jüngsten Tag ganz schön viel zu tun."
"Wann ist der jüngste Tag?"
"Wenn die Toten aus den Gräbern steigen."
"Wann ist das? Heute? Morgen?"
"Wenn er kommt, liege ich wahrscheinlich schon lange unter der Erde."
"Ich kann warten; für mich spielt Zeit keine Rolle."
"Für mich aber", halte ich dagegen. "Sieh' mal ... du willst nicht sagen, ich sei dir gleichgültig. Du willst aber auch nicht sagen, ich sei dir nicht gleichgültig. Wenn dir aber gleichgültig ist, daß für mich die Zeit eine Rolle spielt, dann weist du mittelbar nach, daß ich dir gleichgültig bin."
"Was ist denn das für ein Unsinn?" beschwert sich Rafa. "Das stimmt ja hinten und vorne nicht."
"Ist deine Gleichgültigkeit denn nur Theater?"
"Ich spiele kein Theater."
"So, so. Du hast einmal das Gegenteil behauptet. Du hast zugestimmt, als ich angenommen habe, du würdest dein Leben wie ein Theaterstück inszenieren."
"Mein Leben."
"Ich habe gefragt:
'Kann es sein, daß du dein Leben wie ein Theaterstück inszenierst?'
Du hast geantwortet:
'Ja.'
Das war der Wortlaut."
"Wenn ich 'Leben' sage, meine ich vor allem meine Umgebung", erklärt Rafa. "Ich inszeniere also nicht mich selber, sondern meine Umgebung."
"Ach, du ... inszenierst die Leute um dich herum. Du weist ihnen Rollen zu. Du schiebst sie hin und her wie Schachfiguren, wie Gegenstände."
"Nein!"
"Es kommt mir manchmal so vor, als würdest du vor anderen Leuten recht wenig Achtung haben."
"Ich achte fast jeden."
"Das glaube ich kaum."
"Glaub', was du willst."
"Mich stört an deinem Verhalten, daß du kaum bereit bist, zu investieren", tadele ich.
"Ich investiere nie", entgegnet Rafa. "Ich habe Zeit. Ich kann abwarten. Was ich will, kriege ich sowieso."
"Der Sturm" von Calva y Nada beginnt.
"Ich gehe tanzen", kündige ich an.
Rafa nickt:
"Tu' das."
"Tanzt du auch?" frage ich.
"Nein."
Als ich zuendegetanzt habe, sitzt Rafa nicht mehr auf dem Podest. Das Mädchen mit den langen roten Haaren steht etwas abseits an der schwarzen Wand neben der Treppe. Rikka fragt mich:
"Und? Was macht Rafa?"
"Unsinn. Er antwortet auf meine Fragen nicht."
Sie tippt sich an die Stirn. Ich tue es ihr nach.
Rafa scheinen meine Befragungen nicht nur zu stören. Er scheint sie auch zu genießen. Er würde sich den Fragen sonst kaum immer wieder aussetzen - mag er sie nun beantworten oder nicht.
Als ich längere Zeit getanzt habe, erscheint Rafa am Rand der Tanzfläche. Er bleibt auch dort stehen, als das Lied zuende ist. Ich stelle mich neben ihn.
"Na? Was 's' los?" fragt er.
"Das", antworte ich und greife nach seinem Revers, "kann ich dir nicht sagen."
"Wie schade für dich."
Mit geübt eindrucksvoller Geste läßt er mich stehen und geht zur Bar. Als er wieder in meiner Nähe auftaucht, bin ich von meinen Leuten umringt. Rafa scheint das abzuschrecken. Er geht zu der Rothaarigen. Von meinem Stuhl aus höre ich, wie er sie fragt:
"Na? Was 's' los?"
- genauso, wie er mich gefragt hat. Ist diese Frage tatsächlich nur eine Masche, mit der er die Frauen am Fließband abfertigt? Was für Hoffnungen hat er der Rothaarigen gemacht, was für Versprechen ihr gegeben?
Rafa geht mit der Rothaarigen auf die Tanzfläche und entschwindet dann mit ihr.
Rikka meint, er wolle mich mit der wohl eifersüchtig machen.
Als ich zu den Toiletten gehe, kommt mir Rafa im Vorflur entgegen. Er macht eine Geste, als wolle er mir den Weg freimachen; dabei ist der längst frei. Ich mache auch eine Geste. Es ist eine einladende Geste in Richtung Damentoilette. Wie ich darauf komme, weiß ich beim besten Willen nicht. Rafa guckt höchst erstaunt. Er geht an mir vorbei und hält inne, als ich mich umdrehe.
"Na? Worauf wartest du?" frage ich.
"Ich?" fragt er. "Warten?"
Er lehnt sich an die weiß verputzte Mauer.
"Es ist nämlich so", sage ich langsam und lege meine Hände rechts und links von ihm an die Wand, "ich bin wahrscheinlich nächsten Samstag nicht hier. Ich fahre nach HH."
"Ich bin wahrscheinlich dann auch nicht hier. Ich muß wahrscheinlich zu einem Kumpel. Am 21. sind wir in der 'Halle', das weißt du?"
"Ja."
"Eine Woche später sind wir in HF."
"Im 'Limited'?"
"Ja. Da treten wir aber richtig auf. In der 'Halle' spielen wir ja nur ... sechs Stücke."
"Auch das mit 'Ganz in Weiß'?"
"Nein."
"Ach ... das ist das Stück, das ich auch mal gut finde."
"Mal sehen. Mal sehen."
"Überhaupt, die Kassetten."
"Die Kassetten?"
"Du hattest mir vor Monaten versprochen, mir Kassetten mitzubringen."
Rafa holt tief Atem und sagt langsam, laut und abwehrend:
"Wenn du wüßtest, was ich für Streß habe, wüßtest du auch, weshalb ich das nicht geschafft habe."
"Ich habe auch Streß."
"Du weißt aber nicht, was für Streß ich habe."
"Ich weiß aber, wie das ist, Streß zu haben. Und ich weiß, daß ich dann solche Sachen trotzdem schaffe."
"Ich hab' es nicht geschafft."
Das Licht, das von der Decke kommt, ist fast weiß. Ich versuche, herauszufinden, was für ein Grau Rafas Augen haben.
"Warum fragst du bloß immer soviel?" seufzt er wieder einmal.
"Weil du so wenig antwortest", erkläre ich. "Von dir aus redest du wirklich nicht gerade viel."
"Also. Man kann doch ebensogut in Kontakt treten, ohne zu reden."
"Richtig. Aber auch das fällt bei dir rar aus."
Mir ist bewußt, daß wir in der Stille des Flurs nicht offen sprechen können, weil jeder mithören kann. Rafa scheint es wichtig zu sein, mich nur in der Öffentlichkeit zu treffen. Das hält uns beide entfernt voneinander. Rafa steht in "unerreichbarer Nähe" vor mir.
"So bist du letztes Mal einfach so abgehauen, ohne dich zu verabschieden", werfe ich ihm vor.
"Dieses Mal verabschiede ich mich", verspricht er.
"Fein."
Unsere Blicke versinken ineinander. Rafa beginnt meistens zu lächeln, wenn ich ihn längere Zeit ansehe. Es ist immer das gleiche Lächeln, und ich frage mich, ob er damit wirklich mich meint. Vielleicht wärmt er sich nur an der Aufmerksamkeit, die er von mir bekommt. Es gelingt mir nicht, ihn in dieser Hinsicht kürzer zu halten. Da will ich ihm wenigstens ab und zu einen entlarvenden Spruch zwischen die Kiefer würgen. Es soll kein reines Vergnügen für ihn sein, mit mir zu sprechen.
"Warum stellst du mir immer diese Fragen?" wird er ungeduldig. "Was willst du?"
"Das mußt du herausfinden."
"Was hast du davon, wenn ich auf deine Fragen gar nicht erst antworte?"
"Wenn du nicht antwortest, stelle ich Fangfragen."
"Wenn du Fangfragen stellst, lüge ich als Antwort."
"Fangfragen sind Fragen, bei denen man nicht merkt, daß es welche sind."
"Und wenn ich es merke, lüge ich ... und woher willst du wissen, wann ich es merke und wann nicht? Wenn du nicht weißt, wann ich lüge und wann nicht, kannst du mit den Antworten gar nichts anfangen", freut sich Rafa.
"Ich denke, du lügst nie."
"Tu' ich ja auch nicht."
"Ah ..."
"Wenn ich auf eine Frage mit einer Lüge antworte, dann ist das kein Lügen", meint Rafa.
"Findest du eigentlich, daß Ehrlichkeit und Offenheit Zeichen von Schwäche sind?" frage ich.
"Unkontrollierte Offenheit ist ein Zeichen von Schwäche, kontrollierte Offenheit ein Zeichen von Stärke", antwortet er.
"Stehst du eher auf Nähe oder eher auf Distanz zu den Menschen?" ist meine nächste Frage.
"Du sagst 'Menschen'", bemerkt Rafa.
"Ach ... also 'Nicht-Menschen'."
"Du glaubst, du seist ein Mensch", vermutet er.
"Nein."
"Woher weißt du, daß du keiner bist?"
"Ich weiß nicht, was ich bin."
"Ach, du weißt nicht, was du bist?" wundert sich Rafa.
"Nein."
Er schüttelt den Kopf.
"Wie kann man nur nicht wissen ..."
"Nehmen wir an, ich stehe auf Nähe", greife ich das Thema wieder auf. "Dann muß ich herausfinden, ob du auf Nähe oder auf Distanz stehst."
"Wie willst du das herausfinden?"
"Ich muß es eben herausfinden."
"Warte es doch ab."
"Ich habe keine Zeit."
"Ich habe Zeit."
"Daß du Zeit hast, ist für dich entscheidend", sage ich. "Daß ich keine habe, ist für dich nicht entscheidend. Davon kannich ableiten, daß ich keine entscheidende Bedeutung für dich habe."
Rafa dreht seinen Kopf nach links und lehnt ihn an die Wand.
"Augenblick ... laß' mich nachdenken", bittet er.
Dann wendet er sich mir wieder zu.
"Das ist voll-kom-me-ner Blödsinn", gibt er das Ergebnis seines Nachdenkens kund.
"Kannst du auf logisches Denken?" frage ich. "Ist das dein Ding?"
"Hin und wieder."
"Was glaubst du, wer von uns ist redegewandter, du oder ich?"
Rafa überlegt kurz.
"Du", sagt er.
"Richtig", bestätige ich.
Um seinen Mund zuckt es. Es ist das Zucken, das ich vor Wochen schon einmal beobachtet habe. Damals hat er gelacht.
"Ich habe dich erst einmal lachen hören", erinnere ich mich. "Stehst du nicht so auf Lachen?"
"Nein."
"Ich auch nicht immer, außer ... wenn ich ein total kaputtes Autowrack sehe, lache ich mich halbtot. Wenn ich also über dich lache, dann weißt du, wofür ich dich halte."
Ich sehe Rafa an und lache ihm ins Gesicht.
"Nicht schlecht!" lobt er. "Nicht schlecht!"
Das Stück "Ulysses" wird gespielt.
"Das ist von Dead can dance!" rufe ich.
"Los, dann mußt du tanzen", schickt Rafa mich nach drüben.
Ich gehe und tanze.
Ich kann mich gegen das Lächeln nicht wehren, das mich überfällt. Es paßt so gar nicht zu der getragenen, kulthaften Musik. Ich schreite "in Bahnen", zwei Schritte vor, zwei zurück, und immer wieder kommt das Lächeln ...
Rafa hat für mich wirklich etwas von einem Autowrack. Er kann so lächerlich dürftig, so lächerlich verbogen wirken. Er kann so verunglückt dastehen.
Kappa spielt "Der Zauberstab" von Zaza, das Stück, das ich so abscheulich finde. Rafa stürmt zur Tanzfläche. Er kommt an meine Seite.
"Also, nein - dieses Stück ist scheußlich", sage ich zu ihm und schüttle mich.
Rafa ist ganz anderer Meinung:
"Es ist völ-lig geil!"
"Hör' dir mal den widerlichen Text an!"
Es gelingt mir, noch vor der Zeile "Deine Beine sind grade wie für mich gemacht" aus dem Tanzraum zu entwischen. Dieses Mal gehe ich in die Damentoilette auch wirklich hinein.
Ich stelle mich vors Waschbecken und schminke mich nach. In der Nähe der Tür stehen mehrere langhaarige Mädchen.
"Ach! Rafa ist auch wieder da!" ruft eines.
"Ach!" ruft ein anderes.
"Schon wieder!" bemerke ich, ohne mich umzudrehen.
Die Mädchen scheinen eine Art Hofstaat von Rafa zu sein. Sie scheinen sich über ihn lustig zu machen und ihn gleichzeitig anzuhimmeln.
Als ich fertig bin, sehe ich, daß Rafa vor der Türöffnung steht.
"Na? Wen guckst du an?" frage ich ihn.
Er folgt mir durch den Vorflur und stellt sich wieder vor die weiße Wand.
"Willst du dich verabschieden?" fragt er.
"Nein", antworte ich. "Willst du dich verabschieden?"
"Nein."
"Gehst du noch nicht?"
"Nein. Gehst du?"
"Nein."
"Schade", meint er.
"Findest du es schade, weil du dich gerne von mir verabschieden würdest?"
"Ja."
"Ich bin gespannt, auf welche Art du dich dieses Mal von mir verabschiedest", sage ich. "Es gab ja schon mehrere, sehr unterschiedliche Arten. Es gab diverse Arten."
Während ich spreche, geht Rafa auf die gegenüberliegende Seite des Vorflurs. Dort sind wir vom Eingang der Damentoilette aus nicht zu sehen; dennoch kann uns jeder beobachten und zuhören, der möchte.
Unvermittelt streichelt Rafa meine Wange.
"Was willst du bloß von mir?" fragt er.
"Was willst du von mir?" frage ich.
Rafa und ich sehen uns eine Zeitlang nur an. Er streichelt wieder meine Wange. Ich streichle seine auch und sage:
"Siehst du. Wie du mir, so ich dir. Das ist Gegenseitigkeit."
"Wir können uns ergänzen", meint Rafa. "Ich hoffe, wir können uns ergänzen."
"Das heißt ja, daß jeder von uns etwas hat, das dem anderen fehlt."
"Das heißt es."
"Also fehlt dir auch etwas", schließe ich.
"Ja."
"Dann kannst du dich aber nicht hundertprozentig fühlen."
"Ich kann", widerspricht er.
"Nein."
Rafa seufzt.
"Dir fehlt Haß", sagt er und macht eine Pause. "Dir fehlt Krankheit. Und vermißt du das?"
"Nein."
"Siehst du - dir fehlt etwas; das vermißt du aber gar nicht. Wenn mir etwas fehlt, das ich gar nicht vermisse, dann kann ich mich auch hundertprozentig fühlen. Etwas anderes ist es, wenn du dir das, was dir fehlt, wünschst."
"Mir fehlt etwas, das wünsche ich mir auch. Besser ausgedrückt - ich brauche es. Ich habe ein Bedürfnis danach."
"Das ist dann etwas anderes."
"Wünschst du dir denn gar nichts?" will ich wissen.
"Doch."
"Dann kannst du dich nicht hundertprozentig fühlen, sondern höchstens fünfzigprozentig."
"Ich kann doch", sagt Rafa und macht sich auf den Weg zurück zum Tanzraum. "Ich kriege alles, was ich mir wünsche."
"Ha, ha", sage ich wegwerfend.
Von da an kommt Rafa lange nicht mehr in meine Nähe; ja, er ist lange Zeit überhaupt nicht im Tanzraum. Ich frage mich, was er treibt. Ihn zu bewachen halte ich für würdelos. Schließlich muß er sein Handeln vor sich selber verantworten.
Meine Leute gehen heim, bis auf Carl. Dessen Gesprächspartner Tay trägt einen Pferdeschwanz - wie Rafa. Ich biete ihm Colafläschchen aus Weingummi an, doch er will sie nicht.
"Ich nehme das lieber in flüssiger Form zu mir", sagt er und zeigt auf sein Glas.
Auf der Tanzfläche liegt die ganze Nacht über einer von den weißen Handzetteln, die Rafa verteilt hat. Hin und wieder tritt jemand auf den Zettel, und er wird immer schmutziger und zerknickter.
Ich sehe Dolf noch im "Elizium" herumlaufen. Ich nehme an, daß auch Rafa noch da ist. Tatsächlich kommt Rafa in den Tanzraum zurück, als dieser schon fast leer ist. Er steigt die Treppe hinauf. Etwas später kommt er wieder nach unten, geht um mich herum und reicht mir die Hand. Ich gebe ihm meine Rechte und lege die Linke auf seine Schulter. Ich sehe ihn mit unbewegtem Gesicht an. Er beugt sich zu mir.
"Ich verabschiede mich jetzt", sagt Rafa.
Ich umschließe seine Hand mit beiden Händen. Er beugt sich wieder zu mir und küßt mein Ohrläppchen. Dann geht er, und ich tanze weiter.
Ich denke über den Kannibalismus bei manchen Spinnenarten nach. Das Weibchen frißt das Männchen, nachdem sich dieses herangetraut und es begattet hat. Anschließend, nach der Eiablage, baut das Weibchen sich mit in den Kokon ein, damit sein Körper die Brut nähre.
Als es hell wird, spielt Kappa noch einige Stücke, die mir gefallen, auch "Love like Blood" von Killing Joke. Die zierliche, filigran geschminkte Siddra spricht mich an.
"Ich soll dir von Jochen was ausrichten", sagt sie.
"Vom Sockenschuß?" frage ich entgeistert. "Was denn?"
"Daß er heute im 'Trauma' ist und daß du doch mal vorbeischauen möchtest."
"Ha! Ha! Ha!"
Siddra kichert.
"Er sagte, sag' ihr, da sei jemand im 'Trauma' und würde auf sie warten", fügt sie hinzu.
"Toll!" stöhne ich. "Ich gehe zwar ins 'Trauma', aber ich gehe nicht wegen dem Sockenschuß hin. Wenn ich heute hinkomme, denkt der bestimmt, ich sei nur wegen ihm da."
"Der sagte auch schon sowas. Er meinte zu mir, du hättest ihn letztes Mal im 'Trauma' angegeilt."
"Was in einem kranken Hirn so wächst! Ich sage den Rausschmeißern im 'Trauma' am besten gleich, daß es vielleicht Krawall gibt. Dann kriegt der am Ende da auch noch Hausverbot."
"Hier hat der ja schon ..."
"Sicher!"
"Leider hat er's im 'Elizium' gekriegt", meint Siddra.
"Leider? Endlich sind wir den los!"
"Aber der hat die Bullen ins 'Elizium' geschleppt", gibt Siddrazu bedenken.
"Das habe ich gesehen. Nur, das 'Elizium' war ja nicht schuld; der Sockenschuß war schuld. Ich muß mich wirklich noch bei den Rausschmeißern bedanken."
"Jochen sagt, Rafa wäre von dir gegen ihn aufgehetzt worden und hätte ihm den Mantel zerrissen", erzählt Siddra. "Und den will er jetzt vom 'Elizium' ersetzt haben."
"Ach, nein ... ach, nein ... Das ist ein gigantischer Unsinn. Nein. Der Rafa hat niemandem den Mantel zerrissen. Der Auslöser für den Krawall war ich. Der Sockenschuß verfolgt mich doch seit fünf Jahren. In dieser einen Nacht nun habe ich mit Rafa geflirtet. Da ist der Sockenschuß ausgetickt. Er ist auf mich los und hat so eine Art Veitstanz aufgeführt und hat herumgeschrien."
"Was man so hört!" staunt Siddra. "Ja, er wirft dir vor, ihn nachzumachen, indem du dich schneuzt. So ein Blödsinn. Ich rede auch erst seit einem Jahr wieder mit dem. Ich habe ihn doch in den A... getreten."
"Geil!"
"Ja, das war nämlich so ... ich hatte doch vor, eine psychosomatische Therapie zu machen, und die mache ich jetzt auch. Als ich dem Jochen davon erzählt habe, hat der losgeschrien:
'Die stopfen dich mit Medikamenten voll! Da wirst du eine fette Nudel!'
Da hat es mir gereicht, und ich habe den so in den A... getreten, daß der über die halbe Tanzfläche geflogen ist."
"Ist das geil. Er erzählt ja gern anderen Leuten, sie wären geisteskrank."
"Über dich hat er sowas in der Uni verbreitet. Da soll ein Kommilitone gesagt haben:
'Schade, die Hetty hat immer so gut gelernt, und jetzt hat sie die Prüfung nicht geschafft.'"
"So ein Unsinn", sage ich schaudernd. "Sicher - er ist in seinen Augen gesund, und der Rest der Welt ist geisteskrank. Er bildet sich ja auch ein, ich sei ein halbes Jahr mit ihm zusammengewesen - dabei hat er sich nur für einige Wochen bei mir eingenistet, bis ich genügend Aggressionen gesammelt hatte, um ihn 'rauszuwerfen. Bekommen, was er wollte, hat er nicht, trotz aller Annäherungsversuche."
"Hm ... er behauptet ja auch, er sei mit mir zusammengewesen, obwohl wir nur mal gemeinsam wohin gefahren sind."
"Siehst du, du bist nicht die Einzige, über die er Schwachsinn erzählt."
"... und ... er sagt auch immer 'meine Hetty' und 'meine Constri'."
"Eine Frechheit."
"Ich bin wirklich gespannt auf das, was heute im 'Trauma' abgeht", meint Siddra.
Nachdem das "Elizium" geschlossen hat, gehe ich mit einem Haufen Leute zum 'Trauma'. Darunter ist auch ein Mädchen namens Henriette. Sie schwärmt von der betonharten Musik, die uns schon aus der Ferne entgegenhämmert. Joël gibt uns allen Rabatt. Er grinst, als ich ihm die Sache mit Sockenschuß erzähle.
"Der soll nur anfangen mit Blödsinn machen", sagt er.
Der Sockenschuß hält sich zurück. Telgart schwenkt mich zur Begrüßung durch die Luft. Die Musik ist kühl und hart. Es laufen unter anderem "Quest" von Sonic Solution und das schon klassische "Pure - Remix" von G.T.O., ein Stück, das ich aus dem "Puzzle" kenne. Das Stück beginnt mit einem "stehenden Chor", über den ein klirrender Rhythmus gelegt wird. Es gehört zu den Vorläuferstücken des Techno in der Electronic Body Music.
Ich tanze drei Stunden lang. Dann bekomme ich bei allen wilderen Bewegungen Kopfweh und muß gehen. Ich hoffe, daß ich jetzt nicht immer bei diesen Bewegungen Kopfweh kriege. Ich hoffe, daß mein Körper mich nicht im Stich läßt.
In der Straßenbahn denke ich darüber nach, weshalb ich Sanna so selten mit Rafa gesehen habe. Er scheint nicht erkennen lassen zu wollen, mit wem er was hat, um sich alle Türen offenzuhalten. Vollführen die Mädchen einen Ringelreihen nach dem Muster "Jede einmal mit Rafa"? Er scheint ihre Aufmerksamkeit leutselig entgegenzunehmen. Ich will nicht eine von ihnen sein. Ich tue immer so, als wären sie gar nicht da. Vielleicht will ich einfach nicht wahrhaben, daß Rafa immer "etwas hat". Er dürfte das zu nutzen wissen. Er dürfte so lange Versteck spielen, wie meine Gesellschaft ihm angenehm ist. Ist er meiner überdrüssig, braucht er mir nur ein Mädchen als seine Freundin vorzuführen. Ich frage mich schon, welche es sein wird. Ich hoffe, daß ich dann endlich auf Rafa herabsehen kann.
Ich finde es schon auffallend, mit welcher Selbstverständlichkeit ich auf ihn zugehe - ohne Zögern und im vollen Bewußtsein dessen, daß ich das nicht bieten kann, was ein Mann sich von mir erhofft. Es muß etwas dahinterstecken. Ich will die Lösung des Rätsels finden, bevor Rafa sich mir für immer entzieht.
Jedesmal, wenn ich über einen bestimmten Kiesweg gehe, ruft ein kleiner Junge hinter mir her:
"Roboter! Roboter! Rrr... Roboter! Guck' mal, ein Roboter. Das Mädchen da - Roboter!"
Ich scheine wie ein Humanoid zu wirken. Ich schminke mich silbern und aubergine und trage draußen die straßbesetzte Sonnenbrille. Ich habe ausrasierte Haare und fast nur graue und schwarze Kleider. "Spacig" sagt Carl dazu.
In der Nähe des Kieswegs befindet sich eine winzige Straßenbaustelle; dort sind Kinder seit Tagen damit beschäftigt, Mosaikpflastersteine auszugraben.



Am Freitag ging ich mit Merle etwas trinken. Ich ließ mir Bailey's bringen. Merle erzählte Klatschgeschichten. Sie fand, ich sei viel ruhiger als sonst. Wir besuchten später U.W. und Jirí und fuhren mit ihnen zur "Halle". Dort gefiel mir die Musik zuerst nicht besonders. Ich fror. Merle bot an, mir ein Getränk zu holen, doch ich wollte nichts.
Schon bald sah ich Dolf in der "Halle" herumlaufen.
"So", dachte ich.
Von Rafa war freilich nichts zu sehen.
Es kam "Video killed the Radio Star" von den Buggles, das ich seit meiner Kindheit mag. Ich ging auf die Tanzfläche. In der Mitte fand ich Rafa. Ich tanzte neben ihm und hakte mich für kurze Zeit bei ihm unter, ohne mich zu ihm hinzuwenden oder mit ihm zu sprechen.
"Na? Wie geht's?" fragte er, als das Lied zuende war.
"Ganz gut", antwortete ich schnell.
Dann fragte ich entsetzt:
"Was hast du denn angestellt?"
"Was soll ich angestellt haben?" fragt Rafa mit einem Blick voller Unschuld.
"Du hast dich nicht richtig rasiert!"
"Ich laß' mir einen Bart wachsen. Einen Vollbart."
"Das ist ja schauderhaft", bemerke ich. "Scheußlich."
Rafa erwidert nichts darauf. Er geht, und ich tanze weiter. Ich fühle mich müde und hilflos bei dem Gedanken, daß Rafa sein Gesicht, das Gesicht, an dem ich so hänge, derartig entstellen will. Ich frage mich, ob er ernstlich vorhat, sich zum Gespött der Leute zu machen.
Da Rafa mich nicht sucht, suche ich ihn. Ich finde ihn an derBar, an der wir schon einmal miteinander gesprochen haben; auf einem Hocker sitzt er im Schneidersitz. Bei ihm steht ein großer, blonder, stämmiger, ansonsten unscheinbarer Junge in der üblichen EBM-Tracht - Doc Martens, Jeans, T-Shirt und Weste in Schwarz mit etwas Weiß. Als ich in die Nähe komme, dreht Rafa sich um und fragt mich:
"Na? Was 's' los?"
"Sag' mal ...", beginne ich, "wie kommst du eigentlich auf diese widerliche Idee?"
"Welche Idee?"
"Daß du dich nicht mehr rasierst. Ich finde Bärte abartig."
"Stimmt; bei dir als Frau würde das auch ätzend aussehen."
"Bei dir sieht das auch schauderhaft aus. Was findest du daran bloß schön?"
"Schön? Darum geht's mir gar nicht. Ich habe einfach nur keine Lust mehr, mich zu rasieren."
"Widerlich. Widerlich."
Rafa dreht sich zum Tresen und schimpft über die Bedienung:
"He! Soll ich hier noch drei Stunden sitzen?"
Der Barmann erscheint. Rafa sagt herrisch:
"Ich kriege noch ein Bier und einmal Bier mit Cola."
Das Bier bekommt der fremde Junge; das Gemisch, das für mich untrinkbar ist, läßt Rafa sich selbst hinstellen.
Ich habe den Eindruck, daß die Hand, in der Rafa seine Zigarette hält, zittert. Ich taste die Hand ab, indem ich meine Finger locker darumschließe.
"Was 's' los?" fragt Rafa verwirrt. "Was soll das jetzt?"
"Kann es sein, daß du ein bißchen aufgeregt bist?"
Rafa schüttelt den Kopf. Er nimmt die Zigarette noch einmal zwischen die Finger und schaut seine Hand an. Sie wirkt ruhig, scheint aber gleich wieder zu zittern, als er auf sie nicht mehr achtet.
"Haßt du dein Gesicht so sehr, daß du es zuwachsen läßt?" frage ich.
"Weißt du was? Ich schlage dir einen kleinen Deal vor", entgegnet Rafa. "Du stellst mir keine Fragen mehr, und dafür kriegst du auch keine Antworten."
Das Mädchen mit den langen roten Haaren kommt heran und setzt sich dicht neben Rafa auf einen Hocker. Ich habe den Eindruck, daß sie ihn bewacht. Es sieht aus, als wolle sie ein Verfügungsrecht über ihn geltend machen.
"Der Kappa soll mal was Anständiges spielen", sagt Rafa zu mir. "Geh' dir doch mal was wünschen."
Die Situation scheint ihm unangenehm zu werden. Aber ich lasse mich nicht wegschicken.
"Wenn ich mir ein Stück wünsche, wird die Musik davon auch nicht besser", sage ich.
"Doch, das wird sie", meint Rafa. "Wenn er ein gutes Stück spielt, wird für einen Zeitraum von zehn Minuten die Musik um fünfzig Prozent besser. Das ist doch was?"
"Ja, für zehn Minuten. Auf die ganze Nacht bezogen ist das nichts."
Ich versuche, herauszufinden, was Rafa für Augenbrauen hat. Weil mich seine Augen so sehr fesseln, bleibt mir nicht viel Zeit dazu. Ich kann einfach nicht lange genug hochgucken, um die Augenbrauen sorgfältig zu betrachten. Ich kann nicht einmal feststellen, ob sie gezupft oder geschminkt sind.
"Was 's' los?" fragt Rafa.
"Ich sehe dich an, solange das geht", antworte ich.
Die Rothaarige greift nach Rafas Schulter. Er dreht sich zu ihr um. Sie lächelt, als sie mit ihm spricht. Ich finde ihren Gesichtsausdruck kalt und die Züge flach. Sie ist dabei nicht häßlich. Sie ist geschminkt und - wie ich - über den Ohren rasiert. Die gefärbten Haare hängen ihr weit über den Rücken. Wenn Rafa das schon genügt ... dann genügt er mir nicht.
Rafa redet nur wenige Sätze mit dem Mädchen und wendet sich dann wieder mir zu. Er lächelt mich an. Wie meistens lächelt er mit geschlossenem Mund und weit offenen Augen.
"Was 's' los?" fragt er wieder.
"Ich sehe dein Gesicht an, solange das noch geht."
"He, paß' mal auf."
Er nimmt Gummi und Schleife aus seinem Pferdeschwanz und läßt sein festes dunkles Haar herunterfallen. Es reicht ihm ein Stück übers Kinn. Er zieht sich die Strähnen vors Gesicht und setzt sich eine spiegelnde Sonnenbrille auf. Schleife und Gummi behält er in der Hand.
"Now watch yourself", sagt er.
Ich sehe durch sein doppeltes Spiegelbild hindurch. Rafa dreht seinen Kopf ein Stück zur Seite und blickt hinter der Sonnenbrille hervor. Er guckt und guckt. Ich hebe sein Haar hoch, um mit ihm zu sprechen.
"Willst du dich vor mir verstecken?" frage ich.
"Ja."
"Soll ich dein Gesicht nicht sehen?"
"Ja."
Ich finde, daß Rafas Haar gut riecht. Ich finde auch, daß sein Gesicht unter der lächerlichen Haartracht nicht leidet. Daß er sich nicht rasiert hat, nehme ich ihm nach wie vor schwer übel. Ich soll das Gesicht nicht mehr sehen und berühren können ... es ist, als würde mir der Boden unter den Füßen wegsacken.
"Der Bart ist widerlich."
"He, komm'", beschwichtigt mich Rafa, "das ist ein Vier-Tage-Bart."
"Ja", sage ich in der Hoffnung, daß er sich doch noch rasiert und das mit dem Vollbart nicht ernst meint.
"Was glaubst du, wie das in einer Woche aussieht", setzt er hinzu, und meine Hoffnung verwandelt sich in Staub.
Ich nehme meine Hand wieder von seinem Kragen weg.
"Ganz so wie ZZ Top will ich's nicht", sagt Rafa fröhlich, "das ist mir viel zu aufwendig. Aber das wird schon so ein Vollbart."
"Igitt."
Toro kommt heran, ordentlich rasiert, mit Haaren, die stehen wie Zinnsoldaten.
"He!" ruft er. "Was ist denn das da! Wer ist das denn da!"
"Das kann nur einer sein", sage ich und hebe Rafas Haare in die Höhe, um ihm zu zeigen, wen er vor sich hat.
"Oje! Oje!" meint Toro.
"Du", sage ich zu Rafa, "ich setz' mir jetzt mal deine Sonnenbrille auf."
Ich greife danach.
"He! Hör' auf, an mir 'rumzufummeln!" schimpft er. "Oder soll ich mal so an dir 'rumfummeln?"
"Ja."
"Demnächst!"
"Wenn wir am Rand von einem Abgrund stehen würden, würdest du mich dann 'runterstürzen?"
"Wierum würden wir da stehen?"
"Ich mit dem Rücken zum Abgrund und du vor mir."
"Ah, ja."
"Und, würdest du mich 'runterstürzen?"
Rafa schüttelt den Kopf.
"Wozu denn?" fragt er.
Er sieht wieder eine Weile hinter seiner Brille hervor.
"Wa-rum kümmerst du dich um mich?" fragt er in plötzlicher Erregung. "Warum stellst du mir andauernd diese Fragen?"
"Ich kann nicht anders. Ich muß es tun."
"Und, wer befiehlt dir das?" fragt Rafa ärgerlich.
"Keiner von außen", antworte ich. "Es ist von innen etwas, das ist unwillkürlich, da kann ich nicht gegen an. Was mein Unterbewußtsein will, das muß ich tun."
"Du willst es aber eigentlich nicht tun."
"Doch. Es ist meine Persönlichkeit, die das will, mein Ich, und was das will, muß ich achten. Ich kann es nicht beeinflussen. Ich muß mich danach richten. Ich würde mich gegen mich wenden, wenn ich nicht tue, was ich tue. Ich würde mich selbst verleugnen. Ich würde mich mir selbst zum Feind machen."
"Jaa, ich hab' schon begriffen", bremst mich Rafa.
Er sieht mich wieder an.
"Was ist los, was willst du?" fragt er.
"Rate", fordere ich ihn auf.
"Ich rate nie."
"Du hast aber schon mal geraten."
Toro ist nicht mehr da. Dafür ist das Mädchen mit den langen roten Haaren immer noch da. Es stört mich. Ich kann Rafa in der Anwesenheit des Mädchens nicht jede Frage stellen, die ich ihm stellen will.
"Du hast kürzlich gesagt, daß wir uns ergänzen", rufe ich Rafa ins Gedächtnis zurück.
"Ja."
"Das heißt, dir fehlt etwas."
"Ja."
"Und weil du hoffst, daß du es bekommst, weil du hoffst, daß wir uns ergänzen, kann ich ableiten, daß du dir das, was dir fehlt, auch wünschst."
"Ja."
"Infolgedessen kann es dir gar nicht hundertprozentig gehen."
"Richtig", stimmt er mir zu.
"Na - also."
Wie ich ihn so vor mir sitzen sehe, muß ich auf einmal lachen.
"Was lachst du?" fragt er.
"Ich lache immer, wenn ich jemanden sehe, der so richtig schön kaputt aussieht."
Rafa guckt wieder lange hinter der Brille hervor.
"Fürchtest du dich davor, daß ich dich durchschaue?" frage ich.
"Ja."
"Ja?"
"Ja."
"Ah, so."
"Welche Farbe hat deine Unterwäsche?" fragt Rafa.
"Weshalb fragst du das?"
"Erst habe ich gefragt. Welche Farbe hat deine Unterwäsche?"
"Weiß", gebe ich zögernd Antwort." Weshalb fragst du das?"
"Weil du auch andauernd fragst."
"Willst du mich nicht loswerden?"
"Warum?"
"Ich frage mich nur."
"Was 's' los?" kommt es einmal mehr von Rafa.
"Ich muß nachdenken", erwidere ich.
Endlich geht das Mädchen mit den roten Haaren weg.
"Du sagst, du hättest eine Freundin", spreche ich das Thema an, das mir so wichtig ist.
"Ja", bestätigt Rafa.
"Und ich soll nicht wissen, wer das ist."
"Nein."
"Wo siehst du sie denn immer?" erkundige ich mich.
"Ich sehe sie, wo ich will."
"Ich dachte mir schon, daß du das antwortest", sage ich ruhig, als würde ich nur auf einer Liste etwas abhaken. "Wann siehst du sie denn immer?"
"Wenn ich Lust dazu habe."
"Natürlich. - Hast du eine deiner Freundinnen eigentlich betrogen?"
"Ja."
"Was für ein Gefühl hattest du dabei?"
"Dabei ein gutes, danach ein schlechtes."
"Hast du deine Freundinnen oft betrogen?"
"Ganz selten."
"Hast du sie in Gedanken betrogen?"
"Wie geht denn das?"
"Daß man einer anderen gegenüber Wünsche hat, die man nicht in die Tat umsetzt."
"Also - du hast ja wohl völlig falsche Vorstellungen", entrüstet sich Rafa. "Hattest du überhaupt schon mal einen Freund?"
"Du fragst sehr direkt. Nein."
"Das merkt man."
"Hast du dir das nicht sowieso schon gedacht?"
"Nein."
"Geht es dir eigentlich schlecht, wenn du dich mir zuwendest und gut, wenn du dich von mir abwendest?" frage ich weiter.
"Gesundheitlich geht es mir immer gleich", antwortet Rafa.
"Und seelisch?"
"Das mußt du wissen", meint er. "Du hast schließlich mit mir im Sandkasten gespielt."
"Aha."
"Halt ... mit dem Jochen warst du doch zusammen", fällt Rafa ein.
Ich hole tief Luft.
"Vor einer Ewigkeit habe ich dir schon erzählt, daß ich mit dem Sockenschuß überhaupt nie zusammen war", seufze ich, und der Atem will mir ausgehen. "Ich war mit dem nie zusammen, nie und gar nicht."
Das Mädchen mit den langen roten Haaren taucht wieder auf und nimmt neben Rafa Platz. Er bleibt jedoch mir zugewandt.
"Du hast es geschafft", sagt er hinter seiner Spiegelbrille. "Du hast mich durchschaut."
"Dann kannst du dir einen Strick nehmen", folgere ich. "Dann bist du mich los."
"Ich kann mir keinen Strick nehmen, ich bin unsterblich. Dukannst dir höchstens einen Strick nehmen, dann bin ich dich los."
"Du hattest gesagt, wenn jemand dich durchschaut, nimmst du dir einen Strick."
"Den kann ich mir nicht nehmen; ich bin unsterblich", meint Rafa. "Du kannst dir einen Strick nehmen."
"Du kannst mich ja umbringen", schlage ich vor.
"Wozu?" fragt er.
"Du - wenn man kein Mensch ist, was ist man eigentlich dann?" möchte ich wissen.
"Man kann alles sein", erwidert Rafa, "ein Tisch, eine Schreibtischlampe ..."
"Oder ein Lebewesen. Was für ein Lebewesen kann man dann sein?"
"Das sagte ich ja. Kein Mensch."
"Man ist etwas nicht. Aber damit ist man doch auch noch nichts."
"Doch, man ist wohl was", findet er. "Man ist kein Mensch."
"Auf wieviele Arten kann man ein Mensch sein, ohne ein Tier oder eine Sache zu sein?"
"Auf viele."
Mir kommt die Idee, von dem fürchterlichen Gemisch, das Rafa sich immer bringen läßt, zu kosten. Er setzt jedoch sein Glas nicht ab, bevor er den ganzen Rest ausgetrunken hat. Dann steht er auf.
"Ich gehe kurz zum Klo, ja?" entschuldigt er sich. "Ich bin gleich wieder hier."
Ich setze mich auf seinen Hocker. Das Mädchen beachte ich nicht. Als Rafa wieder erscheint, wirft er mir nur einen flüchtigen Blick zu und geht vorbei. Ich folge ihm ein Stück, gehe dann aber zur Tanzfläche. Rafa sucht so eilig das Weite, daß ich vermute, er will es nicht anders.
Neben der Tanzfläche steht Merle und fragt noch einmal, ob ich denn nichts trinken möchte.
"Nein!"
Merle erzählt viel. Ich bin einsilbig.
"Ist heute nicht dein Tag, oder?" fragt sie.
"Nein. Heute ist das nicht mein Tag."
Ich habe das Gefühl, von der Last, die der Fall Rafa auf mich wirft, erdrückt zu werden. Wenn er nicht das Gleiche durchlebt und durchleidet wie ich, dann, denke ich, hat er in meiner Nähe nichts verloren.
Ich sehe hin und wieder nach, ob Rafa irgendwo herumläuft. Er scheint einen Rundgang durch die "Halle" zu unternehmen, um jedermann seine neuartige Aufmachung vorzuführen.
Auf einem Podest neben der Tanzfläche begrüßt mich Derek. Ich wechsele ein paar Worte mit ihm. Dann fällt mein Blick auf Rafa, der in geringem Abstand vorbeigeht. Als ich mich ihm nähere und seine Schulter berühre, dreht er sich um und bleibt stehen.
"Was 's' los?" fragt er.
Meine Antwort ist immer noch gleich:
"Ich sehe dich an, solange das geht."
Rafa nimmt die Brille ab und versucht wieder einmal, mich wie Bela Lugosi in seiner "Dracula"-Rolle anzusehen; er lächelt dabei aber. Er guckt und guckt, ich gucke und gucke.
"Also, was 's' los?" fragt Rafa unruhig. "Was willst du?"
"Ich finde es bescheuert, daß wir uns immer nur in irgendwelchen Kneipen treffen", äußere ich meinen Unmut. "Ich will mich mit dir daheim treffen."
"Daheim?"
"Daheim."
"Das machen wir auch noch", verspricht er.
"Und wann?"
"Warte's ab."
"Ich will nichts mehr abwarten", begehre ich auf. "Ich will jetzt wissen, wann."
"Warum?"
"Weil es mir auf die Nerven geht."
"He!" ruft Rafa. "Heb' mir nicht immer die Haare hoch. Ich bin nicht taub!"
"Es geht mir an die Substanz, wenn ich nie weiß, was ist. Es geht mir auf den Geist."
"Ist ja interessant, was ich in dir für Gefühle erzeuge", sagt Rafa kalt und wendet sich ab.
Als er fortstrebt, lege ich eine Hand auf seine Schulter. Er dreht sich noch einmal um, und ich drohe ihm mit dem Finger. Dann lasse ich ihn gehen.
Merle hat Roséwein geholt. Ich trinke ein paar Schlucke. Nachdem ich mich auf der Toilette ein wenig gerichtet habe, nehme ich den Weg, der an der Bar in der Nähe des Eingangs vorbeiführt. Dort finde ich Rafa, wieder mit ordentlich gebundenem Pferdeschwanz. Seine Brille hat er abgesetzt.
"Na? Was 's' los?" fragt er.
"So gefällst du mir schon besser", lobe ich ihn.
Der Junge in EBM-Tracht ist bei ihm, das Mädchen mit den langen roten Haaren nicht.
Die Blicke von Rafa und mir versinken wieder ineinander.
"Was ist los, was willst du?" fragt er.
"Ich sehe dich an, solange das noch geht."
"Sprich, was willst du?" fragt Rafa mit zunehmender Ungeduld in der Stimme.
"Ich will, daß wir uns endlich privat sehen."
"Aber du warst doch schon bei mir zuhause."
"Ja, aber erst einmal."
Wir sehen uns schweigend an.
"Was 's' los? Sprich", bittet Rafa.
"Ich muß nachdenken ..."
Mir ist bewußt, daß ich noch zahlreiche Fragen an ihn habe. Sie fallen mir nur gerade nicht ein.
"... ach, ja", fahre ich fort. "Bereust du es eigentlich, mich angesprochen zu haben?"
"Nein", gibt er sogleich Antwort. "Ich habe alles schon vorher gewußt. Wenn ich also gewußt hätte, daß ich es bereuen würde, hätte ich dich nicht angesprochen."
Wir tauschen wieder Blicke aus. Dann greift Rafa geschwinde nach mir und beißt mich in den Hals. Ich hänge an seiner Schulter. Er weicht zurück.
"Hast du das Gefühl, du hast dich verändert, seit du mich angesprochen hast?" möchte ich wissen.
"Ich bin immer gleich geblieben", ist er sicher.
Der Junge in EBM-Tracht wechselt einige Worte mit ihm.
"Man sieht sich!" ruft Rafa mir zu.
Ich stehe regungslos da.
"Man - sieht - sich!" wiederholt er.
Ich stehe immer noch da, ohne zu sprechen oder mich zu bewegen.
"Also. Ich gehe mit ihm kurz 'raus und komme dann wieder", erklärt Rafa.
"Ja."
Dieses Mal muß ich vor mich hinlächeln, als ich an meinen Platz gehe.
"Damned don't cry" von Visage wird gespielt. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich auf die Tanzfläche gehen soll oder nicht.
"Geh'", sagt Merle. "Geh'. Ich höre schon, das ist deine Musik."
Ich finde Rafa dicht in meiner Nähe und tanze neben ihm. Er sieht mich an, mehrmals, und ich halte schließlich im Tanzen inne, um ihn genau zu betrachten. Wie er tanzt, erscheint mir unbeholfen und unsicher. Er macht stets denselben Schritt. Mir fällt auf, daß er doch nicht das gleiche Gesicht hat wie Bela Lugosi. Sein Profil ist weicher und stumpfer als das von Lugosi. Ich finde Rafas Gesicht hübscher. Und ich finde, daß die Wirkung von seinem Gesicht zerstört wird, wenn ersich nicht rasiert. An seiner Stelle wäre es mir peinlich, mich so zu zeigen.
Nach dem Tanzen will Rafa an mir vorbeiziehen. Ich gehe zu ihm hin, und er bleibt stehen.
"Was 's' los?" fragt er.
"Ich sehe dich an, solange das geht."
"Ich sage: was ist los?" fragt Rafa zwischen Ungeduld und Ärger.
"Das sagte ich dir", antworte ich.
"Was willst du von mir?"
"Das mußt du raten."
"Ich rate nicht", beharrt er. "Also, was willst du?"
"Das ist nicht so einfach, dir das zu sagen."
"Alles ist einfach."
"Nichts ist einfach", widerspreche ich. "Und du bist äußerst schwierig."
Rafa guckt.
"Es paßt mir nicht, wie das hier läuft", beschwere ich mich. "Es paßt mir nicht, daß ich ewig diejenige bin, die ankommen muß. Wenn du nicht zu mir kommst, muß ich zu dir kommen."
"Warum?"
"Weil ich dich sehen will. Und weil ich immer zu dir komme, kannst du leichten Herzens den mimen, der mir alles überläßt und gleichgültig dasitzt und nichts tut."
Rafa streicht über meine Wange und geht rasch ein Stück weiter, als wolle er verhindern, daß ich dasselbe bei ihm mache.
"Also, was ist los, was willst du?" fragt er, und seine Stimme hört sich endgültig ärgerlich an.
"Ich kann dir nicht immer alles sagen", erkläre ich. "Du mußt auch selbst auf etwas kommen."
"Ha!"
"Oh - Rafa lacht", stelle ich fest. "Na - eigentlich war's kein Lachen, nur ein Auflachen."
"Das ist bei mir alles nur Theater", behauptet Rafa. "Das ist alles unecht. Guck' mal - ich zeig's dir - ich kann noch weitermachen. Ha! Ha! Hahaha ..."
Er lacht wild herum. Ich ziehe ihn am Kragen wie ein Tier an einem Strick.
"Geil!" rufe ich. "Geil!"
Sogleich steht er wieder ruhig da.
"Ist alles unecht", sagt er. "Lachen ist bei mir immer unecht."
"Oh, nein. Das damals, das war echt."
"Was willst du? Sag', was willst du?"
"Ich will dich privat sehen."
"Das - sind nur die Folgen", meint Rafa. "Das ist nicht, was du willst, was dahintersteckt."
"Wenn ich dir das sage, dann sagst du am Ende nur: ach, schön - und gehst zur Bar."
"Da gehe ich sowieso wieder hin."
"Was habe ich also davon, wenn ich's dir sage?"
"Ich kann Weichen stellen."
"Aha."
"Also ... was willst du?" fragt Rafa eindringlich.
"Sage mir erst, wann du zu mir kommst", verlange ich.
"Das kann ich noch nicht sagen."
"Ich habe dir soviel erzählt, jetzt sage du mir auch etwas."
"Mensch, da muß doch nicht immer so eine Balance sein", findet Rafa.
"Oh, doch", erwidere ich. "Unbedingt."
Er wendet sich ein Stück von mir weg. Es sieht wie ein Fluchtgebaren aus.
"Kann es sein, daß du mich am liebsten in den Wind schießen würdest?" frage ich.
"Nein, wie kommst du darauf?"
"Ich will dich nicht immer nur in irgendwelchen Kneipen sehen."
"Ich sage dir, dem-nächst sehen wir uns privat", versichert Rafa.
"Wann soll denn das sein?"
"Warte ab."
Ich nehme an, daß er vermeiden will, sich mir auszusetzen. In der Öffentlichkeit kann er sich mir entziehen, bei mir daheim nicht.
"Wann kommst du denn mal mit ins 'Trauma'?" will ich wissen.
"Nie."
"Warum nicht? Du wolltest doch mit."
"Ist es für dich das Gleiche, ob ich mit ins 'Trauma' komme oder zu dir nach Hause?" fragt Rafa, und seine Stimme klingt fast enttäuscht.
"Nein!" entgegne ich schnell. "Daß du zu mir kommst, ist mir tausendmal wichtiger."
"Na!" sagt er befriedigt. "So, ich muß kurz zur Bar und was trinken."
"Willst du, daß ich mitkomme?"
"Nein."
"Ich will mir aber gerne von dir einen ausgeben lassen."
"Das habe ich doch schon", meint er.
"Ja, aber noch einmal."
"Nein, ich will da alleine hin. Ich komme auch wieder."
"Ah, ja."
Im Gehen sagt Rafa:
"Übrigens - dein Jochen ist auch hier."
"Das ist nicht mein Jochen!"
"Und? Meiner ist es auch nicht."
"Und meiner erst recht nicht!" rufe ich böse.
Ich befürchte, daß ich Rafa zu sehr entgegengekommen bin, als ich ihm vorschlug, mit ihm zur Bar zu gehen. Es könnte ihn stören, daß ich mein Verlangen nach ihm so offensichtlich gezeigt habe. Ich frage ihn also:
"Meinst du, daß es ein Zeichen von Schwäche ist, Gefühle offen zuzugeben?"
"Nein."
"Also ... bis gleich ..."
Er geht.
Nach längerer Zeit komme ich an der Bar vorbei, an der ich mit Rafa gesprochen habe; ich sehe ihn dort sitzen, eng eingerahmt von Dolf und dem rothaarigen Mädchen.
"So vergnügt man sich also", denke ich.
In der Toilette schminke ich mich wie immer sorgfältig nach. Dann komme ich zurück und sehe, daß Dolf, Rafa und das Mädchen mit den langen roten Haaren zu einem der runden Tische beim DJ-Pult gegangen sind. Ich stelle mich so hinter Rafa, daß er mich gegen das Mädchen verdeckt. Rafa nimmt mich recht schnell wahr. Er sieht kurz nach rechts über die Schulter, dann dreht er sich nach links um. Wir sehen uns an, und Rafa dreht sich wieder weg. Dann vergewissert er sich mit dem gleichen kurzen Blick über die Schulter, daß ich noch da bin und wendet sich endgültig mir zu. Das Mädchen entfernt sich; es scheint ungehalten zu sein über Rafas mangelnde Aufmerksamkeit. Rafa stellt sich mit mir an einen anderen Tisch. Dort sagt er:
"Ich geh' nur kurz zum Klo; ich komm' gleich wieder ... echt ..."
Ich bringe meine Tasche fort. Dann nehme ich mir eins von den Ankündigungszettelchen für eine Wave-Nacht, die auf dem Tisch liegen. Ich falte ein Schiffchen daraus. Es gelingt mir ohne Schwierigkeiten, obwohl ich die Handschuhe anbehalte. Ich werde eben fertig, da kommt Rafa zurück. Ich setze das Schiffchen auf die Tischplatte. Rafa und ich stehen uns gegenüber. Unsere Blicke umklammern einander.
"Was 's' los?" fragt er.
"Wieviele Leute gibt es, denen du diese Frage stellst?" nehme ich Bezug auf die Unterhaltung, die er am vergangenen Samstag mit dem rothaarigen Mädchen geführt hat.
"Nur einen, bei dem es mich interessiert", antwortet er. "Also, sprich."
"Du mußt raten."
"Ich rate nicht."
"Kannst du's denn nicht sehen?" frage ich.
"Nein."
"Bist du blind?"
"Nein."
"Was bist du dann?" frage ich.
"Ich weiß es nicht", erwidert Rafa. "Also, was - ist - los?"
"Kannst du's nicht merken?"
"Nein."
Inzwischen habe ich ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und mit der anderen seinen Arm gegriffen. Rafa läßt mich eine Zeitlang gewähren, dann wendet er sich zur Seite und sagt:
"Mädchen ... tu' mir einen Gefallen und bleib' wenigstens auf deinem Niveau."
"Meinst du denn, daß du unter meinem Niveau bist?"
"Das sind zwei Paar Schuhe!" ruft er und läuft die unterste Stufe des Podests entlang, das in der "Halle" als Bühne dient.
Ich gehe ihm zögernd ein Stück hinterher. Da dreht er sich um. Ich halte inne. Er sieht mich aus geringer Entfernung an, lächelt und schüttelt den Kopf.
"Nein, nein", will ich ihm bedeuten, "ich laufe dir nicht nach; das brauchst du nicht zu denken."
Rafa wechselt die Richtung. Er setzt sich in eine menschenleere Ecke, auf die Stufen neben dem Hallenteich. Ich lasse mich gerade dort nieder, wo ich bin - auf den Stufen des Podests. Rafa tut unbeteiligt und guckt in die Luft. Ungefähr alle zehn Sekunden dreht er wie beiläufig den Kopf und sieht durchdringend zu mir herüber. Das Spiel hat ein Ende, als "Schlachtreif" vom Liederkranz beginnt. Beide gehen wir zur Tanzfläche, jeder auf einem anderen Weg. Rafa meidet nun streng meine Nähe und jeden Sichtkontakt. Toro kommt. Ich nehme ihm erst einmal das Glas Cola aus der Hand, das erträgt, und trinke davon. Ich halte das Glas noch, da sehe ich, wie Rafa mit seinen Begleitern zum Ausgang geht. Er sieht mich an, ohne stehenzubleiben. Ich reiche Toro das Glas, doch ehe er es nimmt, ist Rafa fort. Während ich noch überlege, ob ich Rafa folgen soll oder nicht, verschwindet Toro ebenfalls. Ich nehme an, daß Rafa sich nicht verabschieden wollte. Toro jedenfalls verabschiedet sich, als er geht - mit einem Griff um meine Taille.
Rafa ist der erste Mensch, mit dem ich Wortgefechte austragen kann, wie ich sie seit über zwanzig Jahren erfinde. Diese Wortgefechte sind Rollenspiele. Sie dienen dazu, ein inneres Spannungsfeld auf eine zwischenmenschliche Ebene zu bringen. Auf diese Weise wird auch eine unbewältigte Furcht oder Verletzung greifbar und damit beherrschbar.
Für mich muß es unbedingt Teil einer Beziehung sein, sich gegenseitig zu erforschen. Rafa ist imstande, Tiefen in mir zu erreichen, von denen sonst keiner etwas ahnt. Umgekehrt spreche ich Bereiche seiner Persönlichkeit an, die außer mir vielleicht niemand wahrnimmt. Ich habe den Eindruck, ich durchsetze ihn und er mich.
Ich rechne jederzeit damit, Rafa zu verlieren. Deshalb trauere ich um ihn, seit wir uns näherkamen - seit Anfang Februar.
Rafa spielt geschickt mit meiner Furcht, zurückgestoßen zu werden. Er hat sie wohl erkannt, weil er sie selber kennt, und er weckt sie gezielt.
Weshalb holt er diese Furcht in mir an die Oberfläche?
Er könnte es tun, weil es ihn erheitert, zu quälen. Er könnte es tun, um sich an fremdem Leid zu vergnügen, das ihm Freude bereitet, weil es nicht seins ist.
Sein Blick paßt jedoch nicht zu einem Sadisten. Der Blick eines echten Sadisten oder Sadomasochisten - wie der Sockenschuß einer ist - stößt mich zutiefst ab. Er widert mich an. Er läßt mich erstarren. Er bringt mich in Verteidigungsbereitschaft.
Rafas Blick hingegen bannt mich. Er hält mich fest. Er bewegt mich. Er bringt mich dazu, nach Rafa zu greifen und ihn zu umarmen.
Mir ist aufgefallen, daß die Sprüche, die Rafa mir als Beleidigung verpackt entgegenschleudert, in Wahrheit zynische Anspielungen auf meine Sehnsüchte und Befürchtungen sind. Der Humor, der in ihnen steckt, ist trocken wie Marsstaub und oft kaum als Humor zu erkennen. Ich finde das Unernste in den Sprüchen nicht selten erst dadurch, daß ich mich dabei erwische, wie ich tagelang über sie lachen muß.
Constri meint, es wäre nichts für sie, verschlüsselte Gespräche zu führen. Rollenspiele sind ihr zu anstrengend. Für mich sind Rollenspiele jedoch eine ersehnte Herausforderung. Was stelle ich eigentlich mit Rafa an ...?
Es kann sein, daß Rafa nicht gewollt werden will. Und ich will ihn.
"Warum kümmerst du dich um mich?" hat er gefragt, als sei es etwas Unerhörtes, sich um ihn zu kümmern.
In seinem Lächeln finde ich abgrundtiefen Ernst und endlose Trauer. Und ich finde das immer wieder darin.
Ich kann mich irren in Rafa, aber aus Erfahrung weiß ich, daß mein Unterbewußtsein sicherer urteilen kann als mein bewußter Verstand. Ich habe demnach entschieden, mich in dem schwierigen Fall Rafa ausschließlich von meinem Unterbewußtsein leiten zu lassen. Und das treibt mich beständig zu Rafa hin.
Auch wenn ich es mit meinem Verstand unmöglich nachvollziehen kann - Rafa muß mich wohl lieben, er muß wohl; ob er es zulassen kann, ist eine andere Sache.
Um Zweifel aus dem Weg zu räumen, will ich Rafa dazu bewegen, sich mir gegenüber eindeutig zu äußern. Eindeutig will er aber nicht werden. Er gibt sich abweisend, und gleichzeitig sieht er mich mit einem durchdringenden Blick an und stellt mir unaufhörlich dieselben Fragen.
Carl hat erzählt, Rafa sei am Samstag nach der Veranstaltung in der "Halle" im "Elizium" gewesen - allerdings nicht sehr lange. Rafa soll nichts Verdächtiges gemacht haben.



Am nächsten Samstag ging ich mit Merle Bailey's trinken und dann ins "Elizium". Ich legte meine Sachen aufs Podest und stellte mich vor die Treppe. Eine Hand langte nach meinem Rücken. Als ich mich umdrehte, stand da Rafa und zog mich mit der einen Hand zu sich heran. Ich griff nach seinen Schultern. Kopfschüttelnd schaute ich ihm ins Gesicht und sagte:
"Du hast dich ja immer noch nicht rasiert."
"Tu' ich auch nicht", erwiderte Rafa frech. "Ich sage ja, ich laß' mir einen Vollbart wachsen."
"Oh, nein. Oh, nein ... Was soll das? Was soll das? Ich habe das Gefühl, du willst mich damit einfach nur ärgern."
"Nein. Warum?"
"Ich kann dann dein Gesicht nicht mehr sehen."
"Ich bitte dich. Ich darf mir doch einen Bart wachsen lassen, wenn ich das will."
"Du willst das. Aber ich will das nicht. Und du wußtest, ich will dich fotografieren."
"Fotografieren?" staunt Rafa.
"Sicher. Und das geht jetzt nicht mehr."
"Tja."
Er lächelt.
"Du machst das an dir unsichtbar, was ich an dir so mag", deute ich sein Verhalten.
"Und, das wäre?" fragt er.
"Dein Face. Dein Gesicht."
Er streichelt meine Wange. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter. Er riecht immer noch auf irgendeine Art nach Patchouli, Weihrauch und Sandelholz.
"Sag' mal - warum hast du dich am Freitag eigentlich nicht verabschiedet?" möchte ich wissen.
"Ich leg' auf sowas keinen Wert", antwortet Rafa.
"Ich leg' aber Wert auf sowas", gebe ich zurück.
"Ich nich'."
"Ich aber wohl."
"So", sagt Rafa schließlich, "ich muß nochmal hoch. Zum DJ. Musik."
"Zum DJ. Musik."
Ich erzähle Talis, daß Rafa sich immer noch nicht rasiert hat.
"Wie Kuhn", sagt Talis.
Kuhn hat sich seit vielen Monaten nicht mehr richtig rasiert ...
Ich gehe auf die Tanzfläche. Bald kommt "Schlachtreif" und damit Rafa. Er tanzt rechts neben mir. Links neben mir tanzt das Mädchen mit den langen roten Haaren. Als das Lied zuende ist, geht Rafa zu einer Box, auf der er sein Bierglas abgestellt hat.
"Was 's' los?" fragt er, als ich auf ihn zukomme.
Ich zögere.
"Heute kannst du mir nicht viele Fragen stellen", kündigt Rafa an. "Ich bin nämlich völlig sexsüchtig."
"Was bist du?"
"Sexsüchtig."
"Hast du denn schon ein Opfer gefunden?"
"Nnein."
Rafa geht zum Angriff über.
"Nimmst du die Pille?" fragt er mich.
"Solche indiskreten Fragen beantworte ich nicht."
"Das ist eine Frage, die notwendig ist zum Erreichen meines Ziels", erklärt er.
Dann fragt er laut:
"Also - nimmst du die Pille?"
"Die Frage beantworte ich nicht."
Ich habe mit einer Hand seinen Kragen und mit der anderen seine Schulter gefaßt.
"Nimmst du die Pille?" fragt Rafa noch lauter. "Trägst du Unterwäsche?"
"Auf solche Fragen gibt es keine Antwort."
"Ich kann noch weitermachen. Nimmst du Binden oder Tampons? Hast du die Regel?" fragt Rafa gleichbleibend laut.
"Warte ... warte ..."
"Also: Binden oder Tampons?"
"Halt' deine Klappe ..."
"Tampons, nicht? Also Tampons."
"... du mieses Stück ..."
"Tampons, das hab' ich schon mal 'raus."
"Ich habe dir auf diese Frage keine Antwort gegeben."
"Trägst du Unterwäsche? Hm ... warum solltest du eigentlich keine anhaben? - Hast du die Regel? Hast du nicht die Regel?"
Ich halte Rafa den Mund zu. Er wirft den Kopf zurück.
"Also - nimmst du die Pille?" ruft er. "Du nimmst also nicht die Pille? Wann hattest du zum letzten Mal Geschlechtsverkehr?"
"Diese Frage wird selbstverständlich nicht beantwortet."
"Hattest du überhaupt schon mal Geschlechtsverkehr?"
"Diese Frage wird nicht beantwortet."
"Läßt du dich gerne fesseln?"
"Nein."
"Das ist gut", meint Rafa und fragt weiter:
"Wie oft onanierst du in der Woche?"
"Diese Frage wird selbstverständlich mit 'überhaupt nicht' beantwortet."
"Bist du prüde?"
"Nein", sage ich.
"Du bist prüde."
"Nein."
"Wie oft onanierst du?"
"Überhaupt nicht."
"Gar nicht?"
"Ich ... bin nicht pervers."
"Das ist doch nicht pervers", findet Rafa. "Das ist etwas völlig Natürliches."
"Für euch Jungen schon."
"Für Mädchen aber nicht."
"Nein."
"Willst du mit nach draußen kommen?" schlägt Rafa vor.
"Wenn du da deine Fragen schreist, hört sie jeder", wende ich ein.
"Da draußen muß ich nicht schreien. Da flüstere ich", verspricht er.
"Am Ende schreist du doch."
"Hast du Unterwäsche an?" fragt Rafa laut.
"Darauf gibt es keine Antwort."
"Soll ich nachgucken?"
"Dann gibt's was auf die Finger."
"Also, hast du Unterwäsche an?" fragt Rafa wieder. "Ja oder nein?"
"Darauf antworte ich nicht."
"Paß' auf, ich guk-ke nach", warnt er.
"Ich hatte schon einmal vorgeschlagen, daß wir uns prügeln können", erinnere ich ihn.
"Ich schlage niemanden", entgegnet er - wie damals.
Das Mädchen mit den langen roten Haaren kommt und sagt etwas zu Rafa. Es scheint nicht lange stören zu wollen; es geht gleich wieder. Es hat Rafa einen CD-Sampler gebracht, den er einsteckt.
"Wir wollen ein Tape herausbringen", erzählt Rafa.
Mir wird es zuviel mit dem rothaarigen Mädchen.
"Hattest du mit der etwas?" frage ich Rafa.
"Ja, auch schon", antwortet er gespielt beiläufig.
"Wann denn?"
"Ist länger her."
"Wann war das denn genau?"
"Weshalb willst du das wissen?" fragt Rafa, erwartungsvoll lächelnd.
"Ich will sowas wissen", erkläre ich. "Also - was hast du mit der?"
"Das ist unsere Sängerin."
"Ach, ihr habt eine Sängerin."
"Ja."
"Das gefällt mir aber gar nicht."
"Warum gefällt dir das nicht?"
"Es gefällt mir eben nicht."
Ich spiele mit Rafas Arm. Seine Hand liegt auf dem Lautsprecher, und ich streiche mit meiner Wange darüber.
"Liebst du deine Freundin?" frage ich.
Rafa lächelt.
"Ja", sagt er.
"Ist sie auf mich eifersüchtig?" möchte ich wissen.
"Nein."
"Warum nicht?"
"Warum sollte sie?" tut er ahnungslos.
"Wo siehst du sie immer?" frage ich.
"Im Bett."
"Warum kommt sie nicht mit ins 'Elizium', um dich ein bißchen zu bewachen?"
"Die stört das nicht, wenn ich mit anderen Mädchen 'rummache."
"Glaubst du, ich kann eine andere neben mir dulden?"
"Nein", antwortet Rafa und lächelt wieder.
"Du siehst ganz fürchterlich aus", bemerke ich. "Meinst du nicht, daß die anderen das ganz gut lächerlich finden und ganz gut über dich lästern?"
"Ich meine, daß mir das ganz egal ist, was die anderen finden und sagen."
"Ich finde das so fürchterlich, daß du dich nicht rasierst."
Rafa streichelt meine Wange.
"Du hast dich aber gut rasiert", lobt er.
"So, wie dein Gesicht jetzt ist, ist es für mich nicht verwendbar", sage ich.
"Nicht verwendbar", wiederholt er.
"Ich kann es nicht mal anfassen", beschwere ich mich.
Rafa beugt sich zu mir und fragt in einem bittenden Tonfall:
"Darf ich mit dir schlafen?"
"Diese Frage beantworte ich nicht."
"Warum nicht?"
"Diese Frage beantworte ich nicht."
"Warum willst du nicht?"
"Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht will."
"Doch", meint Rafa. "Wenn du wollen würdest, dann hättest du gesagt: ja."
"Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht will. Es war eine Null-Antwort."
"Das gibt es nicht. Entweder du willst - oder du willst nicht. Warum willst du nicht?"
"Es kommt vor, daß man etwas will und nicht will. Das sind Grenzfälle. Sie kommen vor. Sie kommen durchaus vor."
"Ich will heute mit dir schlafen", sagt Rafa fordernd, wie ein Kind, das beim Einkaufen Bonbons haben will.
"Nun, nun. Nicht mit der Tür ins Haus fallen", mahne ich. "Du kannst nicht immer alles gleich haben, was du haben möchtest."
"Ich kann", sagt Rafa.
"Du mußt dich auch nach den anderen richten."
"Das muß ich gar nicht", findet Rafa.
"Und was ist, wenn die nicht so wollen wie du?"
"Die haben zu wollen, was ich will."
"Du entscheidest also alles."
"Ich ent-scheide alles", bestätigt Rafa.
Er zieht mich an sich.
"Willst du mit mir schlafen?" fragt er.
"Diese Frage wird nicht beantwortet", entgegne ich.
"Warum?"
"No answer."
"Darf ich dich am ganzen Körper ablecken?"
"Das ist schon was anderes", meine ich. "Allerdings - nicht amganzen Körper."
"Wo denn?"
"Nicht überall."
"Also, ich will, wenn, dann überall. Ich will hemmungslos sein können."
"Es geht nicht überall."
"Darf ich dich ausziehen?" fragt Rafa artig.
"No answer."
"Paß' auf, wir gehen 'rüber in die Damentoilette, und da ziehe ich dich ganz langsam aus", sagt er sehnsuchtsvoll und kuschelt sich an mich.
"Nicht in der Toilette", wehre ich ab. "Das ist doch widerlich. Das ist unwürdig."
"Wo denn?"
"Das lasse auf dich zukommen."
"Wir gehen 'rüber und schließen uns ein."
"Also - so ein Mädchen bin ich nicht, das man mal so eben ... da liegst du falsch. So ein Mädchen bin ich nicht. Mich kann man nicht mal so eben ..."
"Willst du bei mir vorbeikommen?"
"Erst müßtest du zu mir kommen", lege ich fest. "Und dich rasieren."
"Das kann ich ja machen."
"Ah, so ist das also."
"Darf ich dann mit dir schlafen?"
"Hör' zu, das ist nicht so einfach."
"Das ist total einfach", meint Rafa. "Du verkomplizierst das."
"Nein."
"Doch."
"Ich mach' das nicht kompliziert", widerspreche ich. "Das ist kompliziert."
"Du machst das kompliziert."
"Und du bist kompliziert. Was ich mit dir schon erlebt habe ... Zweimal hast du mich versetzt. Und als du die Gelegenheit hattest, zu mir zu kommen, hast du sie nicht genutzt."
"Ich hatte die Gelegenheit nicht", rechtfertigt sich Rafa. "Ich konnte wirklich nicht."
"Das glaube ich dir nicht. Dann hättest du mich nämlich angerufen."
"Ach ... du müßtest mir übrigens nochmal deine Nummer aufschreiben."
"So, so. Hat man die wieder verloren?"
"Ich habe sie nicht verloren", behauptet Rafa. "Ich finde sie nur einfach nicht."
"Hat man immer noch kein Adreßbuch?"
"Nein."
"Will man sich denn endlich eins zulegen?"
"Nein."
"Es ist ein Unding, daß du meine Nummer andauernd verlierst", tadele ich. "Auf so eine Nummer paßt man auf. Die legt man sich unters Kopfkissen."
"Ich tu' sie nicht unters Kopfkissen."
"Und dann schreib' ich sie dir auf, und du verlegst sie wieder."
"Nein. - Also, ich darf mit dir schlafen."
"No answer."
"Du wirst sehen, ich bombardiere dich jetzt mit Fragen, so lange, bis du mir diese Frage beantwortet hast", droht Rafa.
Und er ruft laut:
"Hast du Unterwäsche an?"
"Wie alt bist du?" frage ich zurück.
"Binden oder Tampons?" ruft Rafa.
"Wer ist deine Freundin?" rufe ich.
"Stehst du auf Oralverkehr?" ruft er.
"Igitt."
"Stehst du nicht auf Oralverkehr?"
"Ich sagte: Igitt."
"He ... wir haben das Jahr 1993", sagt Rafa. "Da will ich dich nur dran erinnern. - Wann hattest du zum letzten Mal Geschlechtsverkehr?"
"No answer. Ich beantworte jede Frage einmal, und die Antwort bleibt dann immer gleich."
"Hattest du schon mal Geschlechtsverkehr?"
"Ich sagte, du kriegst keine Antwort ... jetzt reicht's ja aber wohl ..."
"Ah, ich hab' dich aus der Fassung gebracht!" ruft Rafa begeistert. "Eins zu null für mich! Ou, Mann, dich kann man so leicht aus der Fassung bringen ..."
Ich ziehe an seinem Pferdeschwanz herum und blicke in das lächelnde, ungeschminkte Gesicht.
"Warte, bald gibt's eins zu null für mich", kündige ich an. "Ich hatte schon soviel Ärger mit dir, jetzt kannst du auch mal ein bißchen Ärger mit mir haben. Du beißt mich doch ganz gerne. Hast du eigentlich schon mal auf Granit gebissen? Du hast dich einmal als trockenes Brötchen bezeichnet. Jetzt kannst du erleben, was ich für ein trockenes Brötchen bin."
"Was sagtest du?" fragt Rafa.
"Ach - ich sag' nichts mehr."
"Das dauert nicht lange", meint er.
"Was dauert nicht lange?"
"Mit dem trockenen Brötchen."
"So sicher bist du dir", stelle ich fest.
"Binden oder Tampons?"
"No answer."
"Nimmst du die Pille?" fragt Rafa. "Welche? Wie heißt sie?"
"No answer."
"Na - wenn du keinen Freund hast, kannst du eigentlich nicht die Pille nehmen", schließt er. "Also nimmst du nicht die Pille. Du nimmst nicht die Pille, hast aber Unterwäsche an."
"No answer."
"Hast du die Regel? Hast du nicht die Regel?"
"No answer."
"Du hast doch die Regel?"
"No answer."
"Wann kommt der Syntax Error?"
"Was für ein Error?" frage ich.
"Na - der Error! Beim Taschenrechner gibt es doch auch den Error. Irgendwann muß er kommen. Also ... ich mach' weiter bis zum Error. Wann hattest du zum letzten Mal Geschlechtsverkehr?"
"No answer."
"Wann hattest du zum ersten Mal Geschlechtsverkehr? Wie war's? Hat's wehgetan? Wer hat dich entjungfert?"
"No answer."
"Hattest du überhaupt schon Geschlechtsverkehr?"
"No answer."
"Du hattest noch keinen?"
"No answer."
"Du hast Angst davor. Warum hast du Angst?"
"Was du annimmst, greift die Sache nicht", erkläre ich.
"Du hast aber Angst", vermutet Rafa.
"So vereinfacht stimmt das in keinem Fall."
"Hm ... du mußt gar nichts sagen, ich komm' so drauf ... Hast du Unterwäsche an? Hast du die Regel? Nimmst du die Pille?"
"Das sind Fragen, die ein Schlachter stellt, dem man ein Tier bringt.
'Ist es gesund? Wie schwer ist es? Was für Fleisch hat es?'"
"Du bist doch auch nur ein Stück Fleisch ..."
"Ich habe auch meinen Willen", gebe ich zu bedenken. "Und hier zählt nicht nur deiner ... Es geht auch nach mir."
"Wie ist das nun, darf ich dich am ganzen Körper ablecken?" will Rafa wissen.
"Frage mein Unterbewußtsein", fordere ich ihn auf.
"Das kann ich nicht fragen", meint er. "Das kannst nur du fragen."
"Ich kann es auch nicht fragen."
"Warum machst du alles so schwer? Es ist doch so einfach."
"Es ist nicht einfach, eben nicht."
"Das liegt aber an dir."
"Das liegt auch an dir", entgegne ich. "Wenn ich das Gefühl habe, daß mich jemand nicht achtet ..."
"Ich achte fast jeden."
"Das Gefühl habe ich nicht."
"Dein Gefühl täuscht dich."
Ich baue mich vor Rafa auf. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und sehe ihm gerade ins Gesicht.
"Glaube nicht, ich hätte keinen Willen", sage ich langsam und warnend. "Glaube nicht, ich hätte kein Format. Glaube nicht, ich hätte keine Würde."
"Ich schocke dich heute nur!" ruft er. "Ich fordere dich. Ich fordere dich heraus."
"Du sagtest schon, daß es eine gewisse Motivation braucht, um jemanden zu durchschauen."
"Und das klappt so geil. Das macht so einen Spaß!" schreit Rafa und schüttet sich aus vor Lachen.
Vornübergebeugt steht er mitten auf der Tanzfläche. Als er wieder Atem holen kann, fragt er weiter:
"Nimmst du die Pille? Binden oder Tampons?"
"Rafa ... jetzt reicht's mal."
"Hetty ... geh'n wir 'raus mit'nander?"
Ich habe ihn zur Ordnung gerufen, indem ich ihn mit seinem Namen angesprochen habe. Flugs nennt er auch mich bei meinem Namen. Er läßt wohl nichts auf sich sitzen.
"Murderous" von Nitzer Ebb beginnt. Rafa weiß anscheinend, daß ich zu diesem Stück tanze. Er scheint auch zu wollen, daß ich tanze. Er scheint meine Unruhe zu bemerken. Bevor er sich entfernt, sage ich zu ihm:
"Wenn du zu mir kommen willst, mußt du mich anrufen. Die Nummer schreibe ich dir dann noch auf."
Als ich zu "Devil Dance" von den Invisible Limits tanze, steht Rafa wieder neben dem Lautsprecher und sieht zu mir herüber. Ich muß kichern. Rafa beginnt eine Unterhaltung mit Sanna. Ich gehe nach dem Stück nicht zu ihm. Er beendet das Gespräch und geht von seinem Platz weg. Vor mir bleibt er kurz stehen.
"Binden oder Tampons?" fragt er.
"No answer", entgegne ich. "Bist du nun am 21. in der 'Halle'?"
"Ja. Da treten wir auch auf."
Ich tanze weiter. Etwas später streicht Rafa an mir vorbei und trinkt an einem runden Tisch mit einem Jungen Bier. Ich werde durstig und hole mir ein Glas Cola. Ich stelle es auf Rafas Tisch ab. Ich stehe hinter Rafa und blicke zur Tanzfläche. Nach einer Weile dreht er sich um und fragt:
"Willst du mitkommen - ein bißchen nach draußen?"
"Ja."
"Dann - ich gehe noch kurz aufs Klo, dann können wir auch gleich."
Ich tanze zu "Mental Distortion" von Frontline Assembly. Rafa ist danach noch nicht wieder da. Ich finde ihn im Vorraum im Gespräch mit Sanna. Ich stelle mich etwas abseits hinter ihn und schweige. Rafa dreht sich nach einiger Zeit um und fragt:
"Was ist?"
"Was hattest du eben gesagt?" erinnere ich ihn an seinen Vorschlag.
"Wir wollten 'rausgehen", sagt er, als sei er eben aus einem tiefen Schlaf erwacht. "Also, komm'."
Ich habe mir nichts übergezogen und nehme auch nichts mit. Ich habe nur mein Kleid mit den Spitzenärmeln an und darunter noch nicht einmal ein Hemd.
Rafa und ich gehen ein Stück die Straße aufwärts. Vor einem Betonhochhaus bleibt Rafa stehen. Wir blicken uns abschätzend in die Augen.
"Nun, was is'?" fragt er.
"Was is'?" frage ich.
Er beugt sich zu mir.
"Sag', was willst du?" drängt er. "Sprich."
"Das mußt du herausfinden."
"Das kann ich nicht. Sprich - was willst du?"
"Wenn ich's dir sagen könnte, woher wüßtest du, daß es die Wahrheit ist? Worte können Lügen sein. Blicke lügen weniger."
"Sei einfach ehrlich, Mädchen."
"Man muß nicht immer alles mit Worten sagen. Außerdem meintest du selber, es gehöre auch immer eine gewisse Motivation dazu, wenn man jemanden durchschauen will."
"Nun. Tu', was du willst", fordert er mich auf. "Tu' einfach, was du willst."
"Das tu' ich."
Ich umarme ihn, und er legt auch seine Arme um mich.
"Darf ich mit dir schlafen? Beantworte mir diese Frage", verlangt Rafa.
"Ich kann sie nicht beantworten."
"Warum kannst du sie nicht beantworten?"
"Das herauszufinden ist deine Aufgabe."
"Das ist nicht meine Aufgabe", widerspricht Rafa. "Du mußt es herausfinden."
"Ich kann es aber nicht herausfinden."
"Wie kann man nur etwas so Einfaches so schwierig machen", seufzt Rafa.
"Das ist nicht einfach", entgegne ich. "Das ist sehr komplex."
"Wieder diese Sprache ... diese Miss-Marple-Sprache ... mein Gott, wir sind hier nicht im Krimi ... man muß nicht immer alles durch Fragen auseinanderpflücken."
"Anders läßt sich vieles aber nicht verstehen."
"Vielleicht muß man auch gar nicht immer alles verstehen", meint Rafa. "Man kann etwas nämlich auch durch Fragen zerreden. Immer bringst du Sachen auf eine höhere Ebene, wo sie gar nicht hingehören. Alles mußt du schwierig machen, was so einfach sein könnte."
"Du hast dich aber auch sehr wechselhaft und schwierig gezeigt", wende ich ein.
"Tja. Die Show habe ich nur deinetwegen abgezogen", behauptet Rafa. "Ist mir gelungen, nicht?"
"Ich weiß immer noch nicht, wie du zu mir stehst."
"Wie ich zu dir stehe?"
"Was du über mich denkst."
"Was ich über dich denke, ist, was du selber weißt, weil es das ist, was du über dich gesagt hast."
"Und, was fühlst du für mich?" frage ich.
"Ich werd' nicht ohne Grund hierher nach draußen gegangen sein mit dir", sagt Rafa ausweichend. "Also, nein ... du stellstdiese Fragen, als hättest du gar nichts gemerkt."
"Also ..."
"Nein, nein, nein, laß' mich ausreden. Du hakst einfach Punkt für Punkt ab, als wolltest du einen Fall aufklären. Das ist hier kein - kein - Detektivspiel. Das ist total daneben. Das ist bescheuert. Und das habe ich dir zu zeigen versucht ... durch einen ganz, ganz sanften Tritt in den A... Du verläßt dich nicht auf deine Gefühle. Das wirkt so dämlich ..."
"Manchmal kommt man eben nur durch Fragen einer Sache näher", halte ich dagegen. "Sie ist sonst nicht anders zu verstehen."
"Manche Sachen soll man gar nicht auf diese Art verstehen", meint Rafa. "Das wirkt so völlig gefühllos, die Fragerei."
Ich hole tief Luft.
"Ich stelle dir solche Fragen nicht ohne Grund", erkläre ich. "Ich würde nicht jeden Hinz und Kunz nach soetwas fragen. Ich frage nur, weil ich einen begründeten Verdacht habe, den ich bestätigt haben will."
Rafa zieht mich weiter, um die Ecke, in eine größere Straße.
"Oder - hast du schon mal gesehen, wie ich im 'Elizium' mit einem Typen 'rumgemacht habe?" fahre ich fort.
"Nein", sagt Rafa.
"Siehst du. Und wenn ich so etwas mache, dann ist das ein Ausnahmezustand. Das ist nie harmlos."
Inzwischen hat Rafa meine Hand mit seiner umschlossen, indem er seine Finger zwischen meinen hindurchgeschoben hat. Mit meinem freien Arm umfasse ich seinen, und ich lege meinen Kopf auf seine Schulter. So gehen wir von da an fast immer.
Als Rafa wieder über meine Wange streicht, sage ich zu ihm:
"Siehst du - das würde ich bei dir auch gerne machen. Aber du hast dich ja nicht rasiert."
"Ist 'n guter Schutz, nicht?" freut er sich. "So kommt man sich nie zu nahe."
Ein paar Meter weiter fragt er:
"Wie kamst du überhaupt auf mich?"
"In SHG. fiel ein Satz", erzähle ich. "Du sagtest:
'Über mich halte ich fast immer die Klappe.'
Da hat es 'krach' gemacht, und es war um mich geschehen. Da hattest du mich in der Tasche."
"Das versteh' ich nicht", meint Rafa. "Das war lediglich eine Aussage von mir über mich."
"Das hat aber etwas in mir ausgelöst. Ich kann's doch nicht ändern, wenn es etwas in mir auslöst."
"Ich halte über mich meistens die Klappe, weil ich mit den Menschen schlechte Erfahrungen gemacht habe."
"Ich habe mit den Menschen auch schlechte Erfahrungen gemacht."
Rafa zieht mich etwas fester zu sich heran.
"Dann haben wir etwas gemeinsam", sagt er. "Wie war das mit deinen Eltern? Die sind geschieden, nicht?"
"Ja, aber erst seit '86."
"Und was war vorher?"
"Streit. Streit. Ärger. Nerverei."
"Du hast einen Knacks", befindet Rafa.
"Wir haben beide ...", will ich ergänzen.
"Wie kam der zustande?" fragt er weiter, ohne mich ausreden zu lassen.
"Es ist etwas passiert, das liegt ungefähr fünfundzwanzig Jahre zurück", beschreibe ich meine Vermutungen. "Ich kann mich also nicht daran erinnern, wer was mit mir gemacht hat."
"War's dein Vater?"
"Ich weiß nichts mehr davon. Ich weiß nur, daß etwas passiert ist."
"Es kommt eigentlich nur dein Vater infrage", meint Rafa. "Die Mutter nicht, die Mutter liebt einen immer. Hat dein Vater dich vergewaltigt?"
"Körperlich nicht. Wenn, dann seelisch."
"Geistig."
"Seelisch. Er muß mich gedemütigt und verletzt haben. Ich kann es mir nur so erklären. Seitdem habe ich ein ausgeprägtes Gefühl für meine Menschenwürde entwickelt. Ich bin bereit, mich zu verteidigen bis zum bitteren Ende."
Wir kommen nach links in eine Querstraße, eine Parallelstraße zu der, in der das "Elizium" liegt. Vor der Stufe in einem Hauseingang bleibt Rafa stehen.
"Nimm' Platz", fordert er mich auf.
"Setzt du dich zuerst?" frage ich. "Ich möchte mich auf dich setzen. Das ist dann nicht so kalt."
Rafa kommt meinem Wunsch nach. Ich sitze wirklich sehr gerne auf ihm. Ich spiele mit seiner Samtmanschette und mit seinem Kragen. Unter der Manschette fühle ich die Uhr, die er nach innen trägt.
Wir sehen uns in die Augen.
"Nun sag' - was willst du?" fragt Rafa ratlos.
"Das mußt du herausfinden."
"Nein, das kann ich nicht", weist Rafa die Verantwortung vonsich. "Du mußt es selbst herausfinden. Denk' du doch erstmal drüber nach."
"Was glaubst du, wie oft ich darüber nachgedacht habe. Und ich bin immer zu dem Schluß gekommen, daß ich selber nicht darauf kommen kann."
"Du kannst."
"Was ich will, weiß nur mein Unterbewußtsein", schiebe ich ebenfalls die Verantwortung von mir. "Du mußt dich mit meinem Unterbewußtsein in Verbindung setzen, um es herauszufinden. Und das übernimmt nur dann die Führung, wenn mein logischer Verstand ausgeschaltet ist. Das geschieht etwa im Traum."
"Träume sagen nichts", meint Rafa.
"Träume sagen sehr viel", widerspreche ich. "Ich höre auf sie."
"Kannst du deine Träume beeinflussen?"
"Nein, das kann ich nicht."
"Siehst du - ich kann's."
"Die andere Möglichkeit, auf die mein Unterbewußtsein sprechen kann, sind körperliche Reaktionen, die nicht der Willkür unterliegen", erzähle ich weiter. "Zum Beispiel sind das diese Bauchschmerzen ... ich meine, im Moment habe ich sie nicht, aber ich hatte sie schon einige Wochen lang. Sonst können das auch Kopfschmerzen sein - und alles mögliche andere. Das heißt dann immer, daß mein Unterbewußtsein mich warnen will. Und ich richte mich danach, soweit ich kann. Ich höre auf mein Unterbewußtsein. Und mein Unterbewußtsein sagt mir, daß ich nicht prüde bin."
Rafa hält sein geöffnetes Portemonnaie in der Hand.
"Was ist denn das eigentlich, dein Unterbewußtsein?" fragt er.
"Das ist in mir, und das ist mein eigentliches Ich", gebe ich zur Antwort. "Das ist immer klüger als mein Verstand. Das liegt richtig."
"Das kann nicht sein. Dein Unterbewußtsein kann höchstens zu fünfzig Prozent richtig liegen. Du bist doch nicht nur dein Unterbewußtsein. Dein Bewußtsein und dein Unterbewußtsein, die bilden doch eine Einheit."
"Ein Zusammenspiel."
"'Einheit' - das trifft's noch besser; laß' das mal so stehen."
"Es war immer richtig, wenn ich auf mein Unterbewußtsein gehört habe", beschreibe ich meine Erfahrungen. "Und ich richte mich immer danach, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Meinen Verstand kann ich dann vergessen."
"Wie - findest du, das oben, dein Bewußtsein, dein Verstand, das zählt gar nichts?" fragt Rafa entgeistert. "Findest du, du bist Abfall?"
"Kein Abfall. Ein Sonderfall."
"Aha", notiert Rafa. "Ein Sonderfall."
Er greift in seine Innentasche.
"Zigaretten ...", sagt er. "Ich muß unbedingt mal eben da 'rüber und Zigaretten holen. Immer, wenn's ans Herz geht, brauch' ich Nikotin."
Er rennt über die Straße. Ich stelle fest, daß mir seine Bewegungen schon sehr vertraut sind. Und ich mag sie sehr gerne. Ich gehe vor zum Bordstein und betrachte Rafa.
"Du kannst drüben bleiben!" ruft er. "Ich bin sowieso gleich wieder zurück!"
"Wenn er sich nur rasiert hätte", denke ich. "Er hat so ein niedliches Gesicht. Weiß er das gar nicht zu schätzen?"
Als Rafa vor dem Automaten steht, wirft er die Arme in die Luft.
"Sch...", macht er. "Immer, wenn ..."
Er sieht mich hilflos an.
"Wo sind hier noch Zigarettenautomaten?" fragt er.
"Wir suchen", sage ich und komme auf seine Straßenseite.
Er greift wieder nach meiner Hand und ich nach seinem Arm.
"Zeige Gefühle, Mädchen", bittet er. "Dann gibt's Kekse."
"Kekse?"
"Dann gibt's die offene Tür."
Wir gehen weiter die größere Straße abwärts.
"Wenn dein Unterbewußtsein sagt, mach' das, dann machst du das?" fragt Rafa.
"Ja."
"Bist du die Sklavin deines Unterbewußtseins?"
"Ja."
"Und was will dein Unterbewußtsein jetzt?"
"Daß ich tue, was ich tue", sage ich und kuschle mich noch enger an ihn.
"Und willst du das auch?" möchte er wissen.
"Ja."
"Dann ist ja gut."
Nach kurzem Schweigen spreche ich ein neues Thema an:
"Du hast mich in der 'Halle' immer wieder danach gefragt, was ich will. Einige Zeit vorher hast du noch gemeint, du wüßtest, was ich will. Wie ist das in Einklang zu bringen?"
"Ich bin nicht in Einklang zu bringen", erwidert Rafa.
Wir kommen an eine Kreuzung. Rafa greift meine Hand fester und rennt mit mir über die Straße. Dann gehen wir über einen Hof und kommen an eine Schranke. Rafa stellt mich neben sich.
"Moment", sagt er. "Wir tau-chen."
Als wir unter der Schranke hindurch sind, streckt er den Arm aus und sagt:
"Daa."
Er hat einen anderen Zigarettenautomaten entdeckt.
"Ich bin von den Menschen sehr enttäuscht worden", erzähle ich.
"Ich bin auch von den Menschen sehr enttäuscht worden", sagt Rafa. "Das heißt - sie haben mich nicht enttäuscht; sie haben sich einfach normal verhalten."
"So war es bei mir auch. Sie haben mich nicht absichtlich enttäuscht. Sie haben mich enttäuscht, indem sie sich so verhalten haben, wie sie sich anderen gegenüber auch verhalten hätten."
"Ja. Genauso war's. Genauso."
"Seitdem bin ich mißtrauisch."
"Ich bin auch vollkommen mißtrauisch", meint Rafa.
"Ich bin abgrundtief mißtrauisch", sage ich. "Ich traue niemandem und nichts."
Wir stehen vor dem Automaten. Rafa steckt zwei Zweimarkstücke und ein Markstück in den Einwurf, und das Geld fällt durch.
"Oh - Rafa!" ruft er mahnend.
Über dem Einwurf klebt ein Schild mit der Aufschrift:
"Nur 5,-!"
Und dieses Schild hatte er nicht rechzeitig bemerkt.
Rafa ermahnt sich öfter selbst. Ich habe den Eindruck, daß er sich erziehen will. Fehlt ihm ein Mensch, der ihn leitet?
"Ein Fünfmarkstück ... ein Fünfmarkstück ...", sagt er vor sich hin.
Er wühlt in seinem Portemonnaie. Endlich findet er, was er sucht. Er küßt die Münze und zieht sich Zigaretten.
"Bist du ein Computer?" fragt er mich unvermittelt.
"Nein", antworte ich. "Ich bin kein Computer."
"Dann ist gut", zeigt Rafa sich erleichtert.
Wir gehen weiter, und ich fahre fort, Rafa auszufragen:
"Wie ist dein Verhältnis zu deinen Freunden?"
"Zu meinen Freunden?"
"Zu deinen Freunden", wiederhole ich. "Und zu denen, die du so kennst."
"Die ich so kenne ... da gibt es ... so viele, die kann ich nicht zählen. Richtige Freunde habe ich eigentlich nur zwei. Einmal den Dolf - den Kleinen - den kennst du ja schon."
"Ja, den kenne ich."
"Und dann ist da noch einer, der Ken. Das ist auch ein ganz alter Freund von mir."
"Ken ... von dem habe ich schon gehört."
"Durch wen?"
"Ivo erzählte mir von dem."
"Ja - der Ivo kennt den."
"Der Ken soll nur in SHG. leben. Er soll nicht weggehen."
"Ja", bestätigt Rafa. "Ich kenne ihn schon seit dreizehn Jahren. Der und Dolf, das sind alte Freunde, auf die kann ich mich hundertprozentig verlassen. Und die wissen auch, daß sie sich zu hundert Prozent auf mich verlassen können."
"Kennt ihr euch noch von der Schule her?"
"Ja. Sonst sind da noch andere alte Schulkameraden ..."
Wir sind zum Bahnhofsvorplatz gekommen und biegen nach rechts in die Fußgängerzone ein.
"Warum sagst du nicht, ob du mit mir schlafen willst?" fragt Rafa.
"Ich darf nicht", antworte ich. "Mein Unterbewußtsein verbietet's mir."
"Bist du die Sklavin deines Unterbewußtseins?"
"Ja."
"Ist das bescheuert", findet er.
"Ich bin eben kein gewöhnlicher Mensch", meine ich. "Ich folge anderen Regeln als andere."
"Ich will nicht deinen Regeln folgen."
"Das mußt du auch nicht. Du mußt nur hinnehmen, daß ich meinen Regeln folge."
"Dann folge ich ja doch deinen Regeln."
"Soll ich immer deinen folgen?"
Vor einer Betonbrüstung bleibt Rafa stehen und dreht sich zu mir.
"Mädchen", sagt er, "wie wär's, wenn du mal Gefühle zeigst?"
"Tu' ich das eben."
Zögernd lege ich meine Arme um ihn. Er ist ganz starr; er erwidert die Umarmung nicht.
"Und? Wo sind die Gefühle?" fragt Rafa.
"Das sind doch welche."
"Du umarmst mich und zupfst an meiner Jacke herum", stellt Rafa fest. "Gut. Schön."
"Was erwartest du überhaupt?" frage ich aufgebracht. "Soll das echt sein oder nicht? Meinst du, ich verstelle mich?"
"Sei einfach ehrlich. Sprich die Worte aus."
Wir gehen weiter.
"Ich sagte dir schon, ich bin eben kein normaler Mensch", will ich mein unsicheres Verhalten entschuldigen. "Wir beide sind nicht normal."
"Weißt du, was normal ist? Sechs Milliarden Menschen durch einen Fleischwolf gedreht und davon ein Sechsmilliardstel. Das ist normal. In jedem von uns ist etwas Normales. Ein Sechsmilliardstel von uns ist immer normal."
"Ich unterscheide mich mehr als andere."
"He - mit welchem Ufo bist du gelandet?" fragt Rafa, und es klingt, als wolle er mich wecken. "Glaubst du, du unterscheidest dich so sehr?"
"Gefühle ... wie zeigt man bloß Gefühle?"
Es macht die Sache nicht einfacher, daß Rafa selbst erhebliche Schwierigkeiten damit zu haben scheint, Gefühle zu zeigen.
Wir sind in die Nähe einer Treppe gekommen, die in den Teil der Fußgängerzone führt, der unterirdisch verläuft.
"He - wo wollen wir eigentlich hin?" bremst mich Rafa.
"Da lang", sage ich, strebe von der Treppe weg und zeige auf das CITICEN. Das CITICEN ist ein Betonhochhaus mit Geschäfts- und Büroräumen.
"Du frierst bestimmt", meint Rafa.
"Doch, ja."
Während ich noch darüber nachdenke, was dagegen zu tun sei, zieht er seine Jacke aus.
"Hier", sagt er, "das ist die Superjacke. Und du darfst die tragen."
"Ich weiß es zu würdigen."
Er zieht sie mir an.
Die Sachen, die Rafa trägt, sind heute angenehm schlicht. Er hat ein bündchenloses schwarzes Sweatshirt an und eine weite schwarze Hose.
Rafa spricht über sein Verhältnis zum Unterbewußtsein.
"Eine Zeitlang war ich auch zweigeteilt", erzählt er. "Es war nicht ausgewogen. Ich habe auf mein Unterbewußtsein zuviel Wert gelegt. Später habe ich eine Zeitlang zu wenig Wert drauf gelegt. Das war auch nicht gut. Irgendwann habe ich das dann ausgeglichen."
"Ja, ich und die Gefühle", seufze ich, als wir über den Platz vor dem CITICEN gehen.
Es kann halb drei Uhr morgens sein. Fast niemand ist unterwegs.
"Weshalb findest du nun eigentlich, ich sei kein Mensch?" möchte ich wissen.
"Meinst du denn, du bist einer?" fragt Rafa zurück.
"Ich weiß es nicht", antworte ich. "Weshalb findest du denn, du seist keiner?"
"Ich fühle mich nicht als Mensch. Ich will nicht in dieses Schema gepresst werden - alt, jung, männlich, weiblich. Ich mag nicht diese ..."
"Unterteilungen."
"Unterteilungen", nickt er. "Genau. Deshalb fühle ich mich nicht als Mensch."
"Habe ich dich eigentlich schon mal mit Fragen in Verlegenheit bringen können?"
"Nein."
"So, daß du nicht mehr wußtest, was du sagen solltest?"
"Nein. Ich konnte immer rechtzeitig abbiegen. Ich hatte immer eine Retourkutsche parat."
"Da wäre zum Beispiel die folgende Frage ... Es ist gar nicht so, daß ich dein Alter unbedingt wissen will. Es wäre nur ein Hinweis auf ein gewisses Quentchen Vertrauen gewesen, wenn du es mir gesagt hättest."
"Mein Alter sagt überhaupt nichts über mich aus", findet Rafa. "Es ist ohne Bedeutung. Das sagt viel mehr über mich aus, wenn ich es nicht sage. Schweigen sagt oft viel mehr aus als Reden. Wenn ich auf eine Frage nicht antworte, ist das durchaus auch eine Art Antwort."
"Richtig", bestätige ich und fahre fort:
"Du hast kürzlich in der 'Halle' ziemlich aufgebracht gefragt:
'Warum kümmerst du dich um mich?'
Findest du eigentlich, du bist es nicht wert, daß man sich um dich kümmert?"
"Wenn's Leute sind, die mich nicht kennen."
"Dann, findest du, bist du's nicht wert."
"Richtig", sagt er.
Ich nehme an, daß es wieder eine Art von Rafa ist, "abzubiegen".
"Meinst du denn, daß du's an sich nicht wert bist, daß man sich um dich kümmert?" frage ich weiter.
"Wenn Leute mich nicht kennen", beharrt er.
"Wenn sie dich kennen, bist du's aber schon wert."
"Ja."
Wir gehen rechts am CITICEN vorbei.
"In der 'Halle' hast du mich immer wieder danach gefragt, was los sei", sage ich. "Einige Zeit vorher hast du gemeint, du wüßtest über mich schon alles, was du wissen wolltest."
"Fast alles. Ich weiß fast alles über dich, was ich wissen will."
"Und du hast mich in der 'Halle' immer wieder danach gefragt, was ich will. Vorher hattest du gemeint, irgendeiner müsse ja wissen, was ich wolle. Das kannst du dann aber nicht sein."
"Nein, das kann ich nicht sein", stimmt Rafa zu.
Er sieht mir ins Gesicht.
"Was willst du?" fragt er in einem flehenden Tonfall, leise und schüchtern.
"Ich weiß es nicht", gebe ich zur Antwort.
"Du weißt nicht, was du willst?"
"Nein."
"Du weißt es wirklich nicht?"
"Nein."
"Mädchen, wie wär's, wenn du mal Gefühle zeigst?" fragt er und wendet sich enttäuscht ab.
Wir kommen hinters CITICEN. Dort stehen drei Drahtbänke um einen Brunnen, in recht großen Abständen.
"Wo?" fragt Rafa. "Hier, hier oder hier?"
Ich blicke zu einer hin, der nächsten von uns aus.
"Also hier", sagt er.
"Hier", sage ich.
"Nimm' Platz."
Er setzt sich links von mir. Wir sitzen gegenüber der Parfümerie Liebe. Die türkisfarbene Leuchtreklame scheint uns an. Es ist nur das Wort "Liebe" zu lesen. Daß es sich um eine Parfümerie handelt, ist in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Rafa beugt sich zu mir. Wir sinken uns in die Arme.
"Willst du mit mir schlafen?" fragt er leise und süchtig.
"Ich kann diese Frage nicht beantworten."
"Du willst nicht", folgert er. "Warum willst du nicht?"
"Ich kann diese Frage nicht beantworten."
"Du hast Angst. Warum hast du Angst?"
"Das habe ich nicht gesagt."
Er sieht mich an. Sein Gesicht ist so nah an meinem, daß ich es unscharf wahrnehme.
"Was willst du?" kommt es wieder von ihm. "Sprich."
"Ich weiß es nicht."
Ich fange an, ihn zu streicheln und mich an ihn zu kuscheln. Meine Frisur ist mir dabei nicht wichtig. Mit meiner Schminke sieht das anders aus. Ich sehe von unten nach oben in Rafas Augen und frage:
"Ich weiß, das ist unpassend - aber - sind meine Augenbrauen noch o.k.?"
"Ich finde das nicht unpassend; das ist nur eitel. Und Eitelkeit ist nichts Schlimmes."
"Sind sie denn noch o.k.?"
"Per-fekt."
"Schön."
Ich mache weiter. Eigentlich - machen wir weiter.
Ich genieße es, endlich Rafas Körper an mich ziehen zu können, wie ich das will. Ich genieße es, ihm ins Genick zu fassen und seine Hand an meine Wange zu legen. Er ist ganz Erwiderung. Anscheinend kann er sich mir nur deshalb so sehr aussetzen, weil er mir diese Freude im Voraus vergällt hat - durch seine abstoßende Haartracht. Das Gesicht kann ich ihm nicht streicheln. Den Anblick von seinem Profil kann ich nicht in mich aufnehmen. Unter sein Kinn kann ich ihn auch nicht fassen und schon gar nicht meine Wange an seine legen. Stattdessen streichelt er mein Gesicht und greift unter mein Kinn, um meine Augen sorgfältig zu betrachten.
"Vielleicht", denke ich beim Anblick seiner Augen, "macht die Dunkelheit so sympathisch, weil sie die Pupillen weitet."
Rafa hat mich so dicht zu sich herangezogen, daß ich nur ein Auge auf einmal sehen kann.
"Hast du schon mal für jemanden ganz tiefe Gefühle gehabt?" fragt er.
Ich schweige.
"Hast du?" drängt er. "Sprich."
Statt einer Antwort umklammere ich ihn noch fester.
"Zeige Gefühle, Mädchen. Warum zeigst du keine Gefühle?"
"Ich tu's doch."
Ich lehne meinen Kopf an seine Brust. Er seufzt.
"Mädchen ..."
Die Jacke wärmt mich und riecht nach Rafa, und für ihn gilt das Gleiche. Ich vergesse das Aussehen der Jacke. Ich fühle sie nur noch. Ich vergesse sogar für einige Zeit, daß die Jacke nicht mir gehört. Ich habe den Eindruck, um zwölf Jahre zurückversetzt zu sein. Schon damals wünschte ich mir, nachts mitten in der Stadt ein zärtliches Stelldichein zu haben. Draußen sollte es sein und in einer Betonwüste.
"Vielleicht kann ich ja auch nicht lieben", sage ich, in mich hineinhorchend.
"Was?" fragt Rafa entgeistert. "Du glaubst, du kannst nicht lieben?"
"Ach - ich hoffe schon, daß ich's kann."
"Was? Du hoffst nur, du kannst lieben?"
"Ach, ich werd's wohl schon können."
"Du bist dir aber nicht sicher."
"Ich sagte, ich werd's wohl können", beruhige ich ihn. "Ich muß es wohl können."
"Sicher bist du dir aber nicht."
"Ach, ich glaube schon, daß ich's kann."
"He - du klammerst dich so an mich", beschwert sich Rafa.
Ich richte mich auf.
"Magst du das nicht?" frage ich.
"Sicher mag ich das", entgegnet er. "Wer mag das nicht?"
Er langt öfters unter seine Jacke - um mich zu streicheln oder um die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug aus der Innentasche zu nehmen und wieder hineinzustecken. Einmal läßt er auch seine Hand über meinem Brustbein einfach liegen.
"Es ist für mich unmöglich, mir vorzustellen, daß mich jemand lieben kann", sage ich.
"Wenn du glaubst, du kannst es, warum soll's ein anderer nicht können?" fragt Rafa.
"Im Grunde hast du recht", bestätige ich und kuschle mich wieder an ihn. "Es muß wohl möglich sein. Es muß wohl."
Ich suche nach Begründungen für meinen fehlenden Glauben an die Liebe. In Erinnerung an meine Kindheit sage ich:
"Meine Eltern haben mir die Liebe nicht vorgelebt."
"Haben dich deine Eltern nicht geliebt?"
"Doch. Meine Mutter liebt mich, und mein Vater liebt mich. Aber meine Mutter und mein Vater haben sich untereinander nicht geliebt."
"Wie war das denn in der Ehe?" möchte Rafa wissen.
"Schlecht", antworte ich. "Mein Vater ist andauernd fremdgegangen."
"Aah, ja."
"Er war völlig unzuverlässig. Erst hat meine Mutter noch an die Ehe geglaubt. Aber irgendwann hat sie nicht mehr daran geglaubt. Sie ist jetzt mit einem anderen zusammen. Und der ist zuverlässig. Ich meine, ich mag ihn nicht. Aber ich achte es, daß er meine Mutter gut behandelt. Ich kann ihn nicht leiden. Aber er sieht zu, daß er mit mir auskommt. Und ich habe Achtung davor, wenn jemand sich Mühe gibt."
"Ja, ich habe schon verstanden", unterbricht mich Rafa.
"Ich meine - mein Vater liebt uns", fahre ich fort. "Aber dadurch, daß er sich selber nicht für wertvoll hält, behandelt er sich schlecht, und er behandelt auch die schlecht, die ihm nahestehen und sozusagen ein Teil von ihm sind."
"Wer seid 'ihr'?"
"Meine Schwester und ich."
"Ist deine Schwester jünger als du?"
"Ja. Sie ist auch depressiver als ich. Sie gibt leichter auf. Ich bin positiver und draufgängerischer als sie. Dafür ist sie nicht so kaputt wie ich. Ich bin kaputter als sie. Mich hat es schlimmer erwischt."
"Du findest, du bist kaputt?"
"Ja."
Drei Männer kommen vorbei. Einer von ihnen pißt in den Brunnen. In der Stille ist das Geräusch deutlich hörbar.
"Da", sagt Rafa.
"E-hem", sage ich und lache.
"Du hattest doch schon einen Freund", vermutet Rafa.
"Nein", sage ich so nachdrücklich, wie ich kann.
Rafa dreht den Kopf kurz weg und dann wieder her und sagt:
"Laß' uns nochmal das Thema wechseln. Was - war - mit - dem - Jochen?"
"Das fragst du mich mindestens zum fünften Mal", begehre ich auf. "Ich kann nur wiederholen: Da - war - nichts."
"Was heißt 'nichts'?"
"Daß er von mir nicht bekommen hat, was er wollte."
"Und, was wollte er?"
"Was soll er gewollt haben? Was jeder will."
"Und was war das?"
"Stell' dich nicht dumm."
"Was war es?"
"Sex, was sonst? Den wollte er, und den hat er nicht bekommen."
"Warum liebt der dich dann so?"
"Der liebt mich nicht!" rufe ich ärgerlich. "Der kann das gar nicht! Das ist ein widerlicher Sadist!"
"Sadist", sagt Rafa in sich hinein. "Das könnte hinkommen."
"Der Blick, den der hatte", erzähle ich und gucke Rafa an, "der war einfach widerlich und abstoßend."
"Ist mein Blick auch widerlich und abstoßend?"
"Nein, er ist das Gegenteil davon."
Rafa zieht mich wieder an sich.
"Warum hast du es überhaupt so weit kommen lassen?" fragt er.
"Weil ich ein dummes Schaf war, damals", erkläre ich. "Ich hatte eben keine Ahnung."
"Meinst du, weil du kaputt bist, hat sich bei dir nie ... etwas ergeben?"
"So ist es nicht. Ich meine, die Sehnsucht habe ich schon lange, seit '79. Ich habe nur fast nie für jemanden etwas empfunden. Ich kann Gefühle nicht erzwingen. Die müssen kommen. Das erste Mal war es Henk, und der ist schwul."
"Ich war auch mal schwul."
"Du bist es aber nicht geblieben. Henk bleibt es. Der ist achtundzwanzig. Der war immer schwul. Der bleibt es."
"Bei mir ist das nicht eindeutig", sagt Rafa. "Ob ich schwul bin oder nicht, richtet sich bei mir danach, für wen ich etwas empfinde. Wenn ich für jemanden etwas empfinde, ist es mir gleich, ob das ein Mann oder eine Frau ist.- Hast du eigentlich lesbische Neigungen?"
"Zu hundert Prozent nein."
"Nicht."
"Ich bin hundertprozentig hetero."
"Ja, ist schon gut. - Hast du schon einmal jemanden geliebt?"
Ich schweige.
"Du hast? Sprich", fordert Rafa.
Ich schweige und ziehe einmal mehr den festen, schweren, warmen Körper zu mir heran, der ganz in verwaschenes Schwarz gehüllt ist. Es ist für mich unfaßbar schön, Rafa in den Armen zu halten.
"Es geht bei mir immer um Gegensätze in mir", erzähle ich. "Es sind immer zwei Seiten in mir, zwei Hälften. '71 habe ich ein Dialogsystem entwickelt, mit dem innere Auseinandersetzungen auf eine zwischenmenschliche Ebene gehoben werden."
"Was soll denn das?" wehrt Rafa ab. "Das geht nicht."
"Das geht. Ich machte in Gedanken aus mir - aus einer Person - zwei, die jeweils die beiden Hälften verkörpern. So können Konflikte ausgetragen werden. Es ging immer um Vertrauen und Mißtrauen. Einer der beiden übernahm das eine und einer das andere. Ich habe das niedergelegt in der Story ... ich habe es in szenische Darstellungen umgearbeitet. Und das erste Mal, daß ich solche Dialoge in Wirklichkeit führen konnte und nicht nur in Gedanken ... das erste Mal, daß solche Rollenspiele in Wirklichkeit stattfanden ... das war in den Gesprächen, die wir miteinander führen."
"Wir?"
"Wir beide."
"Das ist Blödsinn, das ist unmöglich", meint Rafa. "Das geht gar nicht."
"Es ist so. Es ist wirklich so. Wir führen solche Gespräche miteinander. Wir machen solche Rollenspiele. Das finde ich auch so einnehmend an dir."
"Bin ich dir denn nur wichtig, weil du mit mir auf eine bestimmte Art reden kannst?" fragt Rafa argwöhnisch.
"Oh, nein", sage ich fest. "Ganz sicher nicht. Sicher nicht. Ich weiß, daß du ganz gewollt werden willst, du ganz, nicht nur ein Teil von dir. Das will jeder. Das ist selbstverständlich."
Nach einem Augenblick des Schweigens setze ich hinzu:
"Ich hoffe, ich empfinde für dich so viel, daß es dir genug ist. Und das Umgekehrte hoffe ich auch."
"Mensch, dir ist bestimmt saukalt", sorgt sich Rafa.
"Nein."
"So ein Blödsinn - warum ausgerechnet ich?" fragt Rafa nachdenklich.
"Das habe ich zuerst auch gedacht: so ein Blödsinn, warum ausgerechnet du?" erzähle ich aufrichtig. "Aber das ist kein Blödsinn. Wir haben Gemeinsamkeiten."
"Ich finde Gegensätze viel wichtiger."
"Gegensätze finde ich auch wichtig, aber nicht sie allein. Es geht darum, daß der eine hat, was dem anderen fehlt. Man entwickelt sich aneinander."
"So, jetzt redest du wieder so", unterbricht Rafa. "Jetzt bist du wieder Miss Marple. Zeige Gefühle, Mädchen."
"Was meinst du nur immer damit?"
Wir sehen uns an.
"Sprich die Worte aus", verlangt er. "Sprich sie aus."
Ich schweige.
"Du mußt doch ... ach - jetzt rede ich schon wieder solchen Blödsinn", rügt Rafa sich.
Er sieht hoch zu der Leuchtreklame der Parfümerie.
"'Liebe'", liest er vor. "Warum steht da 'Liebe'?"
"Ach - natürlich!" fällt mir ein. "Das habe ich doch geträumt! Das ist ja genau wie in dem Traum! Vor etwa sechs Wochen habe ich das geträumt. Da sind wir beide zusammen in einen Laden gegangen, wo es Klamotten gab. Ich hatte dich so -" ich lege beide Arme um seine Schultern - "die ganze Zeit. Die Leute haben gegafft und über uns gelästert. Da sind wir 'rausgegangen aus dem Laden, so, wie wir aus dem 'Elizium' 'rausgegangen sind. Und es war nachts, wie jetzt. Und wir kamen an dieser Parfümerie mit dem Schriftzug vorbei. Und ich dachte so bei mir:
'Der Rafa soll man besser nicht hochgucken.'"
"Warum sollte ich nicht hochgucken?" möchte Rafa wissen.
"Solltest eben nicht", weiche ich aus. "So, jetzt siehst du, warum ich auf meine Träume höre - weil sie fast immer die Wahrheit sagen. In einem anderen Traum ... da hattest du die Taschen voller Geldscheine. Und du wolltest mich küssen. Und für jedes Mal hast du an der Kasse im 'Elizium' zehn Mark bezahlt."
Rafa sorgt dafür, daß auch dieser Traum Wirklichkeit wird. Für die Küsse muß er allerdings kein Geld bezahlen.
"Siehst du jetzt, wie das stört, wenn du dich nicht rasierst?" frage ich ihn.
"Ja", stimmt er mir vorsichtig zu.
Dann beißt er mich genußvoll in den Hals. Überhaupt ist er während der gesamten Unterhaltung auf der Bank recht bißfreudig, recht griffig.
"Wie lange ist das schon so?" fragt Rafa schließlich, eng an mich gelehnt.
"Was? - Ach, das", erinnere ich mich. "Das ist so, seit ich in SHG. war."
"Ja?"
"Da fiel dieser eine Satz:
'Über mich halte ich fast immer die Klappe.'
Du brauchtest das nur zu sagen, da war es um mich geschehen. Da hatte ich keine Chance mehr."
"Keine Chance gegen was?" forscht Rafa.
"Gegen meine Gefühle."
"Was für Gefühle?" fragt Rafa nach.
"Zuneigung, was sonst?" antworte ich.
Rafa zieht mich wieder ein wenig fester an sich. Für einen Augenblick höre ich sein Herz; es schlägt recht schnell.
"Innerlich mußte ich von da an immer von dir Abschied nehmen", erzähle ich. "Ich durfte es nicht wagen, damit zu rechnen, daß es mit uns etwas wird - oder mich gar darauf zu freuen. Ich hätte sonst die Enttäuschung nicht ertragen."
"Eigentlich irre, daß wir schon eine Nacht in einem Zimmer verbracht haben", meint Rafa.
"Ja."
"Hast du überhaupt gut geschlafen?"
"Ganz fest", sage ich. "Und im Schlaf ist mir dann bewußt geworden, daß ich dich auch körperlich will. Da habe ich mir erstmal gesagt, ach, das wird ja sowieso nichts."
"Was sollte das denn werden?" fragt Rafa und sieht mich an.
"Das weiß ich nicht genau", muß ich antworten.
"Was willst du?" fragt er leise und flehend. "Sprich. Sprich. Bit-te, sprich."
Er senkt den Kopf, bis er fast meinen Rock berührt. Ich lege meinen Arm um seinen Nacken. Rafa richtet sich wieder auf.
"Sprich", wiederholt er.
Ich umarme ihn und stütze mein Kinn auf seine Schulter.
"Gib' nicht auf", sage ich so schlicht wie möglich.
Ich kuschele mich wieder an seine Brust.
"Dir ist doch kalt", sagt Rafa. "Du zitterst."
"Ja, mir ist kalt - aber ich friere nicht."
"Du verkriechst dich immer so."
Ich setze mich wieder aufrecht hin.
"Gefällt dir das nicht?" frage ich.
"Doch", antwortet Rafa. "Wem gefällt das nicht?"
Dann fragt er sehr leise:
"Liebst du mich?"
"Liebst du mich?" frage ich zurück.
"Sprich", bittet er.
"Sprich", fordere ich ihn auf.
"Du hast Angst", sagt Rafa. "Warum hast du Angst?"
"Du hast Angst", sage ich. "Warum hast du Angst?"
"Mein Gott", tadelt er sich, "jetzt fang' ich auch schon an, so zu reden ..."
Er faßt sich mit einem kurzen Lächeln an die Stirn.
"So zu reden?" frage ich nach.
"Ach, ist egal ...", meint er.
Ich streiche über sein Haar, und er greift wieder fester nach mir. Ich nehme eine seiner Ponysträhnen in die Hand.
"Ist das gefärbt?" will ich wissen.
"Nein, das ist alles Natur."
Rafa hat sich noch etwas überlegt.
"Was denkst du, was ich bin?" fragt er mich aus der Nähe.
"Was denke ich?" suche ich in mir. "Ich sollte es eigentlich wissen. Eigentlich sollte ich es wissen."
Ich senke den Kopf. Rafa hebt mein Kinn in die Höhe. Als er es losläßt, senke ich wieder den Kopf.
"He!" ruft er leise. "Verkriech' dich nicht!"
Er hebt mein Kinn wieder in die Höhe und läßt es nicht los.
"Sprich!" fordert er. "Spri-ch!"
Ich schweige.
"Sprich doch", drängt er. "Bitte. Sprich."
Ich schweige.
Er lehnt sich zurück, gegen die Lehne der Drahtbank.
"Du weißt ja gar nicht, wie gefährlich das für dich ist, was du tust", sagt er traurig und ahnungsvoll. "Du kennst ja meine 'Was kümmert's mich?'-Seite gar nicht. Du weißt gar nicht, wie du mit mir auf die Schnauze fliegen kannst. Du kennst meine schlechten Seiten gar nicht."
"Was sind das für schlechte Seiten?"
"Zum Beispiel - ich bin absolut untreu."
"Aha."
"Aber jetzt nicht, daß du da einen Kult draus machst", will Rafa abschwächen. "Ich bin nicht immer untreu. Ich bin es nur unterbestimmten Bedingungen."
Mit einem "Augenblick ..." legt er seine Beine über meine Knie.
"Geht das so?" fragt er höfllich.
"Ja."
Wir halten uns aneinander fest.
"Wie können wir uns jetzt bloß ineinander verstecken?" fragt Rafa.
"Willst du dich in mir verstecken?" möchte ich wissen.
"Ja."
"Du hattest mir erzählt, als ich bei dir übernachtet habe, sei das ein sicherer Schlaf gewesen."
"Ja", bestätigt er.
"Du warst der Ansicht, ich könnte dich schützen vor deinen Dämonen."
"Ja."
Ich streichle das Bein, das zuoberst auf meinem Rock liegt.
"Da mußt du doch auch schon von mir Zuwendung empfangen haben", vermute ich.
"Das habe ich auch."
"Seit wann eigentlich?"
"Es war auf jeden Fall vorher schon", erzählt Rafa. "So genau weiß ich das jetzt nicht mehr. Da komm' ich nicht mehr drauf."
"Ist ja auch nicht so wichtig. - Was fehlt denn dir eigentlich? Ich meine, du hattest ja gesagt, daß dir etwas fehlt."
"Mir fehlt etwas. Aber das zu erklären ist kompliziert und braucht Zeit. Es dauert bestimmt eine halbe Stunde."
"Dann nimm' dir die halbe Stunde."
"Ach - ich kann das jetzt nicht. Nicht jetzt."
"So, es gibt also doch etwas, worüber du nicht einfach so frei sprechen kannst."
"Ja", gibt Rafa zu.
Dann will er sich mit mir verabreden.
"Wir wollten uns sehen", sagt er, "bei dir ... wann machen wir das?"
"Du sagst, du kannst nie in der Woche."
"Stimmt. Das wäre schlecht. Ich muß nämlich dann immer am nächsten Morgen ar-bei-ten. Aber am Donnerstag ist Himmelfahrt. Da ginge Mittwoch."
"Das ginge von mir aus auch. Ich muß nur vorher noch die Spuren von Constris Dreharbeiten beseitigen. Und die dreht bis mittags. Da brauche ich eine gewisse Zeit zum Aufräumen."
"Wann kannst du denn?"
"Erst gegen Abend."
"Wann ist das?"
"Um neun."
"Mittwoch um neun", wiederholt Rafa. "Ich ruf' dich aber vorher noch an, sagen wir, am Montag ..."
"Wann?"
"Um fünf."
"Um fünf."
"Was willst du?" fragt Rafa, dieses Mal in einem nüchternen Tonfall.
"Ich will als Mensch ganz gewollt werden", antworte ich, "nicht nur mein Körper, auch die Seele. Als Körper auch, aber vor allem als Mensch."
Ich habe meinerseits noch eine Frage an ihn:
"Was hast du eigentlich über mich gedacht, als du mich '89 im 'Elizium' gesehen hast?"
"Ach, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß heute nicht mehr, was ich vor Jahren über jemanden im 'Elizium' gedacht habe."
"Dich hab' ich ja überhaupt nicht gesehen", erzähle ich. "Du kamst für mich aus dem Nichts."
"Laß' uns mal ins 'Elizium' zurückgehen", meint Rafa.
Als wir aufgestanden sind, umarmen wir uns noch einmal.
"Hast du welche von deinen Freundinnen eigentlich geliebt?" will ich wissen.
"Geliebt?"
"Nicht?"
"Al-le!" versichert Rafa. "Alle!"
"Aber es ist doch alles wieder auseinandergegangen."
"Zu Anfang habe ich sie alle geliebt. Ich lernte eine kennen und dachte - das ist sie. Erst später hat sich herauskristallisiert, daß sie nicht die Richtige war."
"Und dann war sie abgemeldet und reif für die Tonne."
"Also, so einfach war das nicht, so Schluß und tschüß", sagt Rafa schnell, als wolle er sich nicht in ein zu schlechtes Licht setzen. "Erstmal habe ich mit der geredet, und so langsam ... haben wir uns getrennt. Ich meine, ich bin mit denen immer noch gut auf Du."
"Wenn du dich innerlich eng und untrennbar an mich gebunden fühlst - dann hast du eine Chance. Dann hast du eineChance."
"Ich habe unheimlich hohe Ansprüche", sagt Rafa im Weitergehen. "Ich glaube, die Frau, die meinen Ansprüchen genügen kann, die gibt es gar nicht. Sie müßte schlau sein und mich fordern."
"Also, fordern tue ich dich ja nun wirklich!"
"Schlau, das ist kein Problem", hält Rafa dagegen. "Aber sie muß ... mich auf eine bestimmte Art fordern."
"Auf was für eine Art?"
"Ich kann sie nicht beschreiben. Aber wenn ich auf diese Art nicht gefordert werde, gehe ich ein wie eine Pflanze ohne Wasser."
"Ich fordere allerhand", sage ich.
"Was forderst du?"
"Lebenslange Treue."
"Das kann ich nicht, lebenslang treu sein", glaubt Rafa. "Das Längste, was ich geschafft habe, waren ... drei Jahre."
"Mir lebenslang treu zu sein ist auch fast menschenunmöglich. Ich will sogar sagen, es ist menschenunmöglich. Nun - du sagst ja, du bist kein Mensch."
"Eben!" sagt Rafa stolz und siegesgewiß.
Er steckt sich eine Zigarette an und will dann die Finger spreizen, um sie wieder zwischen meinen hindurchzuschieben. Dabei stellt er fest, daß er sein Feuerzeug noch in der Hand hält.
"Ach - ach, Mensch", ermahnt er sich.
Er läßt das Feuerzeug in die Jackentasche gleiten. Eng umschlungen wie vorher setzen wir unseren Weg fort.
"Ich frage mich, wann du mit mir redest", sage ich vor mich hin.
"Warum?"
"Du sagst ja, du kannst nicht länger als drei Jahre treu sein."
"Ich habe gesagt, ich war nie länger als drei Jahre treu", gibt Rafa zu bedenken. "Das sagt nichts aus über das, was ich kann."
Wir gehen durch eine finstere Straße und kommen dann am "Trauma" vorbei.
"Jetzt ist mir wirklich kalt", teile ich Rafa mit.
Ich zittere sehr.
Anscheinend glaubt Rafa, mir gegenüber zu offen gewesen zu sein. Er verfällt wieder einmal darauf, sich als uneinnehmbar zu beschreiben.
"An mich kommt keiner 'ran", behauptet er, und es klingt, als müsse er sich gegen die gesamte Menschheit verteidigen. "Ich habe eine undurchdringliche Mauer um mich aufgebaut."
Als wir die große Straße überqueren, von der aus es zum "Elizium" geht, preist Rafa die Vorzüge seiner Freundin.
"Meine Freundin ist eine wunder-wunderbare Frau", meint er. "Sie kriegt, was sie will, und das genügt ihr."
"Ich hoffe nur, daß es stimmt", sage ich.
"Daß was stimmt?"
"Daß du mich wirklich liebst."
"Ich liebe dich nicht", entgegnet Rafa kühl. "Von Liebe kann man hier nicht sprechen. Liebe ist etwas, das muß sich ergeben. Das muß sich finden."
Als wir in die Straße eingebogen sind, in der das "Elizium" liegt, bleibt Rafa stehen.
"So", sagt er. "Meine Jacke."
"Ist mir kalt."
"Komm'; wir sind ja gleich wieder im warmen 'Elizium'."
Er scheint nicht zu wollen, daß ihn jemand ohne seine Jacke sieht - und daß jemand seine Jacke an mir sieht.
"Sind meine Augenbrauen eigentlich noch o.k.?" frage ich, als wir uns dem Torweg zum "Elizium" nähern.
"Ich habe dich doch die ganze Zeit gesehen", sagt Rafa.
"Sie sind also noch o.k.?"
"Per-fekt."
Der kahle, von Röhrenlampen erleuchtete Torweg erinnert mich an den kahlen, von Röhrenlampen erleuchteten Schleichweg, durch den ich mit Rafa sechs Wochen zuvor im Traum das Kleidergeschäft verlassen habe. Vor dem Kleidergeschäft war eine Straßenbaustelle. Vor dem "Elizium" ist auch eine Straßenbaustelle.
Nebeneinander, nicht eng umschlungen, kommen wir ins "Elizium" zurück. In der Tür kündigt Rafa an, daß er zur Toilette gehen will.
"Erstmal bis Montag", sagt er.
Die Musik gefällt mir sehr. Ich tanze fast dauernd.
"Auch mal wieder hier?" fragt mich Carl.
Er meint, erst jetzt würde die Musik wieder richtig gut. Merle kommt zurück. Sie hat einen Blick in ihre Stammkneipe geworfen, einen Pub. Ich will meine Cola austrinken, doch die steht nicht mehr auf dem Tisch, auf den ich sie gestellt habe.
Auf der Treppe sehe ich Rafa wieder. Ich bin eben dabei, mein Haar nachzusprühen. Rafa hält sich die Atemwege zu.
"Ich gebe dir meine Nummer", sage ich langsam. "Es ist dievon meiner Mutter; da bin ich am Montag um fünf."
"Samstag ... Sonntag ... das sind zwei Tage", rechnet Rafa aus.
Ich schreibe die Telefonnummer auf die Rückseite eines Handzettels. Als ich ein "H" daruntersetze, sagt Rafa schnell:
"Den Namen brauchst nicht drunterschreiben."
Und er nimmt mir den Zettel aus der Hand, kaum daß ich einen Punkt hinter das "H" malen konnte.
Vielleicht will er nicht, daß ein anderes Mädchen den Zettel sieht und argwöhnisch wird ...? Dann kommt Unordnung in seinen Harem. Ich hoffe, ich habe deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß ich nicht bereit bin, Rafa mit anderen Frauen zu teilen.
Mir fällt im Nachhinein auf, daß Rafa nie aufdringliche Annäherungsversuche gemacht hat. Obwohl wir uns leidenschaftlich umarmten, streichelten und küßten, tat er nie einen Griff unter die Gürtellinie. Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, daß er hätte unter meinen Rock fassen können. Und er küßte mich erst, als ich ihm in meiner eigenen Sprache zu verstehen gab, daß er es dürfe. Er scheint immer auf ein Zeichen zu warten, ehe er sich vorwärts wagt.
Ich tanzte noch zu dem schnellen, düster-melancholischen "Adrenalin Rush" von Leæther Strip. Danach begegnete mir Rafa wieder auf der Treppe, als er von oben kam.
"Ich verabschiede mich", sagte er.
"Also, du rufst am Montag um fünf Uhr an", versicherte ich mich, die Hände auf seine Schultern gelegt.
"Wenn ich dran denke", sagte er.
"Kannst du dir sowas nicht zwei Tage lang merken?"
"Ich versprech' nicht gern etwas, wo ich mich vielleicht nicht dran halten kann", erklärte er. "Immerhin haben wir am Freitag ein Riesenkonzert. Und ich bin mitten in den Vorbereitungen."
"Riesig" wird das Konzert nicht. Und daß Rafa Versprechen nicht einhält, scheint eher auf einer inneren Fehlschaltung zu beruhen als auf mangelnder Merkfähigkeit und unglücklichen Zufällen. Ich glaube, Rafa fürchtet sich davor, Verabredungen einzuhalten. Er erinnert sich schon an sie, tut dann aber doch etwas ganz anderes.
"Ich hoffe, du wirst dran denken", sagte ich.
"Ach - nochmal nachsehen, ob ich den Zettel noch habe", meinte er und holte seine Geldbörse hervor. "Ich bin immer so ein ... ich kann auf sowas nicht aufpassen."
Der Zettel steckte noch zwischen den Scheinen.
"Also, tschüß", sagte Rafa und drückte mich an sich.
Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter.
"Mädchen!" mahnte er. "Bleib' oben!"
Ich sah ihn an, und er küßte mich und sagte dann noch einmal:
"Tschüß."
"Bis Montag."
"I love you! I love you!" schrie jemand vom Podest her.
Wirklich gossen sich die Lästerer über uns aus ... wie in dem Traum.
Merle, Carl und ich blieben bis zum Schluß. Als das letzte Stück zuende war, begegnete mir Dolf vor der Theke.
"Hallo!" rief er. "Na, du Auserwählte?"
Ich wußte nicht, ob ich gemeint war. Ich sah suchend um mich.
"Wo geht ihr noch hin?" fragte Dolf.
"Wir gehen ins 'Trauma'", gab ich Auskunft.
"Rafa ist nämlich einfach abgehauen, ohne ein Wort zu mir zu sagen", erklärte Dolf. "Alle sind sie ohne ein Wort einfach gegangen. Und ich suche einen Ort, wo man noch abhängen kann."
"Im 'Trauma' kann man das. Komm' doch mit ins 'Trauma'."
Dolf besprach sich mit den DJ's. Die wußten noch jemanden, bei dem man "die Bude sprengen" konnte, wie Dolf es ausdrückte. Dolf ließ sich dorthin mitnehmen.
Ich blieb mit Merle für einige Stunden im "Trauma". Als ich ins Bett kam, war es schon lange hell.
Am Montag rief Rafa wirklich an, allerdings erst gegen halb sechs.
"Ja?" meldete ich mich.
"Na?" begrüßte mich Rafa.
"Na?"
"Na?"
"Wie geht's?" fragte er.
"Ach, ganz gut ...", antwortete ich unsicher. "Wie geht's?"
"Ganz gut."
"Was machst du gerade?"
"Was ich gerade mache?"
"Ja."
"Also, im Moment telefoniere ich."
Rafas Antwort empfand ich als Beleidigung. Ich betrachtete sie nicht als Scherz und auch nicht als scheinbare Beleidigung. Wer so mit mir spricht, zerstört die Möglichkeit eines vertrauten Gesprächs. Er macht mir deutlich, daß ihm nichts daran liegt, mir nahe zu sein.
"Es ist nämlich so", setzte ich an und sprach gegen einen inneren Widerstand, "ich muß noch die ganze Wohnung aufräumen; da steht noch alles 'rum von den Dreharbeiten. Ich meine, ich schaffe das; es ist viel Zeug, weil, meine Schwester dreht noch in meinem Zimmer den Film fertig."
"Welchen Film?"
"Sie macht doch den Film für die Bewerbung an der Film-Uni. Ich werde sie erstmal für ein paar Tage aus meiner Wohnung 'rausschmeißen."
"Warum willst du sie 'rausschmeißen?"
"Weil sie mich für zweieinhalb Wochen 'rausgeschmissen hat. Deshalb bin ich doch bei meiner Mutter. Sie hat meine Wohnung durch die Dreharbeiten blockiert. Sie wohnt bei mir, aber nicht richtig. Sie muß wegziehen, wenn sie den Studienplatz hat. - Und? Wie ist das mit Mittwoch?"
"Mit Mittwoch?"
"Ja."
"Da habe ich eigentlich keine Zeit", sagt Rafa, und das klingt wackelig.
"Nein?"
"Da muß ich eigentlich nach BI., um unser Dat aufzunehmen", erklärt er. "Und ohne Dat gibt es am Freitag keine Musik."
"Wie lange bist du schon bei den Vorbereitungen für den Auftritt?"
"Zwei Wochen."
"Davor warst du aber auch dauernd beschäftigt."
"Das war für's Tape."
"Ich denke, das nimmst du erst übermorgen in BI. auf."
"Nein, das ist nur das Dat. Wir geben doch ein Tape heraus."
Wir ...
Ich weiß von Rafa, daß er allein für die Musik verantwortlich ist. Er scheint sich hinter dem "wir" zu verstecken.
"Ach, ein Tape", sage ich. "Es wäre gut, wenn du könntest."
"Findest du?"
"Findest du nicht?"
"Ich weiß nicht, ob es gut wäre", zweifelt Rafa.
"Ich denke schon, es wäre gut", erwidere ich. "Mein Instinkt sagt mir das. - Wie ist das, kannst du?"
"Nein, das müssen wir verschieben."
"Auf wann?"
"Auf die nächste Zeit."
"Wann genau?" möchte ich wissen.
"Ich muß mal nachsehen", sagt Rafa ausweichend. "Ich habe immer so wenig Zeit."
"Dann müßten wir daten und festlegen, wie, wann und wo."
"Bist du am Freitag in der 'Halle'? Und am Samstag im 'Elizium'?"
"Ja. - Ja."
"Du bist am Freitag da?"
"Ja."
"Dann können wir das am Freitag besprechen."
"Am Freitag."
"Ja."
"Na - das war am Mittwoch ja eh eine Verabredung, die eher locker angesetzt war, weil du ja nicht wußtest, ob du kannst", lenke ich ein. "Und du bist ja auch relativ kurzfristig darauf gekommen, dich mit mir zu verabreden. Schade, daß du nicht hier bist."
"Warum?"
"Dann könnte ich dich in natura sehen. So habe ich dich nur durch den Draht. Wie ist das für dich, daß du mich nicht sehen kannst?"
"Es geht so."
"Jedenfalls freue ich mich, daß du tatsächlich angerufen hast. Ich dachte schon, das Einhalten von Verabredungen wäre ein globales Problem für dich."
"Es ist nur - ich telefoniere nicht gerne."
"Ich auch nicht. Ich habe die Leute lieber vor mir. Deshalb ist meine Telefonrechnung so niedrig."
"Ja, ich muß jetzt auch Schluß machen."
"Noch eine ganz gemeine Frage."
"Was gibt's?"
"Rasierst du dich?"
"Zum Konzert?"
"Ja."
"Nö."
"Warte. - Warte."
"Hm?"
"Ich werde mir für dich noch etwas ganz Gemeines ausdenken", drohe ich.
"Also - tschüß", sagt Rafa schnell.
"Tschüß."
Er hat das Gespräch überstürzt beendet - als wäre es unerträglich für ihn, noch länger mit mir zu reden.
Seine Stimme klingt so kalt und unbewegt, daß ich denke:
"Nein, der kann mir nicht geben, was ich suche."
Ich tue viel, sehr viel. Was ich tue, das kann keiner verstehen außer mir. Auch Rafa traue ich nicht zu, daß er es versteht und es achten kann. Ich habe meinen Kopf abgeschraubt und mit einem fremden Wesen vernetzt. Es kann Vergnügen bereiten, um das eigene Leben zu kämpfen. Man muß nur den bitteren Unterton für eine Weile vergessen.
In der darauffolgenden Nacht sah ich es - in einem Traum kurz vor dem Einschlafen:

Etwas Entsetzliches rast auf mich zu, etwas unvorstellbar Entsetzliches. Es hat die Form einer Haarschleife von mir, der schwarzen, deren Enden spitz auslaufen. Es ist aber viele Meter hoch und schwarz wie Tinte, ohne Schatten und Strukturen - als sei es ein Loch, das einen verschlucken kann. Ich weiß nicht, was es ist und woher es kommt. Ich vermag es nicht zu deuten. Unter dem Zeltdach in der "Halle" rast es auf mich zu.

Das, wofür ich lebe, zerstört mein Leben. Ich kann mich nicht von Rafa trennen, auch wenn er mein Leben zerstört, denn ohne ihn lebe ich gar nicht erst.
Mit solchen Gedanken ging ich nach draußen und nahm vor mich hinweinend die Wäsche von der Spinne ab.
Kein Mensch weiß, was werden soll.
Das Entsetzliche, das kommt, ist schwarz wie die Pupillen von Rafa. Trug er es schon in seinen Augen?
Das Entsetzliche ist schwarz wie ein Loch im Gesichtsfeld. Bin ich für eine bestimmte Sache blind?
Das Entsetzliche ist schwarz wie ein Loch. Soll ich in ein Schwarzes Loch stürzen?
Ich hätte Rafa lieber vor mir gehabt, anstatt nur seine Stimme zu hören. Das liegt auch daran, daß ich sein Verhalten mir gegenüber besser beurteilen kann, wenn ich ihn sehe. Die Körpersprache ist ausgesprochen wichtig, wenn ich mit Rafa in Verbindung trete. Ohne seine Nähe spreche ich blind mit ihm.
Rafa hat den richtigen Weg zu mir gewählt ... aber wird er ihn zuendegehen können?
Er scheint sich davor zu fürchten, daß ich nichts für ihn empfinde. Was geht in ihm vor? Bin ich nicht eher doch ersetzbar für ihn? Ich muß davon ausgehen. Und ich muß ihn verlassen, wenn eindeutig feststeht, daß es seine Freundin wirklich gibt.
Ich bin darauf angewiesen, jemanden zu finden, für den ich unersetzlich bin. Solange mich der Mann ersetzen kann, wäre jede andere Frau eher als ich imstande, ihm zu geben, was er will.
Rafa ist empfindlich für meine Schwächen. Er ist ein lauernder Beobachter. Und er geht noch über die Beobachtung hinaus. Er macht Provokationstests. Er arbeitet ähnlich wie ich.
Am Donnerstag hatte ich folgenden Traum:

Rafa lag in einer Ecke. Sein Gehirn war ausgeschaltet. Er war eine Mischung aus Mensch, Leiche und Puppe. Ich konnte mit ihm machen, was ich wollte. Ohne Hemmungen vollbrachte ich eine grausame Tat, die eine mittelalterliche Strafe hätte sein können. Ich traf einige Leute und ging auch weiter meinen alltäglichen Beschäftigungen nach. Es kostete Mühe, nicht erkennen zu lassen, welche Macht ich an mich gerissen hatte. Rafa lag immer noch in der Ecke, gleichzeitig Lebewesen und Gegenstand. Ich wußte, daß er bald wieder wach und ganz Mensch sein würde, und ich hatte mich darauf vorbereitet, mein Werk ungeschehen zu machen. Da ging mir auf, daß das nur unzureichend möglich war. Ich war an Rafa schuldig geworden, ohne zu wissen, was ich tat. Er war mein Opfer. Ich hatte mich vor ihm zu rechtfertigen, wenn er wieder zu sich kam. Es gab nichts zu verzeihen und nichts zu vergeben.

In einem anderen Traum führten Rafa und ich eines unserer hochnothpeinlichen Gespräche. Er übernahm die Rolle des Verhörenden. Nach einer seiner Fragen bekam ich eine Pause von zwanzig Minuten, in denen ich mir eine Antwort überlegen sollte, mit der ich ihn mattsetzen konnte. Mir fiel aber keine geeignete Antwort ein.

Außerdem träumte ich, ich würde im Erdgeschoß eines Betonhochhauses an einem Raum vorbeigehen. "Gefahr" stand auf einem Schild. Eine Wand des Raumes war eine spiegelnde Scheibe, und dahinter konnte man einen unregelmäßig geschnittenen, finsteren, dunkelgrauen, ganz leeren Raum sehen. Wo die Gefahr war, ließ sich nicht erahnen.

Mir fällt dazu ein, daß Rafa seine Augen - die Fenster zu seinem Inneren - gerne hinter einer spiegelnden Brille versteckt.
Einiges von dem, was ich ersehnte, habe ich schon bekommen, ohne damit gerechnet zu haben. Ich wollte an Rafas Seite durch eine einsame Gegend laufen - es geschah. Ich wollte sein Lächeln wieder sehen und sein Lachen wieder hören - es geschah. Ich wollte mich in seine Umarmung fallenlassen und ihn küssen - es geschah. Er sollte wieder zur Begrüßung nach mir greifen - es geschah.
Was ich noch ersehne, erscheint mir unerhört. Nicht nur will ich Rafas Gesicht streicheln können. Nicht nur will ich ihn bei mir daheim sehen. Ich will, daß er einen Weg findet zur Auflösung des Rätsels, das ich mir bin. Ich will, daß er mir anhängt in Treue und auch selbst nichts anderes möchte.
Ich suche jemanden, der unerschütterlich zu mir hält. Ich suche jemanden, der sich eindeutig für mich entscheiden kann. Ich suche jemanden, der sich sicher ist, daß er mich will und niemanden sonst. Ich suche jemanden, der keine Wahl hat.
Ein Mann, der mit mir eine Beziehung hat, wird in fremden Gärten naschen, sofern ihm das Vergnügen bereiten kann. Ich habe von Anfang an versucht, in den Gesprächen mit Rafa meine Vorstellungen von Treue unterzupflügen.
Nicht immer wird der, der Liebe sät, auch Freude ernten.
Am Freitag hatte ich folgenden Traum:

Ich kam in die "Halle" und dachte:
"Abwarten. Auf mich zukommen lassen."
Rafa hatte sich rasiert. Ich stürzte auf ihn zu und machte mit ihm das, was ich am vergangenen Samstag nicht tun konnte - ich lehnte meine Wange an seine und streichelte ihm das Gesicht.
"Nun, du hast wohl geahnt, daß ich etwas Unangenehmes mit dir vorhatte, falls du dich wieder nicht rasiert hast", sagte ich zu ihm.

Das Auffällige an der Beziehung von Rafa und mir ist ihre Unmöglichkeit und ihre fehlende Benennbarkeit. Denn eine Beziehung im eigentlichen Sinne ist es nicht, und es kann auch keine werden. Zwei Menschen, die aus unbekannten Gründen unerreichbar geworden sind, versuchen einander zu erreichen. Es wird eine Schlacht geschlagen, die von vornherein verloren sein muß, eine Schlacht gegen das Mißtrauen. Diese Beziehung ist ein langer Abschied, ein Abschied voneinander, wenn sie ein Abschied vom Mißtrauen schon nicht sein darf.
Carl erzählte von Luc. Luc ist Henriettes Freund. Er formt seinen Pony zu einem spitzen Horn. Luc erlebte etwas mit Rafa. Er wollte für Rafa ein gutes Wort einlegen, als drei Jungen ihm an den Kragen wollten.
"Hier, laßt den mal ... den kenn' ich", verteidigte ihn Luc.
Rafa wollte sich aber nicht helfen lassen und beschimpfte alle als Kinder.
"Wie alt seid ihr denn?" soll er ganz überheblich gefragt haben. "Achtzehn? Neunzehn? Ich bin dreiundzwanzig."
Da sagte Luc verärgert zu den Jungen:
"So - jetzt könnt ihr ihn ..."
Rafa verhandelte mit den Jungen, und das Ergebnis war, daß er sie an der Bar freihalten mußte.
Er hatte sein Alter verraten ... wenn er nicht doch gelogen hat, um sich hervorzutun.
Während der Fahrt zur "Halle" redete Constri auf mich ein. Ich solle doch vorher bescheid sagen, wenn ich mit Rafa nach draußen ginge und überhaupt darauf achten, daß sie jederzeit wisse, wo ich sei. Ich antwortete, ebensogut könne sie zu einem Verurteilten sagen, er solle darauf achten, daß der Strick aus Seide und nicht aus Hanf sei. Und sie möge doch über das Thema endgültig schweigen.
"Ich sehe keine Möglichkeiten, ich sehe nur Katastrophen", sagte ich.
In Trägercorsage und Tutu saß ich auf den Stufen vor der Bühne, die dekoriert war mit einem weißen Schild, das das Emblem der Band zeigte. Rafa mußte es gemalt haben; es hatte den kindlichen und gleichzeitig künstlerischen Stil, den ich von ihm kenne.
Alle Bandmitglieder trugen runde Sonnenbrillen. Das sollte wohl kühl wirken.
Rafa hatte sich rasiert. Ich konnte es kaum fassen. Er hatte sich sorgfältig rasiert, auch über den Ohren.
Ich fand den in Blau und Rosa getauchten Auftritt nicht übel. "Ganz in Weiß" spielten sie nicht, dafür ein Stück, in dem Rafa mit verzerrter Stimme schreit:
"Alles ist sinnlos, sinnlos, denn ich liebe dich nicht!"
Wen er damit meint, bleibt fraglich.
"Egal, was die anderen denken", dachte ich, als ich ihm zusah, "er gefällt mir, und warum er den anderen nicht gefallen sollte, wüßte ich nicht."
Ich finde es immer rührend anzusehen, wie Rafa sich bewegt. Ich sehnte mich sehr nach ihm. Er war mir wieder einmal unerreichbar nah. Ich hatte mich vor der Bühne auf eine Stufe gesetzt. Einmal schaute Rafa hinter seiner Spiegelbrille lange in meine Richtung. Ich halte es für wahrscheinlich, daß er mich ansah. Ich blickte ihn ebenfalls an.
Die Sängerin sang nur einmal in der ersten Staffel. Ihre Stimme war kaum hörbar. Sie steckte in einem bläulich glitzernden Corsagenkleid. Ich finde meine Figur schöner als ihre. Auf alle Fälle bin ich schlanker und größer.
Neben dem Dat-Recorder stand ein Aschenbecher. Nach dem ersten Stück ging Rafa dorthin und steckte sich auf der Bühne eine Zigarette an. Dies ist unüblich bei Konzerten.
"'Jetzt hab' ich das erste Stück hinter mir, jetzt muß ich mir erstmal eine anstecken', so wirkte das", sagte Constri.
Rafa sah nicht ins Publikum, sondern immer irgendwoanders hin. Er schien sich in sich selber verstecken zu wollen.
Constri meinte, die Band sei mehr mit der eigenen Unsicherheit beschäftigt gewesen als mit dem Konzert. Außerdem erzählte Constri, sie habe bei Rafas Anblick gedacht:
"Also, gut sieht der wirklich nicht aus."
Man sähe wieder einmal, es sei doch wahr, daß mir auch ein Mann gefallen könne, der nicht den herrschenden Schönheitsvorstellungen entspräche. Die Persönlichkeit sei es eben, worauf es ankäme. Ich konnte dem nur widersprechen. Auf das Aussehen eines Mannes lege ich allergrößten Wert. Und das Aussehen von Rafa entspricht meinen Schönheitsvorstellungen. Es hat mir immer gefallen.
Cilly sagte zu mir, es seien recht viele Mädchen hinter Rafa her. Ich will mich von solcher Rede nicht abschrecken lassen. Ich bin nicht viele, und ich bin nicht die anderen. Ich bin ich.
Ivo sah Rafa mit abschätzender Miene bei seinem Auftritt zu. Ich denke, er suchte nach neuem Stoff für seine Haßreden.
Die erste Staffel umfaßte drei Stücke. Danach verschwanden Rafa, Dolf und die Sängerin in einem erhöhten Raum, der verglast war. Ich sah sie dort oben etwas trinken. Nach längerer Zeit kam Rafa allein die Treppe herunter. Er wäre wohl an mir vorbeigelaufen, wenn ich nicht seinen Weg gekreuzt hätte. Er gab mir seine schwarz behandschuhte Rechte und fragte:
"Na? Wie fandst du's?"
"Oh - ganz gut", antwortete ich.
Rafa strebte weiter.
"Wo gehst du jetzt hin?" wollte ich wissen.
"Wir müssen doch wieder auftreten", entschuldigte er seine Eile. "Noch ein Stück."
Es waren drei Stücke. Als letztes kam "Auf nach Golgatha". Als es begann, warf Rafa seine Spiegelbrille ins Publikum.
Beim Applaus lächelte Rafa verstohlen und mühsam unterdrückt.
Nach dem Konzert baute er mit gesenktem Blick die Geräte ab. Ich beobachtete ihn sorgfältig und ganz aus der Nähe. Er hob nicht einziges Mal den Kopf.
Die Plastikbänder, die die Bühne abgrenzten, wurden fortgenommen. Rafa hatte alles hinausgebracht und lehnte längere Zeit an einem Tisch auf dem Podest, wo er aufgetreten war. Er sprach mit mehreren Leuten. Ich wartete, bis keiner mehr bei ihm war und ging dann auf ihn zu.
"Fahrt ihr jetzt gleich, oder bleibt ihr noch länger?" fragte ich so beiläufig wie möglich.
"Wir müssen erst noch die Sachen ins Auto bringen", erwiderte er.
"Aber ihr bleibt noch länger."
"Wir bleiben noch länger."
"Seid ihr nicht morgen in BI.?"
"BI.?" fragte Rafa erstaunt. "Wer sagt das?"
"Ich meinte nur, ich hätte das gehört. Also, seid ihr morgen im 'Elizium'?"
"Ja."
"Da bin ich auch. Also - morgen im 'Elizium'."
Ich ging wieder.
Etwas später sah ich Rafa an der Bar beim Eingang. Auch hier war er mit verschiedenen Leuten im Gespräch. Ich zeigte auf sein Glas.
"Hm?" machte Rafa.
"Ist das O-Saft?" fragte ich.
"Nein", antwortete er. "Das ist zum Aufbauen."
"Was ist es denn?"
"Das ist Zaubertrank."
Er entfernte sich, und das wirkte wie eine Flucht.
Die Leute aus SHG. gingen doch sehr schnell. Sie waren auf einmal verschwunden.
So, wie Rafa mir Furcht auf den Kopf zusagte, kann ich sie ihm auch auf den Kopf zusagen. Fürchtet er sich eigentlich vor mir?



Im "Elizium" stolperte ich zwischen den vielen Gästen hindurch zur Treppe, um meine Sachen abzulegen. Ich sah Rafa oben bei den DJ's, und er mußte mich auch sehen, als ich zur Tanzfläche ging. Anstatt jedoch zu mir zu kommen, machte er sich davon.
"Rafa steht bei den Toiletten und redet mit so einem Mädchen", erzählte mir Rikka. "Na - vielleicht ist es nichts Ernstes."
Längere Zeit danach kam Rafa an mir vorbei, als ich mich wieder vor der Treppe aufhielt. Er sah mich an. Ein Stück entfernt von mir blieb er stehen.
"Na? Wie geht's?" erkundigte er sich.
"Wie soll's gehen ...?" erwiderte ich zögernd. "Wie fandet ihr euer Konzert?"
"Ich hab's nicht gesehen. Wie fandest du's?"
"Oh - nicht schlecht."
"Nur nicht schlecht?" fragt Rafa enttäuscht. "Das ist aber nicht gut."
"Wart ihr denn mit euch zufrieden?"
"Doch, insgesamt schon."
Ich sehe ihn schweigend an.
"Na? Was 's' los?" fragt er unruhig.
Ich schweige weiterhin.
"Was 's' los?" fragt er noch einmal und beugt sich zu mir.
Ich fasse mit der Linken nach seiner Schulter und lehne meine Wange an seine.
"Ey, sa' ma', kannste vielleicht ma' damit aufhör'n, ihn anzupacken?" ertönt die harte Stimme der Sängerin.
Da weiß ich genug. Rafa flüchtet, aber so einfach soll er mir nicht davonkommen.
"Halt - das erklärst du mir", sage ich und gehe ihm nach.
Er ist zur Bar gelaufen.
"So, das will ich jetzt erklärt haben", verlange ich.
"Das ist unsere Sängerin", gibt Rafa Auskunft. "Mit der bin ich seit ... letztem Sonntag zusammen."
"Aha. Na, das wär's dann wohl."
"Wie?"
"Wir hatten letzten Samstag eigentlich etwas anderes ausgemacht."
"Was kann ich dafür, wenn mir die Sängerin dazwischenfunkt?"
"Zu sowas gehören immer zwei."
"Hör' zu, ich bin besoffen", versucht Rafa sich herauszuwinden. "Ich kann das jetzt nicht erklären. Du verstehst das sowieso nicht."
"Ich möchte aber, daß du's mir erklärst."
"Ich besuch' dich und erklär's dir dann, o.k.?"
"Nicht o.k."
"Da kommt aber nichts bei 'raus, wenn ich dir das jetzt zu erklären versuche."
"Ich möchte aber, daß du es versuchst."
"Hör' mal, ich bin besoffen. Und ich werde nachher noch besoffener sein. Das hat jetzt alles gar keinen Sinn."
"Dann waren die Gefühle, die du letzten Samstag gezeigt hast, alle unecht", folgere ich.
"Die waren echt", behauptet Rafa.
"Das können sie nicht gewesen sein", entgegne ich.
"Hör' mal, ich kann dir das jetzt nicht erklären", wiederholt Rafa gequält. "Du verstehst es sowieso nicht. Laß' uns das doch bitte besprechen, wenn ich nüchtern bin. Ist das o.k.?"
"Nicht o.k."
"Ich meine ... was soll das, wenn ich dir das jetzt zu erklären versuche und du es doch nicht verstehst?"
"Ich möchte, daß du es mir trotzdem erklärst."
"Ach ... laß' uns das doch nachher weiter besprechen ", bittet Rafa und weicht zurück. "Ich muß hoch. Ich komme dann nachher nochmal."
"Mir genügt das nicht. Ich will jetzt etwas hören."
"Paß' auf - ich komme übernächsten Freitag zu dir, und dann besprechen wir das in aller Ruhe, ja? Übernächsten Freitag bin ich bei dir."
Er deutet ein Lächeln an.
"Und warum nicht nächsten?" frage ich.
"Da geben wir ein Konzert in HF. im 'Limited'. Das hatte ich dir auch schon gesagt."
"Du wußtest, wie ich mich nach dir gesehnt habe. Du wußtest, daß ich ein Verhalten wie dieses nicht billigen kann."
"Ich hatte dir gesagt, daß ich eine Freundin habe", will Rafa sich entlasten. "Das stand aber schon fest, daß mit der bald Schluß sein würde. Ich hatte nebenbei immer was laufen."
"Sein Verständnis von 'Liebe' scheint recht bizarr zu sein", denke ich.
"Du hast mir nie gesagt, wie deine Freundin heißt", erinnere ich ihn.
"Das war auch nicht wichtig für dich", meint Rafa. "Du kennst die nicht. Die wohnt in SHG."
"Du hast dich nie entschieden. Du hast nie die Wahrheit gesagt."
"Ich bin immer ehrlich. Und wenn ich mal nicht ehrlich sein kann, versuche ich wenigstens, so ehrlich zu sein, wie es geht."
"Ich bin für dich ohne Weiteres ersetzbar."
"Das bist du nicht", sagt Rafa bestimmt. "Das von dir und mir ist einfach auf einem ganz anderen Niveau."
"Das finde ich nicht", gebe ich zurück. "Ich finde, das ist alles eins."
"Siehst du? Du hast kein Wort verstanden."
"Dann erkläre es mir so, daß ich es verstehe."
"Das kann ich nicht. Ich sage dir, du verstehst nicht ein Wort. Was soll ich dir das erklären, wenn du es sowieso nicht verstehst?"
"Versuch' es wenigstens."
"Willst du denn wirklich nicht, daß wir das mal miteinander besprechen, wenn ich nüchtern bin?"
"Das kann in fünfzig Jahren sein. Ich will jetzt etwas hören."
"Ich komme zu dir", versichert Rafa. "Übernächsten Freitag bin ich bei dir."
"Ich habe den Eindruck, du gibst dir überhaupt keine Mühe."
"Ich gebe mir Mühe."
"Du machst es dir ausgesprochen bequem."
"Ich mache es mir überhaupt nicht bequem", widerspricht Rafa und weicht noch ein bißchen mehr zurück. "Du, ich muß 'rauf. Laß' uns nachher weiter darüber reden."
"Ich frage mich nur, wie du das, was du tust, mit deinem Gewissen vereinbaren kannst."
"Haben Menschen ein Gewissen?"
"Ich habe ein Gewissen."
"Bist du ein Mensch?" lenkt Rafa ab.
"Das hat damit nichts zu tun."
"Bin ich ein Mensch?"
"Das hat mit dem Gewissen nichts zu tun."
"Das hat mit dem Gewissen zu tun", findet Rafa.
Er zündet sich eine Zigarette an. Als er seine Hand senkt, stößt sie gegen meine.
"Entschuldigung", sagt er.
"Du tauschst die Menschen einfach nur gegeneinander aus", werfe ich ihm vor.
"Du redest immer noch von Menschen", will Rafa wieder ablenken.
Er versucht ein Lächeln. Ich lächle nicht mit.
"Du hast mich am letzten Samstag mit Lügen überschüttet", sage ich.
Er beklagt sich seinerseits:
"Du hast mich auch überschüttet."
"Ja. Aber nicht mit Lügen."
"Ich muß hoch. Ich komme nachher nochmal. Ist das o.k.?"
"Nicht o.k."
"Bitte, wenn du mich noch etwas fragen willst, dann keine Fragen mehr zu dem Thema."
"Gut. Ich möchte endlich wissen, warum du am 09. April nicht gekommen bist. Ich finde, ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren."
"Ich habe es dir gesagt", meint Rafa. "Ich hatte keine Zeit."
"Ich habe bis jetzt von dir nur Ausreden gehört, die ich nicht gelten lassen kann."
"Wann ich Zeit habe und wann ich Zeit haben will, entscheide ich."
"Ich frage mich nur, wie du das mit deinem Gewissen vereinbarst."
"Was ist ein Gewissen? - Also", will er einlenken, "nicht, daß du das jetzt verkultest."
"Ich will es nur erklärt haben."
"Hetty", sagt Rafa bittend und legt mir eine Hand auf die Schulter, "ich komme übernächsten Freitag zu dir, und wir besprechen das in aller Ruhe. Ist das o.k.?"
"Nicht o.k."
"Du, ich muß hoch."
"Du gehst immer den einfachsten Weg."
"Du hast keine Ahnung. Ich gehe immer den steinigsten Weg."
"Du übernimmst keinerlei Verantwortung für andere."
"Ich lebe für mich, nicht für andere."
"Wenn du nie für andere lebst, dann wirst du auch nie, nie, nie jemand finden, der sein Leben wirklich mit dir teilen will."
"Ich will mein Leben gar nicht mit jemand teilen."
"Tja, denn!"
"Ich komme nochmal 'runter", verspricht Rafa, der nun schon fast im Seitengang steht. "Und ich komme am übernächsten Freitag zu dir. Und wenn ich dann nicht da bin, dann kannst du mir den Hals umdrehen."
Ich betrachte seinen ausgesprochen kräftigen Hals.
"Sag' mir mal - wie kann ich dir denn den Hals umdrehen?" möchte ich wissen. "Gib' mir doch mal einen Tip, wie das geht."
"Du brauchst den mir gar nicht umzudrehen, weil ich nämlich komme."
Damit ist er fort. Ich tanze wie vorher, erneuere meine Schminke wie vorher, gefalle mir wie vorher und halte mich wie vorher bei meinen Leuten auf. Wie vorher schenke ich der Sängerin keine Beachtung. Daß sie nicht aufhört, mich argwöhnisch zu beäugen, nehme ich höchstens am Rande wahr. Es ist möglich, daß sie sich hämisch ins Fäustchen lacht. Ich gönne ihr das Vergnügen. Sie wird von Rafa nicht mehr haben als ihre Vorgängerinnen, Nebenbuhlerinnen und Nachfolgerinnen. Und das, was Rafa ihr bietet, das will ich nicht. Ich will keinen "kalten Sex". Der Gedanke ist mir zuwider, nur zum Zweck der körperlichen Befriedigung Zärtlichkeiten auszutauschen.
"Ich bin nur froh, daß ich mit ihm nicht im Bett war", sage ich zu Rikka.
Ich bin keine "Nummer" von ihm. Ich habe mich nicht dazu erniedrigen lassen.
Ich konnte feststellen, daß Rafa bereits Schwierigkeiten hat, meinen Blick zu erwidern. Ich bin froh, daß ich mir selbst noch in die Augen gucken kann, wenn ich vor dem Spiegel stehe. Ich habe ein Gewissen und ein Schuldempfinden, und es fällt mir schwer, mich in jemanden hineinzudenken, für den Menschen beliebig austauschbar sind. Daß sie für Rafa tatsächlich beliebig austauschbar sind, wollte ich erst erleben, ehe ich es glauben konnte. Bis dorthin wollte ich es kommen lassen. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, daß er mich nicht wert ist.
Indem er andere zu erniedrigen versucht, erniedrigt er sich selber. Und er wird mir zu niedrig. Ich weiß endlich sicher, daß Rafa mir nie das hätte geben können, wonach ich suche. Er hätte versagt. Er ist zu schwach, um mir ein Gegenstück zu sein. Ich finde Rafas Verhalten würdelos, und es wäre entwürdigend für mich, einem solchen Menschen anzuhängen. Er wird das spüren. Er wird hinfort meinem Blick ausweichen und nicht mehr mit mir sprechen. Es ist ihm nicht gelungen, den Rest von Schuldgefühlen, den er mir gegenüber hat, an mir abzustreifen. Mit diesem Rest von Scham lasse ich ihn allein.
Die Sache war ein halsbrecherisches Unterfangen, das mich gefährlich viel Kraft gekostet hat - und noch kosten wird. Von daher war es nicht falsch, daß sie so früh endete.
"Vergiß' ihn", empfahl Rikka.
"Ich bin schon dabei", sagte ich.
"Er ist es nicht wert."
"Ganz sicher nicht."
"Ich kann dich verstehen, glaube mir", tröstete Rikka. "Ich hatte das selber kürzlich."
"Bist du denn nicht glücklich mit Talis?"
"Glücklich ... es gibt halt etwas, das er mir nicht geben kann. Und ich glaube, das kann mir ein Mensch auch nicht geben."
"Mir geht es ähnlich", sagte ich. "Ich glaube auch nicht, daß ich bei einem Menschen finden kann, was ich suche. Die Frage, die ich mir stelle, ist nur die: Will ich dieses Leben leben oder nicht? Wenn ich es will, muß ich es auch annehmen. Wenn ich es nicht will, kann ich mich nur umbringen. Noch will ich es."
"Wenn ich mein Leben nicht mehr aushalte, lebe ich ganz in meiner eigenen erfundenen Welt."
"Genauso mache ich es! Ich ziehe mich in meine erfundene Welt zurück. Ich suche Zuflucht bei meinem ausgedachten Widerpart."
"Genau."
"Genau. Und - ich besinne mich auf meine Fähigkeiten. Ich erschaffe etwas."
"Ich auch", erzählte Rikka. "Ich mache genau das Gleiche."
Sie hielt mir die Zigarettenschachtel hin.
"Ach -", verbesserte sie sich, "jetzt hab' ich glatt gedacht, du wärst Constri. Der biete ich in solchen Fällen wie diesem immer eine an."
Für einen Augenblick kam mir tatsächlich die Lust, mir ausnahmsweise eine Zigarette anzustecken. Doch ich finde nicht, daß Rafa es verdient, daß ich seinetwegen rauche.
Die ganze Nacht hindurch half Rafa Kappa und dem neuerdings über den Ohren rasierten Xentrix beim Auflegen. Rafa hatte seine Jacke ausgezogen, was für ihn sehr ungewöhnlich ist. Ihm war wohl heiß geworden.
Da stand er im Rüschenhemd, unschuldig weiß wie ein Engel, und schwebte hoch über den Köpfen der Menschen. Seine Freundin saß unten und wartete auf ihn. Als Rafa zum Tanzen die Galerie verließ, griff er im Vorbeilaufen nach meinem Rücken und sagte:
"Ich komme noch."
Ich fand das lächerlich.
"Der spielt ein Spiel mit dir, in dem er die Regeln bestimmen will", meinte Rikka. "Du sollst jetzt die ganze Zeit an ihn denken und auf ihn warten."
"Da hätte ich Besseres zu tun."
Ich denke nach über mein Verhältnis zum anderen Geschlecht.
"Ich will das Leben gar nicht führen, das Rafa führt", sage ich zu Rikka. "Ich will keine hohlen, austauschbaren Beziehungen. Ich könnte das haben, aber ich will das gar nicht. Ich will einen Menschen, der mich liebt und den ich lieben kann, sonst nichts."
"Ich sage nur, ich kann dich sehr gut verstehen."
Rafa legte im "Elizium" auch ein Stück auf, das von ihm stammt; es heißt "Telefonsex". Nur Inya, Sanna, Dolf und die Sängerin tanzten.
Rafa schien mich anzusehen; ich war mir aber nicht sicher. Die beiden Male, die er noch zum Tanzen nach unten kam, stürzte er hastig die Treppe herunter und wieder hinauf. Beim zweiten Mal nahm er sich kurz Zeit, um sich vor seiner Freundin auf den Boden zu hocken. Ich vermutete, daß er sie küßte.
"Diese Küsse hat sie nicht geschenkt bekommen", sagte ich mir. "Sie hat dafür bezahlt, einen Preis, den zu zahlen ich nicht bereit bin."
Jede muß zahlen bei jedem und jeder bei jeder.
Das Gesellschaftsspiel will ich nicht mitmachen. Ich kaufe mir keinen Freund, indem ich mich ins Bett ziehen lasse.
"Ich kenne ihn nicht", sagte Talis über Rafa. "Ich habe ihn einfach nur nie leiden mögen. Das ist wohl einer, der muß alle haben."
Es würde mich ekeln, ständig in fremdem Fleisch zu wühlen.
Rafa scheint den Ehrgeiz zu haben, stets derjenige zu sein, der eine Beziehung abbricht. Dies kann er nur dann immer schaffen, wenn er sich nie wirklich bindet. Seine Gefühle dürfen sich nie wirklich auf den Menschen beziehen, den er umwirbt.
Als das letzte Stück begann, kam Rafa mit halb übergezogener Jacke die Treppe heruntergerannt. Er griff nach seiner Freundin und stürmte zum Ausgang. Erst kurz vor der Schwingtür, weit genug von mir entfernt, gönnte er sich eine Pause zum Atemholen, ehe er den Tanzraum verließ. Das Gerenne hätte Rafa nicht nötig gehabt. Ich hätte ihn nicht aufgehalten.
Der Morgen war schon angebrochen. Es war kalt und regnerisch. Ortfried und ich gingen ins "Trauma".
Daheim erzählte Carl noch eine kurze Geschichte aus dem "Elizium":
"In der Nacht stellte Rafa seinen Egoismus wieder einmal unter Beweis. Ich tanzte Dolf gegenüber, und da kam Rafa auf einmal angerannt, stellte sich vor mich, ohne sich nach mir umzudrehen und tanzte drauflos. Der hat das wohl auch gar nicht mit Absicht gemacht. Der hat wohl nur gesehen, da ist Dolf, und dann ist der wie ein riesiger Brummer vor mir gelandet. Der kommt gar nicht auf den Gedanken, daß man Rücksicht nehmen kann. Deshalb mögen den auch viele nicht."
Rikka ist aufgefallen, daß Rafas Bild bei mir noch an der Wand hängt.
"Ach?" fragte sie erstaunt. "Hast du ihn noch nicht abgenommen?"
"Nein - weshalb denn? Henk habe ich ja auch nicht abgenommen. 1987 habe ich geträumt, sein Bild wäre von der Wand gefallen, und ich hätte es lange suchen müssen. Seitdem steht für mich fest, daß ich solche Bilder hängen lasse."
"Dann hast du gar nicht diesen Groll auf ihn?"
"Nein. Er hat mir etwas bedeutet, das zählt für mich. Und - wie Rafa ganz richtig sagte - mir fehlt Haß. Ich hasse ihn nicht."
Constri wollte sich von Adi dabei helfen lassen, ihren Film zu vertonen. Sie rief ihn an. Da kam zutage, daß Adi Ivos Hetzreden neuerdings glaubt. Er hält Constri, mich, Carl, Rikka und Talis für kalt und gefühllos, ohne das belegen zu können. Er vergleicht mich mit dem Sockenschuß.
"Ach - du meinst, Hetty ist geisteskrank?" fragte Constri sanft. "Und sie hat uns angesteckt? Dann mußt du wirklich aufpassen, daß du uns nicht zu nahe kommst; sonst stecken wir dich auch noch an."
Talis lachte, als er davon hörte.
"Da müssen wir ja schnell von Hetty Abstand nehmen", meinte er.
Rikka hatte bei Ivo immer ein schlechtes Gefühl. Rafa hielt sie immer für schwierig, ohne ihn regelrecht abzulehnen. Sie billigt ihm Schuldunfähigkeit zu aufgrund einer seelischen Behinderung.
"Was geschehen würde, war voraussehbar", sagte ich, "und ich hatte keine rosa Brille auf. Ich habe mir nur die eine Frage gestellt: Womit schade ich mir mehr? Schade ich mir mehr damit, daß ich meine Gefühle verleugne? Oder schade ich mir mehr damit, daß ich sie auslebe? Daß ich sie achte und ihnen folge? Ich habe mich dafür entschieden, mich auf meine Gefühle einzulassen, mit allem, was sich daraus ergibt."
"Ja - sonst - lebt man doch auch nicht", bestärkte Rikka mich in dieser Haltung. "Sonst lebt man an sich vorbei."
"Eben."
"Und du hattest etwas von ihm."
"Sicher. Ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Ich bin mir selber treu geblieben."
Eine schöne Abwechslung war das Konzert von Kraftwerk, zu dem ich am Donnerstag gefahren bin. Ich hatte meine Arme auf der Bühne liegen und schaute den Robotern zu, den vier lebenden und den vier nicht lebenden. U.W. und Jirí waren eine nette Gesellschaft.
Meine Mutter ist in Sorge um mich.
"Jetzt hat sie sich den Computer gekauft", sagte sie zu Constri, "und anstatt damit zu arbeiten und zu lernen, geht sie zum Konzert."
"Die merkt ganz gut, daß du nicht richtig lernst", sagte Constri zu mir, und zu Rikka sagte sie:
"Ich weiß, warum sie sich in Wirklichkeit den Computer gekauft hat. Sie will ihr Studium beenden, und das macht man, indem man Romane veröffentlicht. Und wenn sie das geschafft hat, ist ihr Studium immer noch nicht fertig, und das Geld ihrer Eltern hat sie auch verpraßt."